Die griechische Kunst (eBook)

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2022 | 3. Auflage
127 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76850-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die griechische Kunst - Tonio Hölscher
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In ihrer Bildkunst vergegenwärtigten sich die alten Griechen Götter und Heroen, bedeutende Personen der Vergangenheit und der Gegenwart, öffentliche und private Szenen. Diese konzentrierte und anschauliche Darstellung führt durch die Bildwelten der Statuen und Reliefs, der Gemälde und Vasen und zeigt, in welchem Maße sie das politische, das private wie das religiöse Leben der griechischen Gesellschaft prägten.

Tonio Hölscher ist Professor em. für Klassische Archäologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.

I

Bildwerke und Lebenswelt


1. Leben mit Bildern


Die Welt der Griechen war voller Bilder. Wenn ein Besucher sich einer Stadt näherte, war die Straße z. T. über lange Strecken dicht von Gräbern mit großformatigen Bildnisstatuen und Reliefs der Verstorbenen gesäumt. Im umgebenden Territorium wie innerhalb der Stadtmauern traf er auf größere und kleinere Heiligtümer mit Kultbildern von Göttern und Heroen; die Tempel waren oft mit reichen Skulpturen in Relief geschmückt. Viele Heiligtümer bargen zahllose Bildwerke als Weihgeschenke: große Standbilder, z. T. vielfigurige Statuengruppen, Gemälde auf Holztafeln oder in Freskotechnik auf den Wänden der Gebäude, vor allem aber kleinformatige Votivfiguren aus Bronze oder Terrakotta, manchmal in die Tausende gehend. Auf der Agora standen die Bildnisstatuen früherer und gegenwärtiger Staatsmänner, aber auch Bilder von Göttern und Heroen mit politischer Bedeutung. Rathäuser und andere öffentliche Gebäude, Theater und Sportstätten waren mit Bildwerken ausgestattet. In den vornehmeren Wohnhäusern war eine Vielzahl von Gefäßen und Geräten für festliche Gelegenheiten in exuberanter Weise mit den verschiedensten Bildthemen geschmückt; später kamen dort Kleinplastiken, vereinzelt große Skulpturen, nicht zuletzt Wandgemälde hinzu. In größeren Städten wurden die Bildwerke auf öffentlichen Plätzen und in Heiligtümern zum Teil so zahlreich und dicht, dass Bewegung und Verkehr behindert wurden; dagegen gingen die Behörden bisweilen mit Regelungen und Säuberungen vor.

Die dichte Präsenz von Bildwerken in der Lebenswelt der Griechen ist aus heutiger Sicht nicht leicht zu verstehen. Zwar erleben wir gegenwärtig einen globalen Siegeszug der bildlichen Medien, doch die Unterschiede zur Antike sind groß. Heute sind die Bilder auf individuelle Wahrnehmung in der geschlossenen Sphäre des Bildschirms ausgerichtet, während die Bildwerke in der Antike weitgehend für die kollektive Wahrnehmung in öffentlichen Räumen angelegt waren; zudem sind die Bilder der modernen Medien meist flüchtig und vergänglich, die antiken Bildwerke hingegen waren für die Dauer bestimmt.

Bis in die Neuzeit waren Bildwerke in öffentlichen Räumen eine zentrale Aufgabe der Bildenden Kunst. Seit dem 19. Jh. aber geriet öffentliche Kunst zunehmend ins Abseits der allgemeinen Wertschätzung. Individualität, Kreativität und kritische Einstellung der Kunst schienen schwer mit den Forderungen von Politik und Öffentlichkeit vereinbar zu sein. «Denkmäler sind hohl», notiert Stanislaw Jerzy Lec. Die öffentliche Kunst der Antike erscheint aus dieser Perspektive eher fremd.

Heute nehmen wir «Kunstwerke» vor allem im Museum oder im Buch wahr, als Zeugnisse historischer Stile oder Kulturen. Das sind moderne Konstrukte: Kein antikes Bildwerk wurde geschaffen, um ein Schritt in der Stilgeschichte oder ein Element der Kulturgeschichte zu sein.

In der Antike waren die Bildwerke ein Teil der Lebenswelt. Dort waren sie nicht Gegenstand exklusiver ‹musealer› Betrachtung, sondern bildliche Elemente neben vielen anderen Elementen der kulturellen Welt, in der die antiken Gesellschaften ihr Leben einrichteten. In diesem Sinn stellt sich für die antiken Bildwerke nicht so sehr die Frage, in welchem Sinn der Künstler sie geschaffen und die Betrachter sie verstanden haben, sondern wie die Gemeinschaft mit ihnen lebte.

Die Welt der Bilder war die Welt der Menschen. Damit kommen drei Kategorien des gesellschaftlichen Lebens ins Spiel: Raum, Zeit und Handeln.

Soziale Räume. Die Bildwerke waren für die Lebensräume bestimmt. Cicero mokiert sich über die Bewohner der hinterwäldlerischen Stadt Alabanda in Kleinasien, sie hätten auf ihrer Agora Standbilder von athletischen Siegern, in ihren Sportstätten solche von Rechtsