Der Weg zur eigenen Persönlichkeit (eBook)
216 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11867-4 (ISBN)
Alan Sroufe, Entwicklungspsychologe und Bindungsforscher, ist emeritierter Professor am Institute of Child Development an der University of Minnesota. Er ist ein international anerkannter Experte für frühe Bindungserfahrungen, emotionale Entwicklung und Entwicklungspsychopathologie.
Alan Sroufe, Entwicklungspsychologe und Bindungsforscher, ist emeritierter Professor am Institute of Child Development an der University of Minnesota. Er ist ein international anerkannter Experte für frühe Bindungserfahrungen, emotionale Entwicklung und Entwicklungspsychopathologie.
Einleitung
Vor 50 Jahren war unser Wissen über die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit sehr begrenzt. Heute wissen wir eine Menge darüber, größtenteils dank einer revolutionären Theorie über die Rolle von Beziehungen in der menschlichen Entwicklung. Dieses neue Wissen hat weitreichende Folgen für unser persönliches Leben.
In diesem Buch schildere ich aus einer sehr persönlichen Warte, wie dieses neue Verständnis der psychologischen Entwicklung des Menschen entstanden ist. Wie immer in der Wissenschaft waren auch an dieser Entdeckung natürlich zahlreiche Personen beteiligt, doch das ist eine andere Geschichte, die andere erzählen werden. Was mich betrifft, so geriet ich durch Zufall und glückliche Umstände an einen günstigen Ort, um zu beobachten, wie die Entdeckungen zusammenkamen. Unser Forschungsteam am Institute of Child Development der University of Minnesota hat viele wichtige Teile dieser Forschungsarbeit durchgeführt. Die technischen Aspekte und vollständigen Ergebnisse unseres Projekts (mit dem offiziellen Titel Minnesota Study of Risk and Adaptation from Birth to Adulthood) haben wir dem wissenschaftlichen Publikum in Form unserer Bücher Emotional Development[1] und The Development of the Person[2] sowie in über 200 Zeitschriftenartikeln und Buchbeiträgen unterbreitet. Mein Ziel beim Verfassen des vorliegenden Buches war es, eine eher persönliche und leserfreundliche Darstellung dieser Geschichte bereitzustellen.
Das Thema, um das es hier geht – wie der Einzelne sich zu dem Menschen entwickelt, der er ist – betrifft uns alle ganz persönlich. Es geht darum, wie es dazu kommt, dass jeder von uns sich so verhält, wie er es tut, und die Welt so sieht, wie er sie sieht, und darum, was wir fühlen und wie wir auf diese Gefühle reagieren. Wissenschaftliche Erkenntnisse tragen zweifellos zur Erhellung dieser Fragen bei, doch neben quantitativen Forschungsergebnissen finden sich in diesem Buch zahlreiche anekdotische Beispiele aus individuellen Lebensgeschichten. Diese Lebenswege haben wir sorgfältig und systematisch über mehr als 40 Jahre, vom Säuglingsalter über die Kindheit und Adoleszenz bis ins frühe und mittlere Erwachsenenalter hindurch verfolgt. Beim Schreiben des Buches habe ich natürlich darauf geachtet, alle dargestellten Personen zu anonymisieren, um ihre Privatsphäre zu schützen, und bestimmte Details musste ich notwendigerweise auslassen. Ich habe mir allerdings die Freiheit genommen, detailliertere Beispiele aus meinem eigenen Leben zu schildern, wenn mir meine eigene Vergangenheit und meine persönlichen Höhen und Tiefen relevant für den dargestellten Sachverhalt erschienen. Hinzu kommt, dass meine Motivation für die Erforschung dieses Bereichs sehr persönlich war. Ich wollte wissen, warum ich die Probleme hatte, die ich hatte, und wie ich meine eigene psychische Gesundheit verbessern könnte.
Aus diesen Gründen bietet das vorliegende Buch eine beschreibende Darstellung der aufeinanderfolgenden Entdeckungen, die zu diesem neuen Verständnis der menschlichen Entwicklung führten, sowie der persönlichen Bedeutung, die ich daraus für mich ableitete. Es enthüllt, was mein persönliches Interesse an dieser allgemeinen Frage angetrieben hat, welche langjährigen und zufälligen Beziehungen und Begegnungen mich zu dieser Arbeit geführt haben und wie ich die Teilnahme an einer, wie sich herausstellen sollte, Revolution in der Psychologie miterlebt habe. Außerdem zeigt es das Wesen einiger Hauptentdeckungen auf und wie sich die Arbeit auf mein eigenes Leben ausgewirkt hat.
Wenn ich über unser neues Verständnis von Entwicklung nachgedacht und zu entscheiden versucht habe, ob es angemessen ist, bin ich häufig von Wissenschaftlern aus anderen Disziplinen inspiriert worden. Bekannte Physiker zum Beispiel haben über die Suche nach einer endgültigen Theorie diskutiert – die Theorie, die die Ursprünge und Funktionsweise des Universums vollständig erklären wird. In seinem Buch Der Traum von der Einheit des Universums[3] (Dreams of a Final Theory) legt Steven Weinberg die Kriterien für eine derartige Theorie dar. Zu seinen wichtigsten Kriterien gehört die Schönheit der Theorie. Damit meint er, dass eine kohärente und vereinheitlichende Weltformel sich auch durch eine gewisse Eleganz auszeichnet und denjenigen, die sie verstehen, ein Gefühl von Harmonie und Einheit vermittelt. Da sie uns tatsächlich auch ästhetisch anspricht, findet die Harmonie und Kohärenz der Theorie ein Echo in der Person, die darüber nachdenkt. Sie führt dazu, dass Dinge, die vorher nur vage erkennbar waren, plötzlich klare Gestalt annehmen und ein neues, erkennbares Ganzes ergeben. Kurzum, sie ist absolut einleuchtend.
