Sinn und Sucht (eBook)
156 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7534-5597-6 (ISBN)
Maximilian Rankl, geb. 1955, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Er studierte Germanistik, Geschichte, Politologie und Baltologie, war Lehrbeauftragter an der Universität München und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter an Kulturinstituten der deutschen Vertriebenen, als Drehbuchautor fürs Fernsehen und als Taxifahrer. Derzeit ist er Dozent für Literatur an der Münchner Volkshochschule. Daneben befasst er sich seit vielen Jahren mit der Psychologie der Sucht. 2003 schloss er an der ALH Akademie Haan (heute Köln) ein Fernstudium in Psychologischer Beratung und Psychotherapie ab.
1 Einleitung
1.1 Das Leiden an der Sinnlosigkeit der Existenz
Durch so viel Formen geschritten
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?
Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewusst,
es gibt nur eines: ertrage
– ob Sinn, ob Sucht, ob Sage –
dein fernbestimmtes Du musst.
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
(Gottfried Benn)2
Da Sucht ein die Lebenstotalität des Abhängigen umgreifendes und bestimmendes Phänomen darstellt, erscheint es vielleicht nicht überflüssig, zu einer Annäherung an das Thema zunächst einmal einige grundsätzliche Überlegungen anzustellen.
Nicht selten hört man auf die Frage nach dem Grund des Trinkens die Antwort: „Weil alles so sinnlos ist.“ – Was aber ist der Sinn des Lebens? Diese „Kinderfrage“ nach dem „Wozu“, die Gottfried Benn in dem oben als Motto zitierten Gedicht mit der Vergänglichkeit assoziiert: „Was alles erblühte, verblich“ – hat nicht nur den Dichter Gottfried Benn sein Leben lang umgetrieben, es ist das existentielle Grundproblem des modernen, aus allen religiösen Bindungen und transzendenten Sinnangeboten herausgefallenen Menschen.
Kinderfrage? Vielleicht. So berichtet etwa Viktor Frankl in einer autobiographischen Schrift:
Mit vier Jahren muss es gewesen sein, dass ich eines Abends kurz vor dem Einschlafen aufschreckte und zwar von der Einsicht aufgerüttelt, eines Tages würde auch ich sterben müssen. Was mir aber eigentlich zu schaffen machte, war eigentlich […] nur eines: Die Frage, ob nicht die Vergänglichkeit des Lebens dessen Sinn zunichte macht.3
Viktor Frankl hat diese „Kinderfrage“ zur Grundlage seiner Existenzanalyse und darauf fußend seiner Methode der Logotherapie gemacht. Denn bevor man beim Leiden am sinnlosen Leben (so ein Buchtitel von Frankl4) überstürzt auf Depressionen tippt, plädiere ich mit Frankl dafür, diese Aussage erst einmal als existentielles Problem ernst zu nehmen und nicht sofort zu pathologisieren. Zwar hat bekanntlich schon Sigmund Freud einmal geschrieben:
Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja in objektiver Weise gar nicht; man hat nur eingestanden, dass man einen Vorrat von unbefriedigter Libido hat […] die zu Trauer und Depression führt.5
Der Mensch steht der Erkenntnis eines „in objektiver Weise gar nicht“ vorhandenen „Sinn[s] und Wert[s] des Lebens“ gegenüber – und das soll mit einem „Vorrat an unbefriedigter Libido“ erklärt werden? Hier, scheint es mir, stößt auch ein Freud an seine Grenzen. Viktor Frankl sagt meines Erachtens zurecht:
Das Leiden am „sinnlosen Leben“ […] muss […] keineswegs Ausdruck einer seelischen Krankheit, es kann vielmehr der Ausdruck geistiger Mündigkeit sein. Denn nach dem Sinn des Lebens zu fragen gehört zum Menschen. […] ja, mehr noch als das, er stellt die Existenz eines solchen Sinnes sogar in Frage. (Frankl 1981, 27)
Da der „Sinn und Wert des Lebens“ allein schon durch die Endlichkeit dieses Lebens in Frage gestellt wird, liefern nicht umsonst alle Religionen in der oder jener Form eine Vorstellung vom ewigen Leben nach dem Tode, die das Skandalon der Sterblichkeit wenigstens zu mildern, wenn nicht gar aufzuheben geeignet ist. Dabei ist es ja weniger die Sterblichkeit als solche, sondern vielmehr das Bewusstsein von der Sterblichkeit, an dem ein tiefer denkender und fühlender Mensch der Moderne verzweifeln kann. „Ohne […] Glauben an sein ewiges Leben können wir das Leben weder ertragen, noch ihm einen Sinn zusprechen,“6 heißt es klipp und klar bei Unamuno.
Nun liegt es nahe, dass solche „Sinnfindungsstörungen“ – sofern sie nicht tatsächlich in einer endogenen Depression begründet sind (vgl. Frankl 1981, 26) – neben anderen seelischen Erkrankungen auch die Neigung zu Drogen- und Alkoholabhängigkeit zur Folge haben können. Über Drogenabhängigkeit sagt Viktor Frankl: „Es ist also gar keine Frage, dass es in solchen Fällen von Sinnlosigkeitsgefühl zu einer Flucht in die Sucht gekommen war. Vom Alkoholismus gilt Analoges“ (Frankl 1981, 29).
