Die Grenzen meiner Sprache (eBook)
Depression gilt in Deutschland inzwischen als Volkskrankheit, über 5 Millionen Menschen erkranken jährlich daran. Die Philosophin Eva Meijer erzählt von ihrer eigenen Erfahrung mit Depression und kommt dabei zu erstaunlichen neuen Erkenntnissen. Mit den Mitteln der Philosophie, mit Verweisen auf Wittgenstein, Camus, Foucault u.v.a. erklärt und untersucht sie das Phänomen, nimmt der Depression den Schrecken und zeigt, wie die Beziehung zwischen Individuum und Welt, die bei der Krankheit verloren geht, auf vielfältige Weise wiederhergestellt werden kann und was das Leben lebenswert macht.
Eva Meijer, geboren 1980 in Hoorn, Niederlande, ist Philosophin und Schriftstellerin. Sie hat Romane, Kurzgeschichten, Gedichte und Essays veröffentlicht und wurde zu einem Thema über die Sprachen der Tiere promoviert; die Dissertation erschien bei der New York University Press. Ihr Roman »Das Vogelhaus« gewann den Leserpreis des BNG-Literaturpreises und wurde für den Libris- und den ECI-Literaturpreis nominiert. 2017 wurde Eva Meijer für ihr Gesamtwerk mit dem Halewijn-Preis ausgezeichnet, und »Was Tiere wirklich wollen« erhielt den Hypatia-Preis für das beste philosophische Buch, das von einer Frau geschrieben wurde. Eva Meijer forscht an der Universität von Wageningen.
2. Von schiefen Bäumen und der Formung der Seele
Depressionen wirken sich auf das Gehirn aus. Während einer Depression ist die Aktivität im präfrontalen Cortex an der Stirnseite des Gehirns herabgesetzt. Dieser Teil des Gehirns reguliert die kognitiven und emotionalen Funktionen. Wenn er weniger gut arbeitet, treten Interesselosigkeit und Konzentrationsmangel, Denkstörungen und Gefühle von Schwermut und Verzweiflung auf. Im Hippocampus, verantwortlich für unsere Gedächtnisinhalte, büßen die Nervenzellen an Volumen ein – und das führt zu Vergesslichkeit. Im Zwischenhirn ist auch die Funktion des Thalamus gestört. Hier werden Informationen aus den Sinnesorganen verarbeitet, und eine solche Störung kann Angst und Unruhe auslösen. Um den Thalamus herum »schrumpfen« die Basalganglien genau wie die Zellen im Hippocampus – und das kann zu verlangsamten Bewegungen führen, denn von hier aus wird die motorische Aktivität gesteuert. Bei älteren Menschen, die schon mehrfach Depressionen hatten, ist der Hippocampus stärker geschrumpft als sonst bei älteren Menschen.26 Chronische Depression schädigt also das Gehirn und macht es wahrscheinlich anfälliger für Alterserkrankungen wie etwa Demenz. Wenn man schon in jungen Jahren zum ersten Mal depressiv wird, ist diese Wahrscheinlichkeit umso höher.27 Auch der übrige Körper depressiver Menschen altert rascher.28
Das Gehirn depressiver Menschen verändert sich also, aber wie verändert sich deren Seele? Mit Seele meine ich hier keinen unsterblichen unsichtbaren Geist, sondern so etwas, wie Wittgenstein es in seinem späteren Werk umschreibt: Jener, mit dem man spricht, wenn man mit jemandem spricht. Ein Selbst, das nicht auf den Geist oder die Vernunft zu reduzieren ist und auch nicht auf bloße körperliche Reaktionen. Die Philosophie hat sich lange auf den Kopf des Menschen konzentriert, auf dessen rationale Fähigkeiten. Doch Körper und Geist lassen sich nicht so einfach trennen. Unser Gehirn ist stofflich, und was wir denken, ist ganz und gar mit unserer körperlichen Existenz verbunden. Unser körperliches Selbst und wie wir es begreifen, ist wiederum von der Kultur geprägt, in der wir leben und woraus diese konkret gemacht ist.
