Die Villen von Baden (eBook)
216 Seiten
Amalthea Signum Verlag GmbH
978-3-903217-98-0 (ISBN)
Marie-Theres Arnbom, Dr., geboren in Wien, ist Historikerin, Autorin, Kuratorin, Kulturmanagerin sowie Gründerin des Kindermusikfestivals St. Gilgen. Zahlreiche Bücher und Beiträge zu zeit- und kulturhistorischen Themen. Mit Jänner 2022 übernimmt sie die Direktion des Theatermuseums in Wien.
Marie-Theres Arnbom, Dr., geboren in Wien, ist Historikerin, Autorin, Kuratorin, Kulturmanagerin sowie Gründerin des Kindermusikfestivals St. Gilgen. Zahlreiche Bücher und Beiträge zu zeit- und kulturhistorischen Themen. Mit Jänner 2022 übernimmt sie die Direktion des Theatermuseums in Wien.
Weg 1
1 Die Rückkehr einer Musiksammlung. Familie Jellinek-Mercedes
Wiener Straße 41
Bei der Recherche für meine Ausstellung in Baden stoßen die Mitarbeiterinnen des Rollettmuseums auf die Sammlung Raoul Fernand Jellinek-Mercedes’ in der Musikbibliothek Essen. Mein Interesse ist geweckt, ein Telefonanruf bringt Aufklärung. Jeder Band dieser enormen Sammlung enthält ein kunstvolles Exlibris, geziert mit den Großen der Musikwelt: Ludwig van Beethoven, Johann Sebastian Bach, Franz Schubert und Richard Wagner.
Wie kommt diese Sammlung überhaupt nach Essen? Fernands Witwe Leopoldine verkauft sie 1940; über Ernst Reichert, der seit 1930 der Direktor der städtischen Musikbücherei in Essen ist, kommt sie an diese Institution. Ernst Reichert ist 20 Jahre jünger als Fernand und ebenfalls Musikwissenschafter, doch wirkt er bereits ab 1926 in verschiedenen Funktionen in Essen.
1943 fürchtet Reichert, dass die Stadt vor Bombardement nicht gefeit ist und findet einen Lastwagenfahrer, der die 1000 Bände in Sicherheit bringt. Nach Bad Ischl. Und so schließt sich ein Kreis: In meinem Villen-Band über Bad Ischl findet sich ein Kapitel über Familie Reichert – und genau in dieser Villa übersteht die Sammlung Jellinek-Mercedes den Krieg. 1951 kehrt sie wieder nach Essen zurück als erster großer Kernbestand, denn der Rest der Bibliothek ist den Bomben zum Opfer gefallen.
50 Jahre später wird die Leiterin der Bibliothek, Verena Funtenberger, auf das Exlibris in den Bänden aufmerksam und beginnt, die Familiengeschichte zu recherchieren. Sie stößt auf Fernands Schwester Andrée, die hochbetagt in Wien lebt. Mit ihr wird ein Vergleich ausgehandelt, die Sammlung verbleibt in Essen – doch für Frau Funtenberger gibt es ein weiteres Ziel: Die Sammlung soll nach Wien zurückkehren. Sie kontaktiert das Historische Archiv der Wiener Philharmoniker und es klappt: Die Sammlung kehrt im Jahr 2022 nach Wien zurück.
Doch wer hat diese Sammlung zusammengetragen? Raoul Fernand Raymond Maria de las Mercedes Jellinek-Mercedes lautet sein Name – »Fernand Raymond« bedeutet in deutscher Übersetzung Ferdinand Raimund. Ein Zufall? Fernand kommt 1883 in Algier zur Welt, sechs Jahre später folgt seine Schwester Mercedes, deren Name weltberühmt wird, da ihr Vater Emil einem Auto ihren Namen gibt. Die Kinder wachsen zwischen Algier, Nizza und Baden auf – hier erwirbt ihre Mutter Rachel im Jahr 1890 eine Villa in der Wiener Straße 41.
