Flüchtiges Glück (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
480 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-1039-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Flüchtiges Glück -  Ulla Mothes
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Der Roman zum Ende der Nachwendezeit - über Enttäuschungen, Wagnisse und Vertrauen


Geliebt und behütet ist Milla in Berlin bei ihrer Mutter aufgewachsen. Ihren Vater hat sie nie vermisst. Nun aber ist Milla schwanger, und ihr Freund Navid drängt sie, ihren Wurzeln nachzuspüren. Verschwiegenes sickert in Generationen ein wie Gift, sagt er. Doch sein Ansinnen sorgt für Zwist: Millas Mutter will den Schmerz aus ihrer DDR-Vergangenheit nicht aufwühlen. Und die Großeltern weichen aus. Als dann noch ein betrunkener alter Mann Milla und Navid angeht und behauptet, Millas Oma sei bei der Stasi gewesen und habe seine Frau auf dem Gewissen, erkennt Milla, dass sie in ein Wespennest gestochen hat. Was geschah damals wirklich?


Einfühlsam und authentisch schreibt Ulla Mothes über das Leben in der DDR, über Freundschaft und Verrat, Licht und Schatten. Ein Roman, der nachdenklich macht und nachhallt.



Ulla Mothes, 1964 geboren, wuchs in der Mark Brandenburg sowie in Ostberlin auf. Als Studentin stellte sie einen Ausreiseantrag, weil sie nicht wollte, dass ihre Kinder mit einem Maulkorb aufwachsen müssen. Es folgten Exmatrikulation, Arbeit als Garderobenfrau, Ausreise 1986. Heute lebt Ulla Mothes als Lektorin, Autorin und Schreibcoach in Berlin. Ihre zwei erwachsenen Kinder durften und dürfen sagen, was sie wollen.

Ulla Mothes, 1964 geboren, wuchs in der Mark Brandenburg sowie in Ostberlin auf. Als Studentin stellte sie einen Ausreiseantrag, weil sie nicht wollte, dass ihre Kinder mit einem Maulkorb aufwachsen müssen. Es folgten Exmatrikulation, Arbeit als Garderobenfrau, Ausreise 1986. Heute lebt Ulla Mothes als Lektorin, Autorin und Schreibcoach in Berlin. Ihre zwei erwachsenen Kinder durften und dürfen sagen, was sie wollen.

2


Berlin, Mai

Schade, dachte Navid, als Agnes ihnen eröffnete, dass Franz im Schützenhaus war. Milla und er waren zum Abendessen bei den Großeltern eingeladen, schon lange, und das Vorstandstreffen des Zehlendorfer Schützenvereins war kurzfristig anberaumt worden.

»Der Verein ist Franz’ Ein und Alles. Wisst ihr doch. Seit er in Rente ist, noch mehr«, entschuldigte Agnes ihren Mann.

Navid konnte das gut verstehen. Der Schützenverein war für den geselligen Franz ein Lebenselixier. Trotzdem bedauerte er es, dass Millas Großvater nicht da war, denn der einfache, warmherzige Mann erinnerte ihn sehr an seinen Onkel, den er in Kundus begraben hatte.

»Irgendwie braucht er das«, meinte Milla, als sie Navids enttäuschte Miene sah.

»Ja«, sagte Agnes. »Es geht dort sehr ungezwungen zu. In Wolfen war die Werkfeuerwehr wie eine Familie, wie die Kollektive eigentlich überall. Da trennte man nicht so zwischen beruflich und privat. Diese Einbettung hat ihm hier immer gefehlt, obwohl die Werkfeuerwehr von Schering auch eine gute Truppe war.«

Der Abend war warm, und Agnes führte die beiden auf die Terrasse. Bei Millas Großeltern fand immer alles im Garten statt, wenn es irgend ging. Navid mochte das, denn der Duft von frischem, saftigem Grün betörte ihn. Vielleicht, dachte er, kommt das daher, dass ich im fruchtbaren Tal des Kundus gewohnt habe. Der Fluss hatte seiner Stadt auch den Namen gegeben, und das saftige Grün des Frühlings hielt sich an seinen Ufern viel länger als in anderen Gegenden Afghanistans.

»Den Grill habe ich nicht angeworfen«, entschuldigte sich Agnes. »Aber die Bockwürste und Knacker von unserem Fleischer sind auch gut. Müssten gleich warm sein.«

Der große runde Terrassentisch mit dem weißen, leicht schnörkeligen Metallgestell war gedeckt, mit Agnes’ so schlichtem wie gutem Kartoffelsalat, einer Porzellansenfdose, einem Tellerchen mit Paprika, Gurke und Cocktailtomaten sowie der unvermeidlichen Teekanne, daneben standen Bier- und Saftflaschen in einem Eimer mit kaltem Wasser.