Schon Jack London schildert in seinem autobiographischen Roman König Alkohol einen überbewussten Zustand – die, wie er es nennt „weiße Logik“, in der die Fähigkeit, im Alltagsleben einen Sinnzusammenhang zu finden, abhandengekommen ist:
Denk zum Beispiel an einen Karrengaul. In allen Wechselfällen seines Lebens muss er […] glauben, dass das Leben gut sei; dass die Plackerei im Geschirr gut sei; […]. Dieser Karrengaul ist wie alle Pferde, wie alle Tiere überhaupt, den Menschen einbegriffen, vom Leben verblendet, von seinen Sinnen umgarnt. […] Von allen Wesen aber hat der Mensch allein das furchtbare Privilegium der Vernunft erhalten. Das menschliche Hirn ist imstande, den berauschenden Schein der Dinge zu durchdringen und ihren überirdischen Zusammenhang ohne Rücksicht auf sich selbst und seine Träume zu erkennen. Das kann der Mensch, aber es ist nicht gut für ihn, wenn er es tut. (London [1913], 187f.)
„Die sogenannten Wahrheiten des Lebens sind nicht wahr. Sie sind Grundlügen, die dem Lebenden das Leben ermöglichen,“ (8) heißt es an anderer Stelle, und: „In diesem Zustand streift er die Schale von den gesundesten Illusionen des Lebens und betrachtet ernsthaft den eisernen Reif der Notwendigkeit, der um den Hals seiner Seele geschmiedet ist“ (11).
Tatsächlich wäre nun der Alkohol (wie andere Drogen auch) in hohem Maße geeignet, dieses Bewusstsein von der Sterblichkeit und Vergeblichkeit allen Tuns vorübergehend zu betäuben. Bei Jack London ist es merkwürdigerweise umgekehrt: „Denn es sind verhängnisvolle Wahrheiten im Alkohol verborgen. […] König Alkohol spricht die Wahrheit, aber seine Wahrheit ist nicht die alltägliche“ (London 1913], 184f.).
Und da kommt König Alkohol mit seinem Fluche, den er auf den herabruft, der Einbildungskraft besitzt, der das Leben liebt und leben will. König Alkohol schickt seine Weiße Logik, den silbernen Boten der Wahrheit jenseits der Wahrheit, den Widerpart des Lebens, grausam und öde wie ein sternenloser Raum, regungslos und eisig wie der absolute Nullpunkt, blendend durch die Kälte unentrinnbarer Folgerichtigkeit und unvergesslicher Tatsachen. (London [1913], 186)
Ich muss gestehen, so genau und gleichermaßen poetisch gelungen ich hier den Fluch des modernen Menschen in seiner Erkenntnis der Sinnlosigkeit der Existenz dargestellt finde, so fragwürdig will es mir erscheinen, wie Jack London hier die Situation geradezu umkehrt: Er schreibt die Verzweiflung an der Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit dem Alkohol zu, wo dieser doch in der Regel genau davon – wenn auch nur vorübergehend – befreit.
Wie dem auch sei: Er berührt hier sehr klar die schon von Friedrich Nietzsche ausgesprochene Erkenntnis, dass – um einigermaßen beruhigt leben zu können – der Mensch vergessen können muss:
Denkt euch das äußerste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besäße, der verurteilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinanderfließen und verliert sich in diesem Strome des Werdens […].7
Wie aber, wenn es Menschen gibt, denen dieses Vergessen, diese Kraft zur Illusion, abhandengekommen ist und nur durch die Zuführung chemischer Substanzen ermöglicht wird?
Es ist nicht genug, dass du einsiehst, in welcher Unwissenheit Mensch und Tier lebt: Du musst auch noch den Willen zur Unwissenheit haben und hinzulernen. Es ist dir nötig zu begreifen, dass ohne diese Art von Unwissenheit das Leben selber unmöglich wäre, dass sie eine Bedingung ist, unter welcher das Lebendige allein sich erhält und gedeiht: eine große, feste Glocke von Unwissenheit muss um dich stehen.8
Diese Aussagen Friedrich Nietzsches führen freilich in erkenntnistheoretischer Hinsicht auf ein viel weiteres philosophisches Terrain, als es hier in Frage steht. Andererseits stellt schon Nietzsche den Zusammenhang solcher Erkenntnisse mit einer gewissen Notwendigkeit des Rausches her, was er das „Dionysische“ nennt: Schopenhauer habe uns
das ungeheure Grauen geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnisformen der Erscheinung irre wird […].Wenn wir zu diesem Grauen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen […] emporsteigt, so tun wir einen Blick in das...
Erscheint lt. Verlag | 26.5.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
ISBN-10 | 3-7534-5597-0 / 3753455970 |
ISBN-13 | 978-3-7534-5597-6 / 9783753455976 |
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