Die Villa Mercedes in Baden Emil Jellinek-Mercedes in seinem geliebten Automobil (oben). Die Namensgeberin: Mercedes. Die Freude des Karikaturisten: Emil Jellinek und seine prägnanten Züge. Automobilzeitung, 3. Februar 1918 (oben). Ein Blick ins Familienalbum: Familie Jellinek-Mercedes auf Ausfahrt (unten)Fernands Freund Kurt Frieberger erinnert im Jahr 1949 in der Zeitung Die Presse an die Familie: »Den jüngeren Sohn Fernand hätte der Vater gern als Dr. juris und Rechtsberater bei seinen großzügigen Transaktionen sich zugesellt, der aber, ein ernster, stiller Denker, den berühmteren Oheimen gleichgeartet, fand keinen Gefallen daran, widmete sich mit Leidenschaft der Musik, spielte drei Instrumente – Klavier, Cello und Horn – wurde Doktor der Philosophie, wobei er kennzeichnenderweise zum Gegenstande seiner Dissertation französische Moralisten wählte, vor allem Vauyenarbues, der das schöne Wort niederschrieb: ›Die großen Gedanken kommen aus dem Herzen‹. Wohl freute den Mann der Finanzwelt jenes kapitalistischen Zeitalters die abseitige Lebensführung seines Sohnes nicht, aber als Menschenkenner schätzte er den Charakter des jungen Mannes, dem er ruhigen Gewissens einen unbegrenzten Bankkredit einräumte. Niemand hätte würdigeren Gebrauch von solcher Macht üben können.
Fernand Jellinek-Mercedes widmete sein Leben ganz der Kunst und Wissenschaft. Unterbrechung erzwang nur der Krieg, in dem der Zehnerjäger am Plöcken verwundet wurde und später als Offizier LKW-Kolonnen auf dem Balkan und in Italien kommandierte. So kräftig er schien, litt er doch schwer an Rheumatismen, suchte immer wieder auf großen Reisen Heilung im Süden auf, aber er war zu tief in der Wiener Kultur verwurzelt. Nur hier gab es die Oper Gustav Mahlers, gab es die Philharmoniker. Hier trafen sich die Freunde zu Kammermusik. Hier hatte er eine wunderbar reichhaltige Handbibliothek aufgebaut, eine ganz einzig vollständige Partituren-Sammlung aller Klassiker und Romantiker, alles Wertvolle mit dem erlesenen Geschmack eines Bibliophilen gebunden. Betreut von seiner Gattin, lebte er als einer der Stillen im Lande, die in jener Zeit, da Hermann Bahr das künstlerische Gewissen der Stadt war, für die schaffenden und ausübenden Künstler so wesentlich und wertvoll waren, denn sie bildeten das Publikum, waren die aufnahmsfähigen und geschmackvollen Zuschauer und Zuhörer. So gehörte auch er zu den seelisch und künstlerisch Gebildeten, bei allem Wohlwollen von unfehlbarem und unerbitterlichem Geschmack.«1
Fernand und Poldi Jellinek-MercedesMit seiner Frau Leopoldine2, genannt Poldi, die aus Baden stammt, lebt er in der Villa in Baden. Ihr Kennenlernen schildert die Familie wie eine Szene aus einer Operette: Fernand besucht einen Schneidersalon in Baden zur Anprobe, die junge Schneiderin Poldi muss abstecken und verletzt den Kunden mit einer Nadel. Er geht, sie ist verzweifelt und fürchtet, ihren Posten zu verlieren. Am nächsten Tag erscheint er wieder – mit Rosen. Und hält um die Hand der jungen Schneiderin an.
Fernand und Poldi leben in Baden sehr bescheiden, denn Fernand hat sein Geld in anderer Weise investiert: »Wem er seine Freundschaft schenkte, dem war er selbstlos treu. Als ein ehemaliger Frontkamerad ihn gebeten hatte, ihn in seiner Stellung bei einer Privatbank durch Kapitaleinlagen zu unterstützen, und dann das Unternehmen der Inflation zum Opfer fiel, da ruhte Fernand Jellinek-Mercedes nicht, bis die Freunde, die er bewogen hatte, ebenfalls den Kameraden zu unterstützen, ihre Einlagen zurückerhalten hatten, und trug allein den schweren Verlust, der ihn zwang, sich sehr einzuschränken. Zurückgezogen lebte er in seiner Badener Villa, fuhr nur zu künstlerischen Veranstaltungen nach Wien, arbeitete an einem umfassenden genealogischen Werk und setzte seine Napoleon-Forschungen fort.« Fernand veröffentlicht Artikel über seltsame Berufe, eine Hundeschule, über Betrüger und seine Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in verschiedenen Magazinen wie auch der Badener Zeitung. Er trägt eine bedeutende Kunstsammlung ebenso wie eine umfassende Bibliothek zusammen und zählt zu den Förderern der Gesellschaft der Wiener Musikfreunde.
