Detransition, Baby (eBook)
368 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2678-8 (ISBN)
Torrey Peters, aufgewachsen in Chicago, hat die Erzählungen 'Infect Your Friends and Loved Ones' und 'The Masker' veröffentlicht. Sie studierte kreatives Schreiben und Literaturwissenschaften. Detransition, Baby, ihr Debütroman, wurde 2021 für den Women?s Prize for Fiction nominiert - als das erste Buch einer trans Autorin in der Geschichte des Preises. Torrey Peters fährt ein pinkfarbenes Motorrad und lebt wechselweise in Brooklyn und einer Hütte in Vermont. www.torreypeters.com
Torrey Peters hat zwei Novellas (Infect Your Friends und Loved Ones and The Masker) geschrieben, die sich auf ihrer Website finden. Sie hat einen MFA der University of Iowa und einen MA in Comparative Literature der Universitiy of Dartmouth. Sie ist in Chicago aufgewachsen und lebt heute in Brooklyn. Nicole Seifert ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und arbeitet seit fünfzehn Jahren als Übersetzerin aus dem Englischen, sowie als Autorin. Zuletzt erschien bei Kiepenheuer & Witsch ihr Buch FRAUEN LITERATUR, Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt. Frank Sievers, Jahrgang 1974, lebt als Übersetzer und Autor in Berlin. Regelmäßige Arbeit für die Reihe Naturkunden bei Matthes & Seitz sowie Übersetzungen von Romanen und Sachbüchern über Fußball, Gastrophysik oder Kunst. 2017 erhielt er mit Andreas Jandl den Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis.
Erstes Kapitel
Einen Monat nach der Zeugung
Für Reese war die Frage: Zogen verheiratete Männer sie magisch an? Oder waren in dem Pool von Männern, die für sie als trans Frau verfügbar waren, einfach nur Typen, die sich schon eine cis Frau gesichert hatten und jetzt »experimentieren« wollten? Die bequeme Antwort, für die alle ihre Freundinnen plädierten, hieß: Männer sind Tiere. Nur war Reese jetzt schon wieder mit so einem blendend aussehenden, charmanten, fremdgehenden Arschloch zugange. Da sitzt sie im schwarzen Spitzenkleid in seinem BMW und wartet auf ihn, während er im Duane Reade Kondome holt. Gleich wird sie ihn mit in ihre Wohnung nehmen, dem stechenden Blick ihrer Mitbewohnerin Iris ausweichen und sich auf der banalen Blümchendecke von ihm vögeln lassen, die ihr der letzte verheiratete Typ geschenkt hat, damit ihr Zimmer ein bisschen mädchenhafter und unanständiger wirkt, wenn er sich von seiner Frau wegschleicht.
Reese hatte ihr eigenes Problem längst erkannt. Sie konnte nicht allein sein. Sie floh vor ihrer eigenen Gesellschaft, vor der Einsamkeit. Ihre Freundinnen erzählten ihr nicht nur, wie furchtbar fremdgehende Männer sind, sondern auch, dass sie nach zwei krassen Trennungen Zeit braucht, um zu sich zu finden und zu lernen, mit sich allein zu sein. Aber sie hatte kein Maß fürs Alleinsein. Gab man ihr eine Woche für sich, igelte sie sich ein und schüttete einen exponentiell anwachsenden Ascheberg aus Einsamkeit auf, bis sie davon träumte, alles zu verkaufen und mit einem Boot ins Nirgendwo zu treiben. Um sich wieder ins Leben zu katapultieren, ging sie auf Grindr oder Tinder oder was auch immer – und schickte zehntausend Volt durch ihr Herz, wenn sie der Affäre nachjagte, die ihr das dramatischste Herzrasen versprach. Mit verheirateten Männern ließ sich die Einsamkeit am besten vertreiben, denn verheiratete Männer konnten selbst nicht allein sein. Verheiratete Männer waren Experten im Zusammensein, im Nicht-Loslassen, komme, was da wolle, bis dass der Tod uns scheide. Unter dem Vorwand, sie habe »nur eine Affäre«, machte Reese einen tiefen, harten Schwalbensprung. Sie redete sich ein, es wäre nur was Kurzes, was ihr erlaubte, jeden Fetisch auszuleben, von dem der Typ träumte, um jede seiner geheimen Wunden freizulegen, sich selbst auf die geilste, verruchteste, unverantwortlichste Art zu erniedrigen – und dann in Bitterkeit zu verfallen, weil es nur was Kurzes gewesen war. Weil – war sie nicht mutig und verletzlich genug gewesen, um so tief und hart zu tauchen?
