Wüstungsforschung in Deutschland -  Eike Henning Michl

Wüstungsforschung in Deutschland (eBook)

Eine Einführung
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2021 | 1. Auflage
162 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7543-6928-9 (ISBN)
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Verschwundene Dörfer, untergegangene Siedlungen, verlassene Orte - in der Krisenzeit des Spätmittelalters entstanden zahllose Wüstungen. Ganze 40 000 sollen es allein im deutschsprachigen Raum gewesen sein! Historiker, Geografen und Archäologen versuchen seit dem 19. Jahrhundert, das Rätsel dieser massiven Veränderungen in der Kulturlandschaft zu lösen. Damit Sie den spannenden Sachverhalt auf einen Blick überschauen, fasst die neue wissenschaftlich fundierte Einführung zur Wüstungsforschung in Deutschland ihre Geschichte, Begriffe und Arbeitsmethoden kompakt zusammen. Neben der praktischen Sammlung einer umfangreichen Literaturliste für vertiefende Recherchen geht es in diesem Fachbuch schließlich auch um eines: die Antwort auf jene brennende Frage, warum es im Spätmittelalter überhaupt so viele Wüstungen gab.

Dr. Eike Henning Michl ist Archäologe, Denkmalpfleger, Kulturlandschaftsforscher - und fasziniert von mittelalterlichen Wüstungen. Eigene Ausgrabungen als Wissenschaftler der Universität Bamberg führten ihn in ein verschwundenes Dorf des Dreißigjährigen Krieges und weckten seine Neugier auf das Thema. Deshalb schrieb er nach zwei dicken Fachbüchern nun etwas Handlicheres: diese übersichtliche Einführung in die deutsche Wüstungsforschung. Wenn sich Eike Henning Michl nicht mit aufgegebenen Siedlungen, der Vereinfachung seiner akademischen Texte oder der Suche nach einem entspannten Platz am Wasser beschäftigt, arbeitet er als Wissenschaftlicher Direktor bei der Kulturstiftung Sachsen-Anhalt.

KAPITEL 1


Wüstungsbegriff und
Wüstungsforschung – Basiswissen


Zu Beginn direkt die lange Kurzdefinition in einem Satz. Am besten zweimal lesen: Der Terminus „Wüstung“ gilt heute in den historisch-geografischen und mittlerweile auch archäologischen Wissenschaften weitgehend übereinstimmend als engere Bezeichnung für den Verband oder Teile von ländlichen Siedlungen samt den dazugehörigen parzellierten Wirtschafts- und Agrarflächen (Fluren), die in ihrer räumlichen Komponente wiederum jeweils partiell oder vollständig sowie in ihrer zeitlichen Komponente übergangsweise oder permanent in der Vergangenheit aufgegeben worden sein konnten.17

Man konzentriert(e) sich bei dieser Begrifflichkeit chronologisch und mit Bezug auf das „heute noch fortbestehende Siedlungsgefüge“18 auf zwei mittlerweile in der Forschung wegen ihres Ausmaßes als „klassisch“ etablierte „Wüstungsperioden“. Nämlich die des hohen Mittelalters auf der einen (hier 11.–13. Jh.) und die des späten Mittelalters (insbesondere 14./15. Jh.) mit Nachwirkungen bis in die frühe Neuzeit auf der anderen Seite.19 Deren signifikant voneinander abweichende Ursachen und Prozesse sollen hier aber vorerst ausgeklammert und später im Text erläutert werden.