Navid legte afghanisches Fladenbrot dazu, das er gebacken hatte. Es war das Einzige, was er von früher wirklich konnte. Er hatte versucht, die afghanischen Gerichte zu kochen, die seine Mutter zubereitet hatte, aber es hatte einfach nicht nach Zuhause geschmeckt, und da hatte er es aufgegeben. Dass er es nicht so hinbekam wie seine Mutter, ließ seinen Schmerz nur neu aufleben. Milla und er aßen trotzdem viel Reis, Bohnen und sonstiges Gemüse. Gegen den Zehlendorfer Fleischer hatte Navid allerdings noch nie etwas einzuwenden gehabt.

»Die sind aber schön!«, sagte Milla und zeigte auf die zarten Blüten der Anemonen, die sich in einem der Beete wiegten, die die große Rasenfläche umgaben.

Agnes nahm sie bei der Hand, sie gingen die Natursteinstufen von der Terrasse hinunter und traten zu dem Beet. »Riech mal an der hier.« Sie zeigte auf eine andere Blüte dazwischen. »Ist die letzte.«

Milla hielt die Nase daran, und Navid, der den beiden gefolgt war, tat es ihr nach.

»Riecht nach Jolas Parfum«, sagte er überrascht.

»Ja«, sagte Agnes. »Irisduft ist ein sehr beliebter Bestandteil von Parfums.«

»Mama hat uns neulich Fotos gezeigt, aus Wolfen, als sie noch ein Kind war«, sagte Milla.

»Ach«, machte Agnes. »Wie kamt ihr denn darauf?«

»Hat sich Navid gewünscht.«

Agnes’ Blick wanderte zu Navid.

»Ich wollte Millas Familie besser kennenlernen, wenn wir doch jetzt heiraten und ein Kind kriegen.« Er kam sich unter Agnes’ Blick so vor, als müsse er sich rechtfertigen.

Agnes zögerte kurz, dann sagte sie leichthin: »Ach, da habe ich bestimmt auch noch Fotos. Die zeige ich euch gern. Navid, wenn du den Topf mit den Würstchen rausträgst, suche ich sie schnell raus.«

»Mach ich.«

»Ich hole den Untersetzer«, sagte Milla.

Wenig später saßen sie am Gartentisch, und neben Agnes lag ein ähnlich großes Kunstlederfotoalbum wie das von Jola, dazu einige neuere Steckalben.

»Habt ihr die Alben damals auf eurer Flucht mitgenommen?«, fragte Milla und zeigte auf das kunstlederne.

»Ja, dieses und Jolas hatte Franz in seinem Rucksack. Da kannte er nichts.«

Navid kniff die Lippen zusammen. Er hatte kein einziges Foto von seiner Familie. Die Taliban hatten das Haus angezündet, es war alles verbrannt. Da spürte er Millas weiche Hand auf seiner und entspannte seinen Mund sofort.

Sie aßen Würstchen mit Kartoffelsalat, und Agnes sagte irgendwann zu ihrer Enkelin: »Als deine Mutter so alt war wie du, war sie ein ganz schöner Feger.«

»Ein was?«, fragte Navid.

»Sie war umtriebig«, erklärte Agnes. »Eigentlich schon die ganze Teenagerzeit über.« Sie nahm ein Steckalbum zur Hand und schlug es auf. »Da, das ist an ihrem vierzehnten Geburtstag. Wir waren erst ein Dreivierteljahr hier. Sie hat die halbe Klasse eingeladen. Glücklicherweise war es warm.«

Navid beugte sich mit Milla über das Foto. Er erkannte ihre Mutter zwischen den Mädchen und Jungen sofort. Vor allem deshalb, weil ihr Blick herausstach wie ein kalt glitzernder Brillant zwischen Kieseln. Jola war einsam, das sah Navid, der selbst furchtbar einsam gewesen war, bis er sich in Millas Herz aufwärmen konnte, sofort.

Es gab mehrere Fotos von der Feier, und Jola lachte und scherzte, vor allem mit den Jungen. Aber die Kälte in ihren Augen ließ Navid einen Schauer über den Rücken laufen.

»Da sind ganz schön viele Jungs dabei«, sagte Milla. »Als ich vierzehn war, habe ich nur Mädchen eingeladen, und die anderen Mädchen auch.«

»Ja, so war sie«, sagte Agnes. »Auch auf den Festen vom Schützenverein war sie immer mittendrin.« Sie blätterte weiter, und Navid sah Urlaubsfotos von Mittelmeerstränden und Gebirgswanderungen, auf denen meistens Franz und Jola abgebildet waren – in dieser Familie war eindeutig Agnes die Fotografin. Wenn einmal Franz oder Jola den Apparat benutzt hatten und Agnes, die damals um die fünfzig gewesen sein musste, mit drauf war, wirkte sie immer drahtig und streng, aber auch mondän wie ein Fotomodell. Jola hatte es als Teenager bestimmt nicht leicht gehabt mit dieser Mutter.

