Der Taucher von Paestum (eBook)
160 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11701-1 (ISBN)
Tonio Hölscher, geboren 1940, ist Professor em. für Klassische Archäologie an der Ruprecht- Karls-Universität Heidelberg. Von 2002 bis 2004 war er Forschungsprofessor am Deutschen Archäologischen Institut Rom. Zu den Schwerpunkten seiner Forschung gehören griechische und römische Staatsdenkmäler, griechische Mythenbilder und der antike Städtebau.
Tonio Hölscher, geboren 1940, ist Professor em. für Klassische Archäologie an der Ruprecht- Karls-Universität Heidelberg. Von 2002 bis 2004 war er Forschungsprofessor am Deutschen Archäologischen Institut Rom. Zu den Schwerpunkten seiner Forschung gehören griechische und römische Staatsdenkmäler, griechische Mythenbilder und der antike Städtebau.
1.
Grab, Stadt und Lebenskultur: Herausforderungen eines sensationellen Fundes
Die italienischen Archäologen, die in den 1960er Jahren unter der weitsichtigen Leitung des Soprintendenten Mario Napoli die Nekropolen der antiken Stadt Paestum, griechisch Poseidonia, ausgruben, stießen am 3. Juni 1968 zu ihrer großen Überraschung auf ein Grab, das dieser berühmten historischen Stätte einen völlig neuen Glanzpunkt aufsetzte (Abb. 1–6). Der kistenartige Innenraum, in der Grundfläche 1,93 m × 0,96 m und in der Höhe 0,79 m messend, war an den Seitenwänden und an der waagerechten Decke mit einzigartigen Malereien von hohem künstlerischen Rang geschmückt. Wände und Decke waren je aus einzelnen massiven Platten aus Kalkstein gebildet, die so sorgfältig verfugt und mit einer feinen Putzschicht überzogen worden waren, dass die Farben sich darauf in stupender Frische erhalten hatten.
An den vier Wänden spielt sich ein Symposion auf sechs Gelagebetten (Klinen) ab, auf denen zumeist Paare von erwachsenen und jugendlichen Männern lagern. Die Altersstufen sind fein differenziert: Reife Männer mit vollem Bart und Schnurrbart, jüngere mit Schläfen- und Kinnbart, Epheben ohne Bart, in immer wieder anderen Konstellationen. In der Mitte der nördlichen Längswand schleudert der jüngere aus seiner Trinkschale mit einer eleganten Bewegung die letzten Tropfen Weins auf ein imaginäres Ziel, in dem beliebten Spiel des Kottabos, in dem um die Gunst eines Geliebten gespielt wurde. Sein Gefährte dagegen blickt gebannt auf die beiden Nachbarn, die die Schalen auf dem Tisch abgestellt haben und schon weiter in dem erotischen Spiel begriffen sind: Der jüngere greift noch in die Seiten der Leier, während der ältere seinen Kopf zu sich zieht und beide sich einander zum Kuss zuwenden, der ältere mit gierigem Blick, der jüngere mit einer Bewegung der Hand in der ihm gebotenen Zurückhaltung. Auf der Gegenseite sind die Partner in der Mitte noch in verhaltener Form einander zugewandt. Rechts dagegen spielt der jüngere die Doppel-Flöte (Aulos) in einer Weise, die seinen Partner wie verzückt in die Höhe blicken lässt, die Hand auf den Kopf gelegt, den Mund singend geöffnet. Jeweils auf einer dritten Kline lagert ein einzelner älterer Mann: Der eine streckt seine Schale wie zum Willkommen aus, der andere hat seine Leier demonstrativ ausgestreckt, hält in der anderen Hand ein Ei, offenbar ein Liebesgeschenk, und wendet den Kopf neugierig in dieselbe Richtung. In Gesichtern und Gesten wird ein weites Spektrum von emotionalen Facetten entfaltet.
Abb. 1–4: Männer beim Symposion. Tomba del Tuffatore, Paestum. Um 480 v. Chr.
