Im Geiste des Vertrauens (eBook)
1000 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76973-7 (ISBN)
Vierzig Jahre lang hat der Philosoph Robert Brandom an seiner lang erwarteten und bahnbrechenden Neuinterpretation von Hegels Phänomenologie des Geistes gearbeitet. Indem er analytische, kontinentale und historische Traditionen verbindet, zeigt er, welche Herausforderung Hegels philosophisches Denken selbst heute noch darstellt. Im Geiste des Vertrauens handelt von der massiven historischen Veränderung im Leben der Menschheit, welche die Moderne darstellt.
In der Antike wurden Urteile darüber, was sein sollte, als objektive Tatsachen angesehen, während die moderne Welt sie als durch subjektive Einstellungen bestimmt betrachtet. Hegel vertritt eine Sichtweise, die beides miteinander verbindet, Brandom bezeichnet sie als »objektiven Idealismus«: Es gibt eine objektive Realität, aber wir können ihr keinen Sinn abgewinnen, ohne zuerst zu verstehen, wie wir über sie denken. Wir werden erst dann zu Akteuren, wenn wir von anderen Akteuren als solche wahrgenommen werden. Das bedeutet, dass Verpflichtung, Verantwortung und Autorität durch soziale Praktiken der gegenseitigen Anerkennung erzeugt werden. Wenn unsere selbstbewussten anerkennenden Haltungen die radikale Form von Großmut und Vertrauen annehmen, so Brandom, dann können wir die Moderne überwinden und in ein neues Zeitalter des Geistes eintreten.
<p>Robert B. Brandom ist Distinguished Professor of Philosophy an der University of Pittsburgh und Fellow sowohl der American Academy of Arts and Sciences als auch der British Academy.</p>
13Einleitung:
Eine pragmatisch-semantische Lektüre der Phänomenologie des Geistes
I. Das zentrale Thema: Der Inhalt und die Verwendung von Begriffen
Das vorliegende Buch ist eine rationale Rekonstruktion von Hegels Phänomenologie des Geistes. Es wird eine bestimmte Linie durch diesen detailreichen und umfassenden Bildungsroman der Moderne verfolgen und somit den Ausdruck und die Entwicklung einer Menge anscheinend disparater philosophischer Einsichten und Erneuerungen enthüllen, deren Verzweigungen Schritt für Schritt zu einem überzeugenden Gedankengang vereinigt werden. Dieses Narrativ, das ich rückblickend aus Hegels Narrativ herauslese, ist keineswegs das einzige, das man aus der verschachtelten und weitläufigen Darstellung mit Recht und Gewinn in Erinnerung rufen kann. In der Tat wird hier eine in vielerlei Hinsicht sehr selektive Lektüre präsentiert, da ich im Grunde nur an dem interessiert bin, was er zu einem gewissen Thema zu sagen hat. Ich bin der Meinung, dass dieses eine Thema zentral und bestimmend ist und dass wir, wenn wir uns darauf konzentrieren, eine hilfreiche Perspektive auf alle anderen Themen gewinnen werden. Die Intention, sich auf ein Thema zu beschränken, bringt jedoch die extensionale Folge mit sich, große Teile des Buches, die anderweitig sehr wichtig sind, nicht zu behandeln (wie beispielsweise die beobachtende Vernunft, das ganze Kapitel zur Religion sowie wichtige Teile des 14Kapitels zum Geist). Alles, was nicht direkt mit dem Explizitwerden der Erklärung im Zusammenhang steht, die meiner Lektüre zufolge den Kern von Hegels Unterfangen ausmacht, oder dieses Explizitwerden befördert, wird ohne große Rücksicht beiseitegelegt. (Am Ende des Buches wird sich zeigen, dass diese methodologische Entscheidung die charakteristische Form eines erinnernden Geständnisses hat. Als solches stellt sie auch eine vertrauensvolle Anerkennungsbitte dar, eine Bitte um Verzeihung. Möge der kompetente Leser durch das, was die vorliegende Lektüre tatsächlich erfolgreich enthüllt, expressiv ermutigt und zu Weiterem befähigt werden. Auch wenn eine solche Einsicht vermutlich noch weit von uns entfernt liegt.)
Der für die Lektüre bestimmende Gegenstand ist der »begriffliche Inhalt«; er dient gleichsam als Linse und Filter. Im Mittelpunkt von Hegels Denken (das seinen Anfang in der Metaphysik und Logik nimmt) steht eine radikal neue Vorstellung vom Begrifflichen. Dieser Vorstellung zufolge ist etwas begrifflich gehaltvoll, wenn es in den von Hegel so genannten Beziehungen »bestimmter Negation« und »Vermittlung« zu anderen solchen Dingen steht. Mit »bestimmter Negation« meint Hegel materiale Unvereinbarkeit bzw. aristotelische Gegensätze, also Ausschlussbeziehungen wie beispielsweise zwischen »rechteckig« und »kreisförmig« innerhalb der Eigenschaften der Planfiguren oder zwischen den Metallen »Kupfer« und »Aluminium«. Es ist unmöglich, dass ein Ding beide Eigenschaften gleichzeitig aufweist. Mit »Vermittlung« – angelehnt an die Inferenzen ermöglichende Rolle, die die Mittelbegriffe in aristotelischen Syllogismen spielen – meint Hegel konjunktivisch robuste Beziehungen materialer Folgerung, also Einschlussbeziehungen wie beispielsweise zwischen »dreieckig« zu »mehreckig« oder zwischen »Kupfer« und »elektrischer Leiter«. Wenn ein Ding die eine Eigenschaft aufweist, ist es notwendig, dass es die andere Eigenschaft aufweist.
