Bildung braucht Persönlichkeit (eBook)
400 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11710-3 (ISBN)
Professor Dr. Dr. Gerhard Roth war promovierter Philosoph und Biologe und Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. Er war langjähriger Direktor dieses Instituts, Gründungsrektor des Hanse-Wissenschaftskollegs in Delmenhorst und Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes sowie Direktor des Roth-Instituts Bremen. Roth erhielt für seine ehrenamtliche Tätigkeit im Bildungsbereich das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse sowie den Verdienstorden des Landes Niedersachsen. Am 25. April 2023 ist Gerhard Roth im Alter von 80 Jahren verstorben. Er hat rund 220 Artikel im Bereich der Neurobiologie und Neurophilosophie geschrieben sowie 14 Bücher, darunter bei Klett-Cotta Bildung braucht Persönlichkeit, zusammen mit Nicole Strüber Wie das Gehirn die Seele macht sowie zuletzt zusammen mit Michael Koop Schule mit Köpfchen.
Professor Dr. Dr. Gerhard Roth war promovierter Philosoph und Biologe und Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. Er war langjähriger Direktor dieses Instituts, Gründungsrektor des Hanse-Wissenschaftskollegs in Delmenhorst und Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes sowie Direktor des Roth-Instituts Bremen. Roth erhielt für seine ehrenamtliche Tätigkeit im Bildungsbereich das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse sowie den Verdienstorden des Landes Niedersachsen. Am 25. April 2023 ist Gerhard Roth im Alter von 80 Jahren verstorben. Er hat rund 220 Artikel im Bereich der Neurobiologie und Neurophilosophie geschrieben sowie 14 Bücher, darunter bei Klett-Cotta Bildung braucht Persönlichkeit, zusammen mit Nicole Strüber Wie das Gehirn die Seele macht sowie zuletzt zusammen mit Michael Koop Schule mit Köpfchen.
Einleitung
Besser Lehren und Lernen – aber wie?
Klagen darüber, dass Schüler und Erwachsene in den bestehenden Bildungseinrichtungen zu wenig bzw. wenig Brauchbares lernen, existieren, seit es Hochkulturen gibt. Das hat sich auch in der Moderne nicht geändert, in der es Schulpflicht und eine systematische staatliche Lehrerausbildung gibt, in die die Gesellschaften sehr viel Geld investieren und die in der Pädagogik, Didaktik und Lehr- und Lernforschung als etablierte akademisch-wissenschaftliche Disziplinen betrieben wird. Nicht nur in Deutschland werden seit 100 Jahren regelmäßig Bildungskrisen ausgerufen, die entsprechende Schulreformbewegungen nach sich ziehen. Hierzu gehörten die Reformpädagogik an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und die berühmte Reichsschulkonferenz im Jahre 1920, dann die in den 1960er Jahren vom Philosophen und Pädagogen Georg Picht ausgerufene Bildungskatastrophe, die erneut viele Maßnahmen im gesamten Bildungssystem hervorrief und u.a. zur Einführung der Gesamtschulen führte, bis zum PISA-Schock vor rund zwanzig Jahren, als die internationalen Schulvergleichsstudien in den OECD-Ländern Deutschland ein sehr mäßiges Abschneiden bescheinigten. Daran hat sich seither nicht viel geändert, wenngleich zwischen den einzelnen Bundesländern starke Unterschiede bestehen. Seit einigen Jahren ist die Diskussion über eine massive Einführung digitaler Medien an den Schulen zu einem Dauerbrenner geworden, und durch den Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 wurde sie noch weiter angefacht.
