Musiktherapie bei AD(H)S (eBook)
392 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7534-1900-8 (ISBN)
Dr. phil. Ludger Kowal-Summek, JG.- 1956, Dipl.-Pädagoge, Dipl-Musikpädagoge, Musiktherapeut (DFS), psychologischer Betrater
2 Klärung der Begrifflichkeiten
Obwohl keine eindeutige Begriffsbestimmung des AD(H)S vorliegt, scheint Einigkeit darüber zu bestehen, was deren Kernsymptome ausmacht. Geht das überhaupt? Kann es sein, dass eine Störung nicht eindeutig zu definieren ist, aber deren Kernsymptome benannt werden können? In einer Ausgabe der Zeitschrift Gehirn & Geist (2011), die sich speziell mit der kindlichen Entwicklung auseinandersetzt, bezieht sich ein Beitrag auf AD(H)S, in dem auf die typischen Symptome von AD(H)S verwiesen, aber gleichzeitig betont wird, dass auch gesunde Kinder ähnliche Symptome aufweisen (können). Die Frage, die sich somit stellt, ist die, ob sich ein Symptom überhaupt eindeutig beschreiben und zuordnen lässt.
2.1 Verhalten, Verhaltensauffälligkeit und Verhaltensstörung
„Kinder und Jugendliche, die ihrer Umwelt Schwierigkeiten machen und mit sich selbst Schwierigkeiten haben, sind in der Vergangenheit mit den unterschiedlichsten Begriffen bezeichnet worden“ (Myschker/Stein 20147, 46; vgl. Hillenbrand 20084, 29).
In der gegenwärtigen Diskussion finden sich hautsächlich zwei Begriffe, mit denen diese Kinder und Jugendlichen bezeichnet werden: Verhaltensauffälligkeit und Verhaltensstörung. Wenn auch der Begriff der Verhaltensauffälligkeit der gebräuchlichere ist, so lässt er sich, zumindest aus der Sicht von Myschker/Stein (20147, 47), aus zweierlei Gründen kritisieren:
- Nicht alle Kinder und Jugendliche, die mit sich oder anderen Schwierigkeiten haben, werden in ihrem Verhalten auffällig und umgekehrt.
- Jeder Mensch ist hin und wieder in seinem Verhalten auffällig.
Für Myschker/Stein ist daher der in der Öffentlichkeit häufiger gebrauchte Begriff Verhaltensauffälligkeit „zu allgemein, mehrdeutig, wenig prägnant und unscharf“ (ebd.). Der Begriff Verhaltensstörung, der 1950 auf den ersten Weltkongress für Psychiatrie geprägt wurde, „hat im administrativen wie im wissenschaftlichen Bereich die größte Verbreitung gefunden“ (a. a. O., 48; vgl. Hillenbrand 20084, 31), wohl nicht auch zuletzt deshalb, weil er auch in der internationalen Literatur der gebräuchlichere ist.
Bienstein (2016, 359) spricht in diesem Zusammenhang von herausforderndem Verhalten. Welches Verhalten aber als solches bezeichnet wird, hängt von „individuellen Einstellungen und sozialen Bewertungen ab“ (ebd.), was sie mit Blick auf das Gewähren von Unterstützungsmaßnahmen als nicht unproblematisch sieht. Herausforderndes Verhalten meint nicht die sich Verhaltenden, sondern das professionelle Helfersystem, das sich zum Handeln herausgefordert sehen soll (vgl. a. a. O., 36).
Doch was genau ist unter dem Begriff Verhalten zu verstehen?
Verhalten „ist der Ausdruck inneren Erlebens, Denkens und Fühlens, also die Gesamtheit aller von außen beobachtbaren Äußerungen eines Menschen“ (Nollau 2015, 11).
Unter Verhalten „wird hier die Gesamtheit menschlicher Aktivitäten verstanden, die im Wechselspiel zwischen Organismus und Umwelt generiert werden und von einfachen Reaktionen auf Reize bis zu willentlichen, komplexen, umweltverändernden Handlungen reichen“ (Myschker/Stein 20147, 50).
Adaptives, angemessenes Verhalten ist demnach solches, das hinsichtlich der „Wahrnehmung, Verarbeitung, Einschätzung und Aktivierung“ (ebd.) und hinsichtlich der Situation, der Norm und dem Entwicklungsstand angemessen erscheint (vgl. Klöppel/Vliex 2004, 14). Maladaptives, unangemessenes Verhalten dagegen „basiert auf dysfunktionalen Rezeptionen, Emotionen und Kognitionen“ (Myschker/Stein 20147, 50) und erscheint mit Blick auf eine Situations- und Lebensbewältigung „unangemessen, unvorteilhaft und sozial unverträglich“ (ebd.).
Die interaktionistische Sicht betont besonders, dass maladaptives Verhalten als „Symptom oder Signal für eine dahinterstehende Störung eines Systems betrachtet“ (a. a. O., 50) werden sollte. Störungen sind demnach ein Hinweis darauf, dass das Gleichgewicht eines Systems gestört ist. Wichtig ist hierbei, dass diese Sichtweise erst einmal völlig frei von möglichen Schuldzuweisungen ist. Es müssen demnach verschiedene Erklärungsmöglichkeiten in Betracht gezogen werden.
Nollau (2015, 13) unterscheidet „drei Ebenen von Verhalten“:
- unbewusste Reaktionen des Organismus,
- gelernte und routinierte Verhaltensweisen,
- bewusste und gesteuerte Verhaltensweisen.
