Bedrohte Bücher (eBook)
450 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76952-2 (ISBN)
Fragile Tontafeln aus Mesopotamien, kostbare Bände mittelalterlicher Gelehrsamkeit, grandiose Bibliotheken in Alexandria und Sarajevo - seit Wissen schriftlich fixiert wird, haben Menschen versucht, es unter ihre Kontrolle zu bringen. Ihre Heldinnen und Helden: Mönche und Hobbyarchäologen, Philanthropen und Freiheitskämpfer und vor allem Bibliothekare und Archivare, die sich dem Erhalt von Wissen verschrieben haben, nicht selten unter Einsatz ihres Lebens.
Richard Ovenden führt uns in fesselnd erzählten Schlüsselepisoden durch die dreitausendjährige Geschichte der Angriffe auf Bücher, Bibliotheken und Archive. Eine faszinierende Kulturgeschichte, die bis in unsere digitale Gegenwart und zu den neuartigen Gefahren, denen das Wissen der Welt heute ausgesetzt ist, reicht.
<p>Richard Ovenden, geboren 1964, studierte in Durham und London und hat einen Lehrstuhl am Balliol College der Universität Oxford inne. Er ist Mitglied der Londoner Gesellschaft für Altertumswissenschaftler, der Royal Society of Arts und der American Philosophical Society. Von 2009 bis 2013 war er Vorsitzender der Digital Preservation Coalition, seit 2014 steht er als 25. Bodley&#39;s Librarian einer der ältesten Bibliotheken Europas vor.</p>
1
Rissiger Ton unter den Hügeln
Der antike griechische General und Geschichtsschreiber Xenophon schildert in seinem berühmtesten Werk, der Anabasis, die dramatische Geschichte, wie er eine gestrandete Armee von zehntausend griechischen Söldnern aus Mesopotamien zurück nach Griechenland führte. Nach seiner Beschreibung zog das Heer mitten durch das Gebiet des heutigen Irak und machte am Tigrisufer Rast an einem Ort, den er Larisa nannte.1 Als er die Umgebung betrachtete, bemerkte er eine riesige verlassene Stadt mit hoch aufragender Stadtmauer. Von dort marschierten sie weiter zu einer anderen Stadt namens Mespila, von der Xenophon behauptet: »Meder hatten sie einst bewohnt.« Dort habe Medea, die Frau des Königs, Zuflucht gesucht, als die Perser das Reich belagerten. Der Perserkönig hatte die Stadt laut Xenophon nicht einnehmen können, aber »Zeus erschreckte die Einwohner mit Donner, und so kam sie zu Fall«.2
Austen Henry Layard zeichnet Skizzen in Nimrud.
Was Xenophon in dieser antiken Landschaft sah, waren die Überreste der Städte Nimrud (Larisa) und Ninive (Mespila), die Zentren des großen Assyrerreiches, die unter der Herrschaft des berühmt-berüchtigten und imposanten Königs Assurbanipal florierten. Nach Assurbanipals Tod wurde Ninive 612 v. Chr. von einer Allianz aus Babyloniern, Medern und Skythen zerstört. Xenophon verwechselt die Assyrer (die diese Stadt bewohnt hatten) mit den Medern (die sie erobert hatten) und die Meder mit den Persern, der östlichen Großmacht seiner Zeit.3
Ich finde die Vorstellung erstaunlich, dass Xenophon diese großartigen Erdhügel vor über zweitausend Jahren betrachtete, dass die Ruinen bereits viele Jahrhunderte alt waren, als er sie sah, und dass die Ereignisse, durch die diese Städte zerstört wurden, selbst für diesen großen Historiker bereits im Dunkeln lagen. Die Griechen verstanden sich als die Pioniere der Bibliotheken, und zu der Zeit, als Xenophon schrieb, besaß die griechische Welt eine lebendige Buchkultur, in der Bibliotheken eine wesentliche Rolle spielten. Xenophon hätte sicher begeistert reagiert, wenn er von der wunderbaren Bibliothek erfahren hätte, die tief unter der Erdoberfläche erhalten geblieben ist und eines Tages die Geschichte ihres antiken Gründers Assurbanipal erzählen sollte.
Allerdings dauerte es noch weitere zweitausendzweihundert Jahre, bis Assurbanipals große Bibliothek entdeckt wurde und die umfassende Geschichte dieses Reiches (und seiner Vorgänger und Nachbarn) anhand archäologischer Funde an vielen seither erkundeten assyrischen Grabungsstätten, vor allem aber anhand der dort gefundenen Dokumente entschlüsselt werden konnte.
In der langen Menschheitsgeschichte erscheint die Schrift als eine derart junge Technik, dass die Mutmaßung verlockend erscheint, die ältesten Zivilisationen hätten Wissen in erster Linie mündlich weitergegeben. Diese Kulturen aus der Region um die heutigen Staaten Türkei, Syrien, Irak und Iran hinterließen große, imposante Überreste – Bauwerke und Gegenstände, die oberirdisch und bei archäologischen Grabungen gefunden wurden –, aber sie hinterließen auch Dokumente, die eindeutig belegen, dass bereits in den Jahrhunderten vor der ägyptischen, mykenischen, persischen und schließlich griechischen und römischen Kultur neben mündlichen Überlieferungen auch Schriftzeugnisse existierten. Sie offenbaren sehr viel über diese Kulturen. Die Assyrer und ihre benachbarten Völker besaßen eine hoch entwickelte Dokumentationskultur und haben uns ein reiches geistiges Erbe hinterlassen.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten rivalisierende europäische Großmächte erhebliches Interesse an den Gebieten, die Xenophon um die Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert v. Chr. beschrieben hatte. Dieses Interesse trug dazu bei, die Wissenskultur wiederzuentdecken, die diese Zivilisationen entwickelt hatten, und dabei nicht nur einige der ältesten Bibliotheken und Archive der Erde, sondern auch Belege für uralte Angriffe auf das Wissen zu finden.