Grundsätzlich diskutierte die primär geografische Forschung schon früh, recht lange und teilweise sehr heftig über einen „erweiterten Wüstungsbegriff“. Dieser wollte einerseits andere raumgliedernde Elemente einer Kulturlandschaft wie beispielsweise industrielle und gewerbliche Anlagen („Industriewüstung“/“Gewerbestättenwüstung“20) oder abgegangene sowie degenerierte Städte („Stadtwüstungen“21) miteinbeziehen, andererseits den „klassischen“ Wüstungsbegriff mit Bezug auf das Mittelalter auch auf andere Zeiträume, unter anderem die Frühgeschichte oder die Neuzeit, ausdehnen.22

Bei diesen Voraussetzungen würden Wüstungen dann im Grunde fast alle überkommenen Relikte und Elemente früherer Kulturlandschaften darstellen23. Diese Sichtweise veranlasste etwa Martin Born (1933–1978), einen sehr einflussreichen Wüstungsforscher aus den Reihen der Historischen Geografie, dazu, bereits den Substanzverlust der parzellierten Kulturlandschaft als „charakteristisches Merkmal“ bzw. ausschlaggebend für eine Definition als „Wüstung“ anzusehen24.

Dies ist aber nur ein exemplarisches Beispiel für die zeitweilig hitzige, manchmal überaus detailversessene und letztlich bis heute nicht befriedigend abgeschlossene Debatte über die zeitlichen und sachlichen Feinheiten des Wüstungsbegriffs, auf die ich später noch einmal differenzierter eingehe.

Aktuelle Einteilung


Konsens herrscht mittlerweile zumindest über die Rahmenbedingungen der Einteilung in a) Ortswüstungen (= verlassene Wohnstätten), b) Flurwüstungen (= aufgegebene oder degenerierte, parzellierte Wirtschafts- bzw. Agrarflächen existenter oder verschwundener Siedlungen) und c) Wüstungsfluren (= aufgelassene oder weiterhin genutzte Wirtschaftsflächen abgegangener Siedlungen).

Und so wichtig, dass ich es noch einmal wiederholen muss: All diese einzelnen Elemente – also die Orte und Fluren – können in ihrer a) räumlichen Komponente partiell oder total und in ihrer b) chronologischen Komponente permanent oder zeitlich befristet (hier dann zuweilen sogar in „temporär“ oder „interimistisch“ unterschieden25) aufgegeben worden respektive wüst gefallen sein (Abb. 2–6). Ich komme darauf zurück.

Verkompliziert wird dieser Sachverhalt aber dadurch, dass Orts- und Flurwüstungen zeitlich und kausal zwar oft, aber eben nicht immer miteinander verknüpft sind, da ihr Wüstfallen in der Regel auf anderen Ursachen beruht.26 So kennzeichnet eine Flurwüstung praktisch nur die Aufgabe der Landwirtschaft und einen meistens überhaupt nicht nachweisbaren Übergang – im Regelfall eine Extensivierung – zu einer neuen bzw. anderen Nutzungsform (Weideland, Wiese, Wald o. ä.).27

Es gibt ein weiteres Hindernis der statischen Einteilung und der historischen Greifbarkeit von Wüstungen und Wüstungsprozessen. Nämlich, dass diese „negativen“ Regressions- – hier im Sinne von siedlungsbezogenen Rückentwicklungs-, „Schrumpfungs-“ oder Rückbildungsvorgängen (vom lateinischen Verb „regredi“ = zurückgehen) – ebenso wie die oft damit in Verbindung stehenden „positiven“, „expansiven“ oder „progressiven“ Siedlungsvorgänge mit Ausnahme von plötzlichen Zerstörungen immer längere, episodische und dynamische Prozesse mit verschiedenen Abstufungen bzw. Entwicklungsphasen darstellen. Das führt dazu, dass selbst die damaligen Zeitgenossen – obwohl unmittelbar betroffen – diese vielfach schleichenden Vorgänge in den seltensten Fällen signifikant spürten.

Der Begriff


Deswegen ist auch der Terminus „Wüstung“ an sich, welcher aus dem in spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Quellen verwendeten althochdeutschen Begriff „wuosti“ bzw. dem mittelhochdeutschen Wort „wüeste“28 (auch: „wustunge“, „wustenunge“, „wüst“ oder lateinisch dann „villa/area desolata/deserta“) entlehnt wurde,29 in seinem heutigen Sinne ein völlig modernes Konstrukt30.