Das schwärzeste Schwarz, das weißeste Weiß
Bei Wittgenstein steckte übrigens eine gehörige Portion Depressivität in der Familie.29 Drei seiner vier Brüder begingen Selbstmord – der Leichnam eines von ihnen wurde nie gefunden. (Der vierte, Paul, war Konzertpianist und verlor im Ersten Weltkrieg den rechten Arm, worauf er, entschlossen, auch weiterhin zu brillieren, mit einer Hand weiterspielte. Ravel und einige andere bedeutende Komponisten der damaligen Zeit schrieben eigens Klavierstücke für ihn – aber das nur nebenbei.) Auch Wittgenstein selbst kannte schwierige Phasen – aus seinen Briefen spricht oft große Verzweiflung, und dass er im Ersten Weltkrieg unbedingt an die Front wollte, entsprang keineswegs reiner Vaterlandsliebe. Die Philosophie hat ihn nicht glücklich gemacht; er war nie zufrieden mit seinen Ideen und legte sich die Messlatte so hoch, dass unmöglich zu erreichen war, was ihm vorschwebte. Vielleicht war die Philosophie aber auch die Gegenspielerin, die er brauchte, um vor Schlimmerem bewahrt zu bleiben. Wie fanatisch er war, ist am deutlichsten aus dem Tractatus herauszulesen, einem Gebäude, das dem Universum gleichkommen soll und natürlich darin scheitert (sein Schluss gehört übrigens zu den ergreifendsten, die je ein philosophisches Buch hatte, doch um das verstehen zu können, musst du es schon ganz gelesen haben).30 Sein späteres Werk zeugt von größerem Mitgefühl für die menschlichen Fehler.31 Da begreift er auf einmal, dass die Sprache, sein Portal zur Deutung der Wirklichkeit, kein ehernes, kontingentes System ist, sondern wie wir unfertig, manchmal paradox, unzureichend und bisweilen sperrig und unlogisch. Doch sie funktioniere, meint Wittgenstein, und wir sollten uns darauf konzentrieren, wie sie funktioniere, wenn wir etwas von ihr verstehen wollten. Wenn wir die Bedeutung eines Begriffs untersuchen wollten, sollten wir uns anschauen, wie er von Menschen gebraucht wird.
Wenn über Depressionen geschrieben oder gesprochen wird, fallen oft große Worte. Sie als Dämonen, Monster oder Bestien zu bezeichnen (oder womöglich gar als Hunde – was können die denn dafür?) hat mir schon immer widerstrebt, genauso wie die Wahl von Metaphern mit der Farbe Schwarz. Zum einen sind solche Bilder schreckliche Klischees, zum anderen sehe ich bei Depressionen eher das Abhandenkommen als das Vorhandensein von etwas. Alles, was der Mühe wert ist, wird allmählich ausradiert, und es bleibt nur nackter Stein. Angst oder Kummer sorgen oft für ein Übermaß an Gefühlen. Eine Depression dagegen rupft die guten Gefühle aus, so dass die unguten Gefühle freies Spiel bekommen. Während sich Angst oder Kummer oft um die Dinge drehen, die der Mühe wert sind, zeigt die Depression, dass nichts mehr der Mühe wert ist. Eine Depression ist auch nicht schwarz oder gar pechschwarz. Dunkel vielleicht, dunkel wie die Nacht, wenn das Licht aus der Welt weicht, wodurch die Umgebung gefährlicher wirkt, du dich weniger gut orientieren kannst – es ist dann stiller als tagsüber, und alles noch Vorhandene ist weniger gut wahrzunehmen.32 Aber wenn Depression überhaupt eine Farbe hat, dann eher grau, und manchmal auch weiß. Weiß ist die Farbe der Stille, des klirrenden Frosts, des Ausgeschlossenseins, des Nichts, des Verlusts – die Mischung aller Farben ergibt offenbar das Fehlen. Weiß ist zwar auch die Farbe des Schnees, meiner Katze Putih und der Unendlichkeit, und die drei gehören für mich zum Schönsten, was ich kenne, doch für sich ist es kein Ort, an dem man wohnen kann, im Weiß gedeiht nichts.33