Die britische Präsenz in dieser Region war ursprünglich den Aktivitäten der East India Company zu verdanken, jener Triebkraft imperialer Expansion, die Handel mit dem Einsatz militärischer und diplomatischer Macht verknüpfte. Einer ihrer hochrangigen Angestellten in der Region war Claudius James Rich, ein talentierter Kenner orientalischer Sprachen und Antiquitäten, den seine Zeitgenossen für den mächtigsten Mann in Bagdad neben dem örtlichen osmanischen Herrscher, dem Pascha, hielten, »und es war sogar die Frage, ob der Pascha selbst nicht bisweilen sein Betragen mehr nach den Vorschlägen und dem Rathe von jenem, als nach den Wünschen seines eigenen Divans einrichtete«.4 Um seinen »unersättlichen Hunger, neue Länder zu sehen«,5 zu stillen, hatte Rich es sogar geschafft, verkleidet in die Große Moschee in Damaskus vorzudringen, was für einen westlichen Besucher damals schwierig gewesen sein dürfte.6 Rich unternahm ausgedehnte Reisen in dieser Region, studierte eingehend deren Geschichte und Altertümer und sammelte Manuskripte, die das British Museum nach seinem Tod erwarb. Erstmals besuchte Rich 1820/1821 Ninive und den großen Hügel Kujundschik (wie er im osmanischen Türkisch hieß), der sich im Zentrum der assyrischen Stadt befand. Während dieses Besuchs grub Rich eine Tafel mit Keilschrift aus, die aus Assurbanipals Palast erhalten geblieben war. Es war die erste von Zigtausenden solcher Tafeln, die man an dieser Stätte finden sollte.
Rich verkaufte seine Sammlung amateurhaft ausgegrabener Artefakte an das British Museum. Als die ersten Keilschrifttafeln in London eintrafen, lösten sie eine Welle fieberhaften Interesses an dieser Region und Spekulationen über etwaige Schätze aus, die dort im Boden verborgen liegen mochten. In London sah Julius Mohl, der Sekretär der französischen Société Asiatique, diese Sammlung und las Richs veröffentlichte Reiseberichte. Umgehend ermutigte er die französische Regierung, eine eigene Expedition nach Mesopotamien zu schicken, damit sie zum Ruhm der französischen Forschung mit den Briten mithalten könne. So wurde Paul-Émile Botta, ein französischer Gelehrter, als Konsul nach Mosul geschickt und mit ausreichenden Mitteln für eigene Grabungen ausgestattet, die 1842 begannen. Es waren die ersten ernstzunehmenden Ausgrabungen in der Region, und ihre Veröffentlichung in dem von Eugène Flandin prachtvoll illustrierten Buch Monument de Ninive, das 1849 in Paris erschien, machte sie in der europäischen Elite berühmt. Es ist nicht bekannt, wann und wo, aber irgendwann blätterte ein abenteuerlustiger junger Brite namens Austen Henry Layard dieses Werk mit wachsendem Staunen durch.
Layard wuchs in einer wohlhabenden Familie auf dem Kontinent auf und verbrachte seine Kindheit und Jugend in Italien, wo er eifrig las und sich besonders von den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht beeindrucken ließ.7 Er entwickelte eine Vorliebe für Altertümer, Kunst und Reisen, und sobald er alt genug war, bereiste er den Mittelmeerraum und das Osmanische Reich und besuchte schließlich das Land, das wir heute Irak nennen, zunächst in Begleitung eines älteren Engländers namens Edward Mitford, später allein. In Mosul traf er Botta, der ihm von seinen Entdeckungen im Hügel Kujundschik erzählte – möglicherweise sah Layard dort auch ein Exemplar von Monument de Ninive.8 Begeistert begann Layard mit Grabungen und setzte dazu in der Hochphase bis zu hundertdreißig einheimische Arbeitskräfte ein. Obwohl die wissenschaftliche Archäologie damals noch in den Kinderschuhen steckte, war seine Arbeit erstaunlich professionell und produktiv. Anfangs wurde sie privat von Stratford Canning, dem britischen Botschafter in Konstantinopel finanziert, da die Ausgrabungen im Rahmen der Rivalitäten zwischen Frankreich und Großbritannien stattfanden. Knapp sechs Jahre lang beaufsichtigte und unterstützte Hormuzd Rassam, ein chaldäischer Christ aus Mosul und Bruder des britischen Vizekonsuls, die Arbeiter aus den örtlichen Stämmen. Layard und er wurden gute Freunde und Kollegen. Ab 1846 diente Rassam Layard als Sekretär und Zahlmeister, brachte sich aber auch intellektuell in das Unternehmen ein. Sein Anteil an diesen sensationellen Ausgrabungen hat weniger Beachtung gefunden,...
Erscheint lt. Verlag | 10.10.2021 |
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Übersetzer | Ulrike Bischoff |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
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ISBN-10 | 3-518-76952-9 / 3518769529 |
ISBN-13 | 978-3-518-76952-2 / 9783518769522 |
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