Das erschien mir als ein sehr reizvolles Konstrukt. Und auch wenn ich glaube, dass die Psychologie noch sehr weit von einer endgültigen Theorie entfernt ist, haben wir in den letzten Jahrzehnten miterlebt, wie eine wahrhaft faszinierende theoretische Idee über die menschliche Entwicklung entstanden ist. Sie betrifft die Frage, wie wir zu den Menschen werden, die wir sind. Wie das Universum durchläuft die entstehende Persönlichkeit einen Prozess, in dem das, was vorher existierte, zur Grundlage für das Kommende wird, ganz gleich wie komplex die Transformation, die sich im Laufe der Zeit vollzieht, auch sein mag. Im Zentrum dieses Prozesses stehen enge zwischenmenschliche Beziehungen. Das ist vielen Wissenschaftlern im Laufe der Zeit aufgefallen, aber heute gibt es ein zusammenhängendes, übergreifendes Erklärungssystem, das uns verstehen lässt, wie die Persönlichkeit durch Beziehungserfahrungen hervorgebracht wird.
Die Aufstellung psychologischer Theorien ist mit gewissen Vor- und Nachteilen verbunden. Anders als in anderen Wissenschaftszweigen sind wir Menschen sowohl der Gegenstand der Theorie als auch die Theoretiker. Wir versuchen, uns selbst zu erklären. Das birgt zweifellos gewisse Gefahren, wenn Hybris oder andere Formen der Voreingenommenheit ins Spiel kommen. Wenn Psychologen Theorien aufstellen, fühlen sie sich möglicherweise von Ideen angezogen, durch die sie selbst gut oder zumindest besser als andere dastehen. Ein Paradebeispiel dafür ist meiner Ansicht nach, dass die Idee, der IQ sei das wichtigste Merkmal, eine große Anziehungskraft auf viele Psychologen ausübt. Da die Konzeption von IQ-Tests auf einen Zusammenhang mit dem schulischen und akademischen Erfolg zielt, ist es nicht überraschend, dass psychologische Forscher bei solchen Tests gut abschneiden. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass Merkmale, die in psychologischen Theorien hervorstechen, manchmal dieselben sind, die psychologische Wissenschaftler kennzeichnen.
Andererseits ist eine gemeinsame Ausrichtung von Forschungsgegenstand und Forscher eindeutig von Vorteil. Jede Theorie, die wir aufstellen, sollte Sinn für uns selbst ergeben. Das gilt in der Psychologie mehr als in jeder anderen Disziplin. In der Vergangenheit gab es viele Theorien, die aus genau diesem Grund nicht befriedigend waren. Theorien, die behaupten, dass wir einfach durch die Belohnungen und Bestrafungen in unserem Umfeld angetrieben werden, dass wir Gefangene unserer inneren Triebe sind oder dass unser Charakter durch unsere Gene bestimmt wird, ergeben einfach keinen hinlänglichen Sinn. So wichtig diese Einflüsse sein mögen, liefern sie doch keine angemessene Erklärung für unser Verhalten oder für die Frage, wie wir zu der speziellen, einzigartigen Persönlichkeit wurden, die wir sind. Die entscheidende Bedeutung enger Beziehungen, wie sie in John Bowlbys Bindungstheorie und anderen Entwicklungserklärungen dargelegt wird, ist nicht nur empirisch nachweisbar, sondern entspricht auch unserer Intuition und unseren persönlichen Erfahrungen.
Die Kernidee ist, dass frühe zwischenmenschliche Beziehungen die Vorlage für die Entwicklung unserer Persönlichkeit liefern. Das ist eine ebenso einfache wie elegante Idee, die tatsächlich einen äußerst komplexen Entwicklungsprozess auf faszinierende Weise zusammenfasst. Es ist durchaus möglich, diesen Prozess so zu beschreiben, dass jeder, der ihn verstehen möchte, dazu in der Lage ist. Zudem bietet das Konzept die Kohärenz und Klarheit, die wir uns von unseren psychologischen Theorien wünschen. Die Entfaltung der Persönlichkeit ist etwas Wunderschönes.
Es gibt viele Möglichkeiten, eine Geschichte zu erzählen; der Autor kann zum...
Erscheint lt. Verlag | 19.2.2022 |
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Übersetzer | Maren Klostermann |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Baby • Bindung • Bindungsforschung • Bindungsperson • Bindungstheorie • Eltern-Kind-Bindung • Entwicklungspsychologie • erste Lebensjahre • John Bowlby • Mary Ainsworth • Persönlichkeitsentwicklung • Psychotherapie • Säugling/Kleinkind |
ISBN-10 | 3-608-11867-5 / 3608118675 |
ISBN-13 | 978-3-608-11867-4 / 9783608118674 |
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