Aus dem Album rutschten zwei Fotos heraus und fielen auf den Boden.

»Das ist vor der Humboldt-Uni«, sagte Milla, die sie aufhob.

Agnes warf einen Blick darauf. »Ja, da war sie Studentin.«

Auf beiden war neben Jola ein junger Mann zu sehen. Er hatte Sommersprossen wie Milla und auch ihre Haarfarbe.

»Der lacht sie ganz schön verliebt an«, bemerkte Navid und tippte auf das Foto, auf dem beide vor der Uni standen, Jola mit ihrem Fahrradschloss in der Hand. Sie guckte auch verliebt, aber irgendwie schien sie nicht ihn anzusehen.

Auf dem zweiten Foto waren sie hier im Garten. Der junge Mann spritzte Jola mit dem Schlauch nass, und man hörte sie förmlich kreischen.

»Ich will ja nichts sagen«, meinte Agnes. »Aber ein bisschen ähnlich siehst du dem schon. Wie hieß er doch gleich …« Sie trank einen Schluck Tee.

Milla schnappte sich das Foto, und Navid schaute auch noch einmal genauer hin. Ausgeschlossen ist das nicht, dachte er.

Agnes hob den Finger, wackelte damit, holte Luft, kniff die Augen leicht zusammen und sagte dann: »Ingo. Der hieß Ingo. Und das war auf jeden Fall Ende der Neunziger. Dieses Federballspiel haben wir ungefähr da gekauft, weil unser altes kaputtgegangen war.« Sie zeigte auf einen Schläger, der im Anschnitt auf dem Gartentisch zu sehen war, an dem sie gerade saßen.

»Du meinst, das kann mein Vater sein?«, fragte Milla und fremdelte ganz eindeutig mit dem Bild.

Navid verstand das. Millas Väter waren Toni und Dirk, so empfand sie es jedenfalls. Aber das stimmte nun mal nicht. Wenn er der Sache auf den Grund gehen wollte, musste er sich an diese Geschichte offensichtlich sehr vorsichtig herantasten. Und irgendwie wollte er das. So schrecklich es war zu wissen, dass seine Eltern tot waren, so wichtig war es für ihn, einen klaren Abschluss zu haben. Er fand es ungut, dass Jola ihre Tochter der Belastung aussetzte, nicht zu wissen, von wem sie abstammte. Er selbst hätte es wie eine Beleidigung empfunden. Warum tat sie das nur?

»Ja«, sagte Agnes. »Nach meiner Erinnerung waren die beiden jedenfalls ineinander verschossen.«

Nein, dachte Navid, der sich die Bilder genauer ansah. Verliebt sahen auf dem Foto an der Uni beide aus, das stimmte, aber Jola hätte schielen müssen, wenn ihr Blick Ingo gelten sollte.

»Aber was heißt das schon.« Agnes steckte die Fotos ins Album zurück und blätterte zu Jolas Kindheit. »Wenn deine Mutter nicht weiß, wer dein leiblicher Vater ist, dann war er es auch nicht wert. Toni und Dirk sind es zehnfach. Du hast eine sehr moderne Mutter, Milla, und du kannst stolz auf sie sein.«

Während sie das sagte, blickte sie nachdenklich auf eines der vielen Gartenfotos aus Wolfen. Darauf waren ganz am Rand ihr Mann Franz zu sehen und eine Frau, die von hinten fast genauso aussah wie Milla, jedenfalls was ihre Sanduhrsilhouette betraf, nur dass sie wilde blonde Locken hatte und kleiner war. Sie und Franz standen sehr nah beieinander, und sein Handrücken berührte ihren Oberschenkel.

Navid warf einen Blick auf Agnes’ Profil. Eine harte Linie hatte sich neben ihrem Mundwinkel eingegraben. Konnte es sein, dass sie bei »nicht wert« an Franz gedacht hatte? An ihren geselligen Ehemann, der auf diesem Bild eindeutig eine Spur zu gesellig wirkte?

»Habt ihr die Federballschläger noch? Die auf den Fotos mit...

Erscheint lt. Verlag 25.2.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte Bitterfeld • DDR • Familie • Familienroman • Identität • Liebe • literarische Unterhaltung • Nachhaltigkeit • Nostalgie • ORWO • Ostalgie • Saga • Spitzel • Staatssicherheit • Stasi • Umwelt • Umweltschutz • Unweltverschmutzung • Vaterschaft • Verrat • Wolfen • Zusammenhalt
ISBN-10 3-7517-1039-6 / 3751710396
ISBN-13 978-3-7517-1039-8 / 9783751710398
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