Die bei Krankheit gern benutzte Metaphorik des Kämpfens, auch im Zusammenhang mit Depression sehr beliebt, ist zu Recht schon häufig kritisiert worden. Sie insinuiert nämlich, die Verantwortung läge beim Kranken: Wenn es dir nicht besser geht, hast du wohl nicht hart genug gekämpft. Dabei hat man es, ob man nun Krebs hat oder eine Depression, meistens überhaupt nicht selbst in der Hand, ob man gesund wird oder nicht. Es kann sich zwar wie ein Kampf anfühlen, doch wie hart der geführt wird, hat längst nicht immer Einfluss darauf, wie er ausgeht. Du kannst dauernd in Therapie sein, Medikamente nehmen, alles tun, was gut für dich sein soll, und dennoch tief unglücklich bleiben. Es ist Zufall, wenn du depressiv wirst, und es ist auch oft Zufall, wie eine Depression verläuft, ob du wieder herauskommst und ob du ein weiteres Mal depressiv wirst. Es gibt Dinge, die du tun kannst, um dich gegen die Depression zu stemmen, wie ich in den folgenden Kapiteln erörtern werde, aber letztlich liegt es nicht allein bei dir.34
Metaphern sind natürlich nicht unnütz. Etwa wenn du dir vorstellst, du trügst ein Meer in deinem Leib. Bei jedem Schritt bewegt es sich, gerade so, dass du spürst, du bist aus Wasser. Du weißt, dass dieses Wasser gefährlich ist, dass Menschen darin ertrunken sind, dass du unter Wasser nicht leben kannst. Du weißt auch, dass du nun mal mit diesem Meer verbunden bist, dass du ihm nicht entkommst. Manchmal steigt der Wasserspiegel, manchmal sinkt er wieder, wie die Gezeiten, wenn auch nicht so regelmäßig. Bis er eines Tages steigt und steigt und steigt, und du langsam in Panik gerätst. Du kannst nicht davor weglaufen, denn es ist in dir drin. Niemand sieht es dir von außen an, obwohl du häufiger Tränen in den Augen hast als normal. Du legst dich besser hin und wartest ab, bis der Wasserspiegel sinkt und du dich wieder rühren kannst. Du legst dich besser nicht hin, denn womöglich ertrinkst du dann. (Und unterdessen steigt das Wasser, und du hältst schon seit einer Minute die Luft an.)
Oder nein, stell dir vor, du bist mal deinem eigenen Tod begegnet. Weil du sterben wolltest, weil du es herausgefordert hast. Niemand kann seinem Tod begegnen, ohne dass ihn das berührt, und so trägst du seither einen Schatten in dir, an deiner Körperinnenseite (wenn man dich durchschneiden würde, wäre er als dünne schwarze Schicht sichtbar). Von außen kann niemand etwas sehen – deine Haut ist höchstens etwas fahler –, aber du kannst es spüren, vor allem wenn du müde oder bekümmert bist, und du weißt, dass sich das nie mehr ändert.
Oder stell dir vor, dass du durch einen Wald läufst. Du warst noch nicht oft dort und kennst dich nicht so genau aus, aber es ist ein schöner Tag, und du möchtest mal eine neue Route ausprobieren. Das müsste gehen, denn du hast eine ungefähre Vorstellung davon, wie die Wege abzweigen. Du biegst nach links und noch einmal nach links und nach rechts und würdest nun gern wieder den Heimweg antreten. Doch als du dich umdrehst, weißt du nicht mehr, von wo du gekommen bist. Es gibt keine Anknüpfungspunkte – du glaubst, einen bestimmten Baum wiederzuerkennen, bist kurz erleichtert, doch dann ist es doch nicht der Baum, den du meintest. Du beschleunigst deine Schritte, in einer Stunde wird es dunkel. Du hast hier keinen Mobilfunkempfang. Daraus lässt sich eine hübsche Geschichte machen, denkst du, um dich selbst zu beruhigen – bald sitzt du wieder gemütlich zu Hause. Es ist nicht kalt, du wirst nicht erfrieren, wenn du nicht beizeiten drinnen bist, man wird dich vermissen und nach dir suchen. Dennoch kriecht dir die Panik in Bauch und Beine. Der Raum um dich herum verändert sich, wird größer, du...
Erscheint lt. Verlag | 9.5.2022 |
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Übersetzer | Hanni Ehlers |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | De grenzen van mijn taal |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
Schlagworte | 2022 • Camus • Das Vogelhaus • die heilende Kraft der Sprache • eBooks • Foucault • Hunde • Katzen • Medizin • mit Depression leben • Neuerscheinung • Persönliche Erfahrung • Philosophie • Psychiatrie • Selbstwertgefühl • Suizid • Volkskrankheit • Wittgenstein |
ISBN-10 | 3-641-25097-8 / 3641250978 |
ISBN-13 | 978-3-641-25097-3 / 9783641250973 |
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