Sie hielt sich selbst für attraktiv, volles Gesicht, üppige Figur, aber ihr war klar, dass sie keine Auffahrunfälle verursachte. Und dass die Leute ständig mit offenem Mund um sie herumstanden und die Auswüchse ihrer Intelligenz bewunderten, war ihr auch noch nicht aufgefallen. Doch mit dem richtigen Mann hatte sie Talent fürs Drama. Und wenn ihr die Einsamkeit kalt in den Knochen saß, konnte sie es destillieren und abfackeln wie Kerosin.
Der aktuelle Mann ähnelte den vorigen. Ein attraktives, verheiratetes Alphatier, das sie im Schlafzimmer an der Leine hielt. Nur war es diesmal noch besser, denn es war ein HIV-positiver ehemaliger Cowboy, jetzt Anwalt. Er stand auf trans Frauen und war serokonvertiert, als er seine Gattin mit einer trans Frau betrog, und seine Gattin war bei ihm geblieben und jetzt betrog er sie wieder, und zwar mit Reese. Raaah!
»Warst du etwa Bottom?«, hatte Reese ihn beim ersten Date gefragt.
»Scheiße, nein«, sagte er. »Mein Arzt meint, das Risiko, sich bei einem Blowjob zu infizieren, liegt bei eins zu zehntausend. Und wenn man mal davon ausgeht, dass es pro Minute zehntausend Blowjobs gibt, dann war der eine von den zehntausend halt ich. Aber sie hat mir auch echt oft einen geblasen.«
»Cool«, sagte Reese, die wusste, dass diese Erklärung nicht den Tatsachen entsprach, aber tat, als würde sie es glauben, allein schon, damit er bei ihr nicht versuchte, Bottom zu sein. Innerhalb einer Stunde hatte sie ihn in ihrem Zimmer und hörte seine Beichte, wo und bei wem er sich wirklich angesteckt hatte. Innerhalb von zwei Stunden brachte Reese ihn dazu, ihr von seiner enttäuschten Frau zu erzählen, die sich von ihm kein Kind machen lassen wollte, obwohl das Virus kaum noch nachweisbar war. Er erzählte, wie abscheulich seine Frau die In-vitro-Behandlung fand und dass sie das klinische Prozedere jedes Mal daran erinnerte, was er getan hatte, und warum sie jetzt auf einem kalten Behandlungstisch lag anstatt im warmen Ehebett.
»Ich bin bei dir viel offener als sonst«, sagte ihr Cowboy überrascht und knetete weiter ihre Brüste. »Die Macht der Möse, vermutlich.«
»Vielleicht kriegst du meine Möse«, ahmte sie seine gedehnte Cowboy-Melodie nach, »aber eine gute Frau häutet deine Seele.«
»Ist das so«, sagte er noch gedehnter. Er legte ihr seine große Pranke in den Nacken und zog ihr Gesicht näher an seins. Sie seufzte, ihr Körper erschlaffte.
Mit glasigen Augen begegnete sie seinem Blick.
»Pass mal auf«, meinte er, »ich nehm mir jetzt deine Möse vor …« Er hielt kurz inne und drückte ihr Gesicht langsam und bestimmt ins Kissen. »Und um meine Seele kümmern wir uns später.«
Jetzt schwingt er sich mit der kleinen braunen Tüte mit Gleitmittel und Kondomen ins Auto, und Reeses Bauch durchzuckt kitzelnde Vorfreude. »Brauchen wir die wirklich?«, fragt er und hält die Tüte hoch. »Eigentlich will ich dich ja schwängern.«
Genau deshalb hielt sie es immer noch mit ihm aus. Er hatte es kapiert. Mit ihm hatte sie Sex entdeckt, der wirklich gefährlich war. Cis Frauen mussten doch bei jedem Sex vor der Gefahr erschaudern. Das Risiko, der Nervenkitzel, schwanger zu werden – sich mit einer einzigen Nummer das ganze Leben zu versauen (oder zu vergolden?). Für cis Frauen, vermutete Reese, war Sex, als würde man auf einer Klippe spielen. Vor ihrem Cowboy hatte sie dieses spezielle Vergnügen noch mit keinem gehabt. Erst durch seine HIV-Infektion hatte sie eine vergleichbar lebensverändernde Gefahr erlebt. Ihr Cowboy konnte sie mit einem Schuss zeichnen. Ihrem Leben ein Ende machen. Sein Schwanz konnte sie auslöschen.