Dann kommt das Jahr 1938. »Dann kam der ›Umbruch‹«, schreibt Frieberger. »In die Einsamkeit und Zurückgezogenheit des stillen Gelehrten brach plötzlich der ganze Haß der Nürnberger Gesetze.« Fernand war nie jüdischer Konfession und empfindet sich daher auch nicht als gefährdet. Doch kann er das Gegenteil nicht beweisen: Die Geburtsdokumente aus Algier geben keine Konfession der Eltern an, daher wendet sich Fernand an seinen Cousin Walter Jellinek, der ihn bei genealogischen Forschungen unterstützt, doch ohne Erfolg. Fernand muss wie alle Personen, die von den Nazis als Juden definiert werden, sein Vermögen anmelden. Kurt Frieberger, der engste Freund, berichtet: »Mit einemmal sah er sich verfemt. Unerträglich lastete das Gefühl auf ihm, verachtet zu sein. Mit melancholischem Lächeln sagte er, wenn ihm die zutraulichen Finken seines Gartens auf die Hand flogen, um sich gewohntermaßen Futter zu holen: ›Die nehmen noch, was ich ihnen gebe …‹ Dabei wunderten sich die Badener, daß er rassistisch verfolgt sein könne, sah er doch wie ein Stockfranzose aus mit seinen gütigen hellen Augen. Aber es gab keine Rettung, so bekümmert auch nachher seine algerischen Verwandten waren, die ihm, hätten sie es gewußt, die nötigen Papiere zu senden in der Lage gewesen wären. Er, der zu stolz war zu fliehen, nicht verlassen mochte, was ihm das Leben lebenswert machte, mußte erfahren, wie der liebenswürdige und von ihm sehr geschätzte Lyriker Alfred von Ehrmann Selbstmord beging.«3
Fernands jüngerer Bruder Guy schreibt über einen Brief, den Poldi an Walter Jellinek richtet: »Fernand Jellinek-Mercedes geriet infolgedessen immer tiefer in eine depressive Krise. Schon am 14. November 1938, also vier Tage nach der Pogromnacht, schrieb er sein Testament neu.4 In den folgenden Wochen und Monaten zog er sich immer mehr in eine selbstgewählte Isolation zurück. Er hegte Selbstmordpläne und teilte diese auch seiner völlig verängstigten – nach den Nazi-Kriterien rein ›arischen‹ – Frau mit. ›Ich kann nicht leben, ich kann nur als freier Mann leben, nicht aber als ausgeschlossener, als...
Erscheint lt. Verlag | 19.9.2022 |
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Reihe/Serie | Villen-Reihe |
Verlagsort | Wien |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Regional- / Landesgeschichte |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Schlagworte | 1918 • 1938 • 19. Jahrhundert • 20. Jahrhundert • Adolfine Malcher • Ahnen • Albert Benbassat • Albert Göring • Alexander Pollak • Architekten • Architektur • Archive • Arisierung • Ausstellung • Bad • Baden • Baden bei Wien • Bank • Bankiers • Bauherren • Bewohner • Biedermeier • Bienenfeld • Bürgerliche • Carl-Heinz Schroth • Clans • Donaumonarchie • Dynastien • Elektrizität • Else von Ruttersheim • Emanuel von Seidl • Emil Jellinek-Mercedes • Enteignung • Erbauer • Erfinder • Erholung • Erinnerung • Fabrikanten • Fabriksbesitzer • Familie • Familien • Forschung • Frank Lloyd • Fritz Malcher • Gasglühstrümpfe • Gäste • Geschichte • Geschichten • Großbürgertum • Großindustrielle • Gustav Heller • Gutmann • Habsburger • Habsburgermonarchie • Häuser • heilbaden • Heinrich Klinger • Heinrich Strecker • Holocaust • Idylle • Industrielle • Jahrhundertwende • Judentum • Jüdische Familien • Jüdische Gemeinde • Jüdisches Leben • Jugendstil • Juweliere • Kaiser • Kaiserhaus Baden • Kaiserstadt • Kaufhaus • Kaufhäuser • Kohle • K. u. K. • Kultur • Kultusgemeinde • Kunst • Kur • Kuraufenthalt • Kurbad • Kuren • Kurgäste • Kurstadt • Löwenstein • Marie-Theres Arnbom • Memory • Mizzi Zwerenz • Momente • Museum • Musik • Nachfahren • Nationalsozialismus • Niederösterreich • NS-Zeit • Österreich • Park • Paula Menotti • Privatarchive • Quellen • Raoul Fernand Jellinek-Mercedes • Reginald LeBorg • Reise • Restitution • Rothberger • Samuel Ritter von Hahn • Schicksale • Sommerfrische • Spaziergänge • Theatermuseum • Thermalquellen • Verdrängung • Verfolgung • Vergangenheit • Vergessen • Versteigerung • Villen • Wien • Zeit • Zuckerl |
ISBN-10 | 3-903217-98-0 / 3903217980 |
ISBN-13 | 978-3-903217-98-0 / 9783903217980 |
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