Die Schuldigen sind jeweils schnell ausgemacht: die Kultusministerien, die Schulen, die Lehrer, die akademische Lehrerausbildung, die Schüler, der hohe Anteil an Migrantenkindern, die Lehrpläne, der exzessive Fernsehkonsum, der Zerfall der Familie, das Versagen der Eltern usw. Allerdings kann heutzutage kein Experte verlässlich erklären, welche dieser Faktoren am meisten zum angeblichen oder tatsächlichen Elend der Schule und zum Frust von Lehrenden und Lernenden beitragen und wo man entsprechend am dringendsten ansetzen müsste. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass auf vielen Gebieten sehr viele Reformmaßnahmen durchgeführt und ausprobiert werden, sich aber an den PISA-Ergebnissen Deutschlands im Vergleich zu anderen OECD-Ländern und zwischen den Bundesländern wenig geändert hat. Für einen kritischen Beobachter ist diese Situation typisch für ein Vorgehen, bei dem an zu vielen Punkten gleichzeitig angesetzt wird, nur ungenügend erprobte Mittel zum Einsatz kommen und mit zu wenig Geduld und unkoordiniert vorgegangen wird.
Die geringe Geduld ist dabei am ehesten verständlich, wenn man den großen Zeitdruck bedenkt, der auf den verantwortlichen Politikern und Beamten lastet. Die anderen Punkte sind schwerer zu durchschauen. Auffällig ist, dass die drei Institutionen, die für das Bildungssystem in unserer Gesellschaft verantwortlich sind, nicht oder nur sehr unwillig miteinander interagieren. Dazu gehören zum einen die Vertreter der staatlichen Bildungsbehörden. Diese sind von ehemaligen Lehrern durchsetzt, von denen zumindest einige nach eigenem Bekunden froh darüber sind, nicht in der Schule arbeiten zu müssen. Dieser Umstand hindert sie aber nicht daran, den Schulen eine bestimmte, meist parteipolitisch erwünschte Schulpraxis vorzuschreiben. Die zweite Gruppe wird gebildet von Professoren der Pädagogik und Didaktik, denen die Lehramtsstudenten ausgesetzt sind. Auch ich gehörte vor mehreren Jahrzehnten in meinem geisteswissenschaftlichen Studium zu diesen Lehramtsstudenten, und was wir damals im Bereich der Pädagogik gelernt haben, war für den Lehrberuf nutzlos und von unseren Professoren auch gar nicht als nützlich intendiert. Von führenden Pädagogen und Didaktikern wie Ewald Terhart wurde vor einigen Jahren bescheinigt, dass die akademische pädagogische Ausbildung für die spätere Praxis der Schul- und Weiterbildung weitgehend wertlos ist. Experten bescheinigen auch der empirischen Lehr- und Lernforschung eine ähnliche Abstinenz vom Schulalltag – es heißt, man konzentriere sich auf das von der Forschung am einfachsten Umsetzbare, und ich kann zumindest aus meiner eigenen Kenntnis des Schulalltags bestätigen, dass die Ergebnisse der Lehr- und Lernforschung in den Unterricht bis heute (2021) keinen großen Eingang gefunden haben.
Schließlich gibt es die große Gruppe der Lehrenden in den Schulen, die sich mehr oder weniger redlich abmühen, an der Misere etwas zu ändern. Ihre Situation ist wiederum besonders bemerkenswert. Zum einen kennen sie oft moderne pädagogisch-didaktische Konzepte nicht bzw. haben das, was sie davon in der Hochschule einmal erfahren haben, längst vergessen, zum anderen halten sie solche Konzepte hinsichtlich ihres Berufsalltags oft für wertlos, und diese Einschätzung schließt nicht nur die akademische Ausbildung ein, sondern häufig auch die Ausbildung an den staatlichen Ausbildungsstätten für Lehramtskandidaten (vgl. Terhart 2002; Becker 2006). Was aber am meisten beeindruckt, ist die Tatsache, dass alle Lehrer, mit denen ich in den vergangenen Jahren zu tun hatte, sich ihr Unterrichtskonzept individuell erarbeitet haben und überdies der festen Meinung sind, das sei gut so und ginge auch gar nicht anders. Das bedeutet: so viele Lehrer, so viele Unterrichtskonzepte! Dies verbindet sich mit der unter Lehrern noch immer verbreiteten Neigung, sich nicht in die Karten schauen zu lassen und mit anderen Lehrern keine Erfahrungen auszutauschen. Warum sollte man auch, wenn jeder Lehrer seine ganz individuellen Unterrichtsformen finden muss!