Er hatte ihr gesagt, dass bei ihm keine Viruslast mehr nachweisbar war, sie hatte es aber nie schwarz auf weiß sehen wollen. Das hätte die süße Gefahr gekillt. Er spielte auch gern nah an der Klippe, drängte darauf, sie zu schwängern, mit seinem viralen Samen zu befruchten. Sie zur Mama zu machen, ihren Körper zur Wirtin neuen Lebens, Teil von ihr und kein Teil, die ewige Mutter.
»Wir haben gesagt, nur mit Kondom. Du hast gesagt, du willst mich nicht auf dem Gewissen haben«, sagte sie.
»Ja, aber das war, bevor du die Pille genommen hast.«
So hatte sie am Anfang ihre PrEP genannt, in einem chinesischen Restaurant in Sunset Park, wo er sicher war, dass er den Freundinnen seiner Frau nicht in die Arme lief. Sie hatte es einfach so gesagt, als Witz, aber er sah sie an und sagte: »Fuck, jetzt habe ich einen Ständer.« Er fragte nach der Rechnung, sagte, dass sie heute Abend nicht mehr ins Kino käme, und fuhr sie zu ihrer Wohnung, wo er sie mit dem Gesicht in ihre Blümchendecke drückte. Am nächsten Morgen schickte sie ihm eine der sexysten und sexfreiesten Nachrichten ihres Lebens – ein kurzes Video, auf dem sie ein paar große blaue Truvada-Pillen in eine unverkennbare pastellfarbene Antibabypillen-Packung legt. Von da an gehörte »ihre Pille« zu ihrem Sexleben.
Neben dem Stigma, dem Tabu und der erotisierenden Wirkung hatte diese Sonder-Pozzen-Behandlung für Reese noch einen weiteren Reiz: Sie wollte wirklich gern Mama werden. Sie wollte es sogar unbedingt. Obwohl sie ihr gesamtes Erwachsenenleben mit queeren Menschen verbracht, ihre radikalen Beziehungen, Geschlechterrollen und Polyamorie in sich aufgesogen hatte, hatte sie die netten weißen Wisconsin-Muttis ihrer Kindheit im Grunde nie vom Gipfel der Weiblichkeit gestoßen. Sich nie von dem heimlichen Wunsch verabschiedet, eine von ihnen zu werden. Als Mutter, stellte sie sich vor, wäre sie befreit von ihrer Einsamkeit und Bedürftigkeit, denn als Mutter war man nie wirklich allein. Auch wenn sie und ihre trans Freund*innen die Erfahrung gemacht hatten, dass bedingungslose elterliche Liebe am Ende doch immer Bedingungen stellte.
Vielleicht genauso wichtig: Als Mutter würde ihr endlich die Weiblichkeit gewährt, die die Göttinnen ihrer Kindheit als ihr natürliches Recht ansahen. Einmal war sie schon kurz davor gewesen. Das war in einer lesbischen Beziehung mit einer trans Frau. Amy hatte einen guten Job in der Tech-Branche und war so vorortmäßig vorzeigbar, dass man ihre Worte, wenn sie redete, in Martha Stewarts Vintage-Schrift vor sich sah. Ein Leben, das häuslicher war, als Reese es mit Amy geführt hatte, war für eine trans Frau kaum denkbar – das Vertrauen und die Langeweile und die Stabilität waren jedoch inzwischen verblasst wie ein Traum nach dem Aufwachen. Sie hatten sogar eine gemeinsame Wohnung am Prospect Park gehabt, helle, luftige Räume, die so viel guten Geschmack und unerschütterliche Seriosität ausstrahlten, dass es...
Erscheint lt. Verlag | 31.3.2022 |
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Übersetzer | Frank Sievers, Nicole Seifert |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung | |
Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Cisfrauen • detransition • Diversität • Ehe • Eltern • Kinder • Liebe • New York • Transfrauen |
ISBN-10 | 3-8437-2678-7 / 3843726787 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2678-8 / 9783843726788 |
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