Auf einer Schmalseite der Grabkammer treten zwei weitere Teilnehmer auf, ein schöner Jugendlicher, bartlos, den nackten Körper mit einem auffallenden blauen Schärpentuch in Szene gesetzt, die Hand zum Gruß erhoben, gefolgt von einem erwachsenen bärtigen Mann mit Manteltuch und Stock; vorweg eine noch sehr junge Aulos-Spielerin. Man hat gezweifelt, ob sie ankommen oder aufbrechen, aber im Kontext der übrigen Szenen kann kaum ein Zweifel sein: An der Wand hinter ihnen nimmt niemand von einem Aufbruch Notiz, während an der Wand vor ihnen der einzelne Zecher sie mit vorgestreckter Trinkschale begrüßt, in freudigem Bezug auf den Grußgestus des vorderen jungen Mannes. Die beiden neuen Gäste werden offensichtlich an dem Gelage teilnehmen, und man geht kaum fehl in der Annahme, dass sie sich zu den noch partnerlosen erwachsenen Männern legen werden. Das Mädchen wird wohl die musikalische Unterhaltung übernehmen, wenn die Männer beim Gelage weiter fortgeschritten sind: Der Aulos mit seinem schrillen Klang in der Art einer Oboe wurde, im Gegensatz zu den gemäßigten Saiteninstrumenten Kithara und Lyra, bei den Symposien zur Erzeugung einer betörenden und stimulierenden Atmosphäre eingesetzt. Auf der Schmalseite gegenüber aber steht auf einem Tisch der metallene Krater, als Quelle und Ursprung der sympotischen und erotischen Vitalität. Dazu ein aktionsbereiter Ephebe, als einziger ganz nackt, der den Wein an die Symposiasten ausgibt. Wenn man schon in einem Grab liegen muss, ist ein schöneres Ambiente kaum denkbar.
Abb. 5/5a: Ephebe beim Kopfsprung ins Meer. Tomba del Tuffatore, Paestum. Um 480 v. Chr.
Die Sensation aber war, und ist bis heute, die Deckplatte des Grabes, die an der Unterseite ein Thema trägt, das sofort alle Blicke auf sich zieht: der »Taucher«, nach dem das Grab den Namen »Tomba del Tuffatore« erhalten hat. Wir blicken auf eine Naturlandschaft von äußerst sparsamer Zartheit. Ein Gewässer mit leicht gewellter Oberfläche. Am Ufer ein turmartiger Bau von nicht leicht zu erklärender Form, jedenfalls aber mit einer vorkragenden Deckplatte. Von dort hat ein junger Mann im Kopfsprung abgesetzt, den nackten Körper in hoher Eleganz gespannt, mit eingezogenem Kreuz, knackigem Hintern, weit gestreckten Armen und Beinen. Aus der biegsamen Kontur tritt nur das kleine Glied heraus, wie man es in der Antike schätzte; und vor allem der Kopf, mit dem ersten Backenbart, der aufgereckt dem Eintauchen entgegenblickt. Einzigartig ist die Kleinheit des Springers in dem weiten freien Bildfeld. Nur zwei filigrane Bäume, einer am jenseitigen Ufer, der andere am rückwärtigen Bildrand wachsend, breiten ihre Zweige wie in erotischem Verlangen nach dem schönen Epheben aus. Es ist ein Bild der weiten freien Natur, selbst der Bildrand biegt sich organisch zu den Ecken um, an denen pflanzenartige Voluten und Palmetten in die Szene hineinwachsen.
Sehr rasch wurde der »Taucher« zum zugkräftigen Symbol von Paestum. Er fehlt in keiner Geschichte der griechischen Kunst. Der französische Filmregisseur und Publizist Claude Lanzmann hat ihn in seinem Essay-Band »La tombe du divin plongeur« zur Leitfigur seines Lebens gemacht, das er als eine Folge von Kopfsprüngen ins Ungewisse sieht. Die deutsche Ausgabe hat unter dem Titel »Das Grab des göttlichen Tauchers« den Nachdruck auf das Untertauchen gelegt, das eigentlich nicht dargestellt ist, aber weitere bedeutungsvolle Assoziationen weckt.