Damals konnte er letztlich mit zwei verschiedenen Bedeutungen belegt sein: „Einmal bezeichnet er das gänzlich unkultivierte Land, das noch niemals von Kultivierungsmaßnahmen des Menschen betroffen wurde; zum anderen bedeutet er das aus der Kultivierung entlassene, das aufgegebene ehemalige Kulturland“31.

Während die Konnotation des ursprünglichen Begriffs zwar einerseits zwischen Wildnis bzw. Naturlandschaft auf der einen und der Kulturlandschaft auf der anderen Seite unterscheiden konnte, war das wirtschaftsrelevante Charakteristikum viel häufiger und deutlich wichtiger. Es bezog sich aber seltener auf die Wohnplätze der Menschen, sondern normalerweise auf die Fluren, also „den Grund und Boden“32. Heißt, dass man die Ländereien nicht mehr in vollem Umfang bzw. nur noch partiell oder auch anders nutzte und diese somit keine vollen Erträge mehr einbrachten.33

Eine Wüstung war in der schriftlichen Überlieferung des Spätmittelalters also erst einmal primär das ungenutzte oder einer Extensivierung unterzogene Wirtschaftsland, verbunden mit der Auflösung ehemaliger Besitzstrukturen und dem Wegfall oder der Änderung von Rechts- und/oder Steuerverhältnissen, sprich im Sinne der „grundherrschaftlichen Qualität“34 zu verstehen.

Dabei lassen sich in der Regel anhand einer Quellennennung kaum Rückschlüsse auf den baulichen oder „kulturlandschaftlichen“ Zustand der Wüstung ziehen, welcher per heutiger Definition hingegen eines der Kernmerkmale ist. Ergo brauchte „ein wüstes Haus […] somit nicht verfallen zu sein, ein zerfallenes oder zerstörtes Haus war nicht in jedem Fall wüst“35.

Zusätzlich spielten die Wohnstätten selbst erwähntermaßen ohnehin eine sehr untergeordnete Rolle in der Rechtsdokumentation, da es ja in erster Linie die Fluren waren, welche die wirtschaftlichen Einkünfte generierten. So erkannte bereits der Geograf Kurt Scharlau (1906–1964) im Jahr 1933, dass „in diesen Wüstungsvorgängen und -schicksalen der Feldfluren […] im geographischen Sinne das eigentliche physiognomische Moment dieser Epoche [Anm. d. Verf.: des Mittelalters] zu sehen [ist]“36.

Einer Mehrdeutigkeit und unvollkommenen Präzision des zeitgenössischen mittelalterlich-frühneuzeitlichen Wüstungsbegriffs ohne qualitative und quantitative Angaben oder gar der Ursachennennung von Wüstungsprozessen steht heute aber eine ausgefeilte, trotz jahrzehntelanger Diskussion weiterhin nicht zufriedenstellend abgeschlossene Terminologie der überwiegend historisch-geografischen Forschung gegenüber.

Regression und Expansion


Wüstungen sind in der Regel Ausdruck des Zusammenspiels zweier grundlegender siedlungsräumlicher Entwicklungsmuster innerhalb einer Kulturlandschaft: Dabei handelt es sich um entweder a) Siedlungsregressionen, also den Vorgang der Schrumpfung/Entleerung/Komprimierung einer Siedlung oder eines Siedlungsbestandes, oder um b) Siedlungsexpansionen, sprich eine meist, aber nicht immer mit Wachstum verbundene Populationsausbreitung bzw. -verteilung.37

Längere Zeiträume mit dem gehäuften Auftreten von Wüstungsvorgängen und/oder Siedlungsgründungen wiederum, die es individuell grundsätzlich zu jeder Zeit gab und gibt, werden...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Archäologie
ISBN-10 3-7543-6928-8 / 3754369288
ISBN-13 978-3-7543-6928-9 / 9783754369289
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