Dieses Verständnis von begrifflichem Gehaltvollsein ist nicht15psychologisch, es hat also keinen wesentlichen Bezug zu psychologischen Akten des Begreifens oder Erfassens begrifflich gegliederter Elemente. Objektive Eigenschaften und Sachverhalte stehen in Unvereinbarkeits- und Folgerungsbeziehungen zueinander: Die Tatsache, dass die Münze aus reinem Kupfer besteht, ist unvereinbar damit, dass sie aus reinem Aluminium besteht, zudem folgt aus dieser Tatsache, dass sie ein elektrischer Leiter ist. Für Hegels Darstellung ist es entscheidend, dass auch Gedanken in solchen Beziehungen zueinander stehen: Der Gedanke, dass die Münze aus reinem Kupfer besteht, ist unvereinbar mit dem Gedanken, dass sie aus reinem Aluminium besteht, zudem folgt aus diesem Gedanken, dass sie ein elektrischer Leiter ist.
Die Art von Unvereinbarkeits- und Folgerungsbeziehungen, die zwischen objektiven Sachverhalten gelten, und die Art von Unvereinbarkeits- und Folgerungsbeziehungen, die zwischen subjektiven Denk- oder Urteilsakten gelten, unterscheiden sich. Es ist unmöglich, dass unvereinbare Sachverhalte bestehen bzw. dass ein Sachverhalt ohne seine notwendige Folgerung besteht. Es ist aber nicht unmöglich, unvereinbare Behauptungen aufzustellen bzw. einer notwendigen Folgerung aus einer bejahten Behauptung nicht zuzustimmen. Es ist lediglich unerlaubt, Behauptungen aufzustellen oder Urteile zu bejahen, die unvereinbare Inhalte haben, bzw. eine Behauptung zu bejahen, ohne ihren notwendigen Folgerungen zuzustimmen. Man sollte es bloß nicht tun.
Hegel zufolge sind der deontisch-normative, die Einstellungen erkennender Subjekte gliedernde Sinn von »unvereinbar« und »Folgerung« und der alethisch-modale, die objektiven Tatsachen gliedernde Sinn von »unvereinbar« und »Folgerung« zutiefst verwandt. Sie sind verschiedene Formen, die von ein und demselben begrifflichen Inhalt angenommen werden. Die Inhalte sind sowohl denkbare und beurteilbare Dinge als auch Tatsachen. (Frege sagt: »Eine Tatsache ist ein Gedanke, der wahr 16ist.«[1] Mit »Gedanke« meint Frege etwas Denkbares, und nicht einen Akt des Denkens.) Diese hylemorphistische Struktur von Form und Inhalt liegt Hegels expressiver Erklärung der Beziehungen zwischen subjektiven Gedanken und objektiven Sachverhalten in den diskursiven Praktiken des Erkennens und Tuns zugrunde. Diese Erklärung ist einem Begriffsrealismus verpflichtet, der die objektive Welt als etwas versteht, das immer schon in begrifflicher (und insofern denkbarer und verständlicher) Form ist, welche sich nicht der Tätigkeit eines denkenden Subjekts verdankt, jedoch für ein solches prinzipiell erkennbar ist. (Es muss zudem darauf hingewiesen werden, dass diese Form auch nichts der denkenden Tätigkeit irgendeines Supersubjekts namens »Geist« zu verdanken hat.) Dieser Begriffsrealismus ist ein wesentliches Grundelement von Hegels Idealismus.
Da ich das Thema des begrifflichen Inhalts als ein zentrales, richtungsweisendes Anliegen der Phänomenologie betrachte, bezeichne ich meine Lektüre als semantisch. Die Verwendung dieses Begriffs mag anachronistisch erscheinen, ist allerdings nicht ungeeignet oder ungenau. Er stellt den Ariadnefaden dar, auf den sich das vorliegende Buch verlässt, um einen Weg durch Hegels Labyrinth zu finden. Meinem Verständnis nach verfolgt Hegel einen pragmatischen Ansatz, um ein semantisches Verständnis von Inhalt zu erreichen. Im weitesten Sinne bedeutet dies, dass Akten, Einstellungen und sprachlichen Ausdrücken dadurch begrifflicher Inhalt verliehen wird, dass sie eine Rolle in den von den Subjekten vollzogenen Praktiken spielen. In diesem weitgehend funktionalistischen Bild wird Bedeutung in Bezug auf Verwendung verstanden. Darüber hinaus meint Hegel, dass es zwar begrifflich gehaltvolle, in gesetzmäßigen Beziehungen stehende Tatsachen über Gegenstände und Eigenschaften 17geben würde, auch wenn es keine denkenden Subjekte gäbe oder jemals gegeben hätte, dass wir aber diese begriffliche Struktur der objektiven Welt nur als Teil einer Darstellung verstehen können, die sich darauf bezieht, was wir tun, wenn wir die Welt als etwas betrachten oder behandeln, das aus solchen gesetzmäßig verwandten und bestimmten Tatsachen besteht. (Wir können also ohne diesen Bezug auf unser Tun nicht verstehen, was es heißt, zu sagen oder zu denken, dass die objektive Welt bestimmt ist – was Hegel zufolge nichts anderes bedeutet, als eine objektiv modale Struktur zu haben, die durch Unvereinbarkeits- und Folgerungsbeziehungen gegliedert wird.) Um den begrifflichen Inhalt objektiver Sachverhalte zu verstehen, müssen wir das...
Erscheint lt. Verlag | 12.9.2021 |
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Übersetzer | Sebastian Koth, Aaron Shoichet |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | A Spirit of Trust |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | A Spirit of Trust deutsch • Deutscher Idealismus • Hegelianismus • Philosophie |
ISBN-10 | 3-518-76973-1 / 3518769731 |
ISBN-13 | 978-3-518-76973-7 / 9783518769737 |
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