Abb. 6: Tomba del Tuffatore, Paestum, Ansicht der Grabkammer. Um 480 v. Chr.
Gewiss hatte es dem antiken Paestum auch vor dieser Entdeckung nicht an historischem Glanz gefehlt. Griechische Siedler aus Sybaris, der Stadt des legendären Luxus im Süden der italienischen Halbinsel, hatten kurz vor 600 v. Chr. eine Tochterstadt an der weiten Küste südlich der Halbinsel von Sorrent, nahe bei der Mündung des Flusses Sele, gegründet, die sie nach Poseidon, dem Gott des Meeres, Poseidonia benannten. Die ungemein fruchtbare Ebene um die Stadt, die bis heute die Büffelherden für die beste Mozzarella Italiens nährt, wurde bald zur Grundlage eines steigenden Reichtums; dieser manifestiert sich in einer weiträumigen Stadtanlage mit rechtwinklig geplantem Netz von Straßen und einem großzügig angelegten Zentrum mit weiter Agora und monumentalen Heiligtümern. Drei prachtvolle Tempel in selten guter Erhaltung zeugten durch die Jahrhunderte von der Blütezeit der Stadt im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. Europäische Bildungsreisende des 18. und 19. Jahrhunderts, soweit sie sich, wie etwa Goethe, über die gepflegten und beschützten Ziele von Rom, Neapel und Pompeji hinaus in den Süden Italiens wagten, erlebten die griechischen Tempel von Paestum, meist die einzigen erreichbaren Zeugnisse der griechischen Kultur, als eine fremde, aber gleichwohl höchst eindrucksvolle Welt. Wer sich etwas weiter umsah und nicht nur an der großen architektonischen Kunst der Tempel interessiert war, konnte auch die am besten erhaltene Stadtmauer der vorrömischen Antike bestaunen, die aus einer späteren Epoche stammte: eine immense Befestigung aus Kalkquadern, errichtet in der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr., als die Stadt weitgehend unter den Einfluss einheimischer Lukaner gekommen war, deren Vordringen an die Küsten zu weitreichenden kriegerischen Unruhen führte – bis 273 v. Chr. die Römer dort eine Bürger-Kolonie mit dem neuen Namen Paestum gründeten.
Neue Entdeckungen des 20. Jahrhunderts verstärkten den Glanz von Paestum als Ort großer Kunst noch einmal beträchtlich. Nördlich der Stadt, an der Mündung des Sele-Flusses, wurde ein Heiligtum der Göttin Hera ausgegraben, in dem offenbar vor allem die weibliche Jugend sich außerhalb des städtischen Raumes zu Ritualen der Initiation zusammenfand. Zwei große Kultbauten des 6. Jahrhunderts v. Chr. waren mit großen Serien von Reliefplatten (Metopen) geschmückt: Die eine, in kräftig-derben Stilformen, enthielt die bei weitem größte Zahl von Bildern griechischer Mythen, die von einem...
Erscheint lt. Verlag | 18.9.2021 |
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Zusatzinfo | mit ca. 42 farbigen Abbildungen |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Vor- und Frühgeschichte / Antike |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Vor- und Frühgeschichte | |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Altertum / Antike | |
Schlagworte | Antike • Antikes Griechenland • Archäologie • Architektur • Bestattungsriten • Erwachsenwerden • Geschichtswissenschaft • Grabmalerei • Jugend • Jugendlichkeit • Klassische Zeit • Kulte • Kunst • Lebenskonzepte • Malerei • Männlichkeit • Meer • Nacktheit • Paestum • Poseidonia • Symposion • Taucher von Paestum |
ISBN-10 | 3-608-11701-6 / 3608117016 |
ISBN-13 | 978-3-608-11701-1 / 9783608117011 |
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