Diese Unterscheidung ist erst einmal völlig wertfrei, verdeutlicht aber, dass beobachtbares Verhalten individuell zu betrachten ist.
Was ist unter dem Begriff Verhaltensauffälligkeit zu verstehen? Eine Verhaltensauffälligkeit eines Kindes ist für mich erst mal ein Verhalten, das mir an einem Kind auffällt. Diese Feststellung ist erst einmal völlig wertfrei. Ein immer schweigsames Kind kann letztlich ebenso auffällig sein wie ein immer störendes Kind. Wie Bergsson/Luckfiel (1998, 7) schreiben, kann ein Verhalten, das mir auffällt, durchaus auch positiv sein. Ein Kind, das mir bisher durch einen gewissen Konzentrationsmangel auffällt, verhält sich heute wider Erwarten völlig konzentriert. Interessant ist dabei, dass das in der Regel nicht gemeint ist, sondern die negative Variante. Wir nehmen auffälliges Verhalten in erster Linie als Defizit wahr, „das es abzubauen gilt“ (ebd.). Das eben genannte Beispiel aber macht deutlich, dass die an einer Interaktion oder Kommunikation beteiligten Personen immer an der Bewertung eines Verhaltens mit beteiligt sind und somit auch Verhaltensänderungen mitbestimmen.
Spiekermann (2017, 49) zufolge, die hier den Begriff der Verhaltensbesonderheit benutzt, lassen sich diese Besonderheiten aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Die pädagogisch-psychologische Perspektive legt dabei „den Fokus auf das Unterrichtsgeschehen“ (ebd.), während die psychologisch-medizinische Richtung primär „problematische Verhaltensweisen des Einzelnen“ (ebd.) hervorhebt. D. h., mit entscheidend ist die Situation, die Interaktion in der sich ein solches Verhalten zeigt.
Zunächst muss auch hier berücksichtigt werden, dass sich nicht nur die Verhaltensprobleme von Kindern und Jugendlichen, sondern auch die Bewertungen einer zeitlichen Veränderung unterliegen (vgl. Trapmann/Rotthaus 201813, 7; Wenke/Schipek 2018, 14). Zudem muss berücksichtigt werden, dass die individuellen Betrachtungsweisen und Lösungsansätze oftmals auf unterschiedlichen anthropologischen Grundannahmen basieren (vgl. Ahrbeck 2018a, 32 ff; Wenke 2018; 20182). Drittens wird deutlich, dass der Begriff Verhaltensauffälligkeit von dem der Verhaltensstörung (s. u.) abzugrenzen ist (vgl. Theunissen 20166, 52).
Nach Fröhlich-Gildhoff (20142, 41) gibt es überhaupt „keine einheitliche Definition des Begriffs Verhaltensauffälligkeit“. Tatsache ist allerdings, „dass eine solche Auffälligkeit immer mit einer Abweichung des Verhaltens von einer Norm einhergeht“ (ebd.; vgl. Fröhlich-Gildhoff u. a. 2017, 12), wobei es sich um von außen gesetzte, in der Regel kulturelle und/oder gesellschaftliche Normen handelt.
Zur Bewertung eines Verhaltens als auffällig müssen immer mehrere Kriterien herangezogen werden. Fröhlich-Gildhoff (20142, 41) nennt hier folgende Kriterien:
- „Alter und Geschlecht,
- Dauer des Verhaltens,
- Art und Vielfalt der Symptome,
- Häufigkeit und Intensität der Symptome,
- Situationsabhängigkeit bzw.
- Reaktivität auf spezifische Lebensumstände“ (vgl. Nollau 2015, 16).
Sowohl für eine Verhaltensauffälligkeit als auch für die noch zu besprechende Verhaltensstörung gilt hinsichtlich einer möglichen Kategorisierung, dass es „immer einer umfassenden und sorgfältigen Beobachtung mit unterschiedlichen Methoden“ (Fröhlich-Gildhoff 20142, 42) bedarf. Der Begriff bzw. das Konzept Verhaltensauffälligkeit an sich „verstellt den Blick auf die komplexe Vielfalt des Verhaltens und seiner Ursachen und schreibt diese einseitig dem Kind […] zu“ (Fröhlich-Gildhoff u. a. 2017, 13). Letztlich plädieren die Autoren dafür, wegzugehen von einer auf das Individuum zentrierten Betrachtungsweise hin zu einer komplexeren systemischen (vgl. ebd.; Pfreundner 2015) wie folgende Grafik zeigt:
Abb. 3 (Fröhlich-Gildhoff u. a. 2017, 14)
Die Grafik zeigt deutlich, dass es nicht ausreicht, einen individuellen Fall losgelöst von systemischen Zusammenhängen, der individuellen Einstellung, der Institution, der Familie, zu sehen (vgl. a. a. O., 54 ff). Bauer (20192, 34) zufolge gilt es folgenden Sachverhalt zu beachten: „Wenn in einer Familie Kinder Verhaltensauffälligkeiten entwickeln, brauchen in erster Linie die Eltern Hilfestellungen.“ Nach Nollau (2015, 14) gibt es „keine objektiven Maßstäbe, um ein auffälliges Verhalten als Verhaltensauffälligkeit zu klassifizieren“. Bedeutsam sind nicht nur kulturelle und gesellschaftliche Normen, sondern auch die...
Erscheint lt. Verlag | 23.6.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
ISBN-10 | 3-7534-1900-1 / 3753419001 |
ISBN-13 | 978-3-7534-1900-8 / 9783753419008 |
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