Über so viel Individualismus mag man erschrecken, man mag ihn auch als »gottgegeben« oder sogar als positiven Zustand ansehen. Wenn es gilt, dass »kein Schüler ist wie der andere«, dann gilt dies wohl auch für den Lehrer. Dieser hat durch Versuch und Irrtum oder eigenes Nachdenken »selbstorganisiert« herauszubekommen, wie optimales Lehren funktioniert, genauso wie konstruktivistische Lehr- und Lerntheoretiker dies behaupten (davon später mehr). Wenn dies zuträfe, dann könnte man sich jede systematische Lehrerausbildung und erst recht jede Pädagogik und Didaktik sparen. Gutes Unterrichten – so die Abwandlung einer Äußerung der Lernpsychologin Elsbeth Stern – wäre dann erlernbar, aber nicht lehrbar.
Obgleich ich einen solchen »pädagogischen Agnostizismus« nicht teile (sonst hätte ich das vorliegende Buch nicht geschrieben), ist die geschilderte Situation dennoch ernst zu nehmen. Bedenkenswert ist die Feststellung führender Experten wie Ewald Terhart (vgl. Terhart 2002) oder Hilbert Meyer (Meyer 2004) und vieler Lehrenden, dass die heute vorliegenden pädagogisch-didaktischen Konzepte wenig hilfreich für die Unterrichts- und Bildungspraxis sind. Dieses Manko kann zweierlei Ursachen haben. Zum einen mag es sein, dass sich Pädagogen und Didaktiker – wie viele Experten ihnen vorwerfen – zu sehr um das Konzeptuelle und Prinzipielle kümmern und nicht um die Praxis. Zum anderen kann es aber auch daran liegen, dass sie sich nicht genügend um Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften wie der Psychologie oder – neuerdings – der Neurobiologie kümmern, sondern »im eigenen Saft schmoren«.
Dies mag für einen beträchtlichen Teil der Pädagogen und Didaktiker gelten, die fernab von empirisch arbeitenden Disziplinen innerhalb philosophisch-soziologischer Denkweisen ihre Konzepte zu entwickeln versuchen. Für sie ist alles Empirisch-Experimentelle wertlos und ideologieverdächtig, man orientiert sich lieber an einer philosophischen Hermeneutik und/oder an sozialkritischen Utopien (vgl. Kapitel 11). Es hat jedoch in der modernen Geistesgeschichte immer wieder intensive Bemühungen gegeben, Einsichten der empirisch-experimentellen Disziplinen, namentlich der Psychologie, zu nutzen, die pädagogische Konzepte entwickelt hat.
Einer der einflussreichsten Pädagogen war in neuerer Zeit Johann Friedrich Herbart (1776–1841), der eine umfangreiche Lehr- und Lerntheorie entwickelte. Diese erlangte im 19. Jahrhundert und bis ins 20. Jahrhundert hinein als »Herbartianismus« eine weit über Deutschland hinausreichende Bedeutung, allerdings in einer aus heutiger Sicht stark verfälschten Form eines starren und autoritären Erziehungsstils. Herbarts eigene Anschauungen waren dagegen sehr liberal und klingen sogar heute noch fortschrittlich, wenn er fordert: »Machen, dass der Zögling sich selbst finde, als wählend das Gute, als verwerfend das Böse: Dies oder nichts ist Charakterbildung! Dies Erhebung...
Erscheint lt. Verlag | 21.8.2021 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Bildung • Billig • eBook • E-Book • Entwicklungsneurobiologie • günstig • Hirnforschung • Lernen • Lernfaktoren • Persönlichkeit • Psychologie des Lernens • Taschenbuch |
ISBN-10 | 3-608-11710-5 / 3608117105 |
ISBN-13 | 978-3-608-11710-3 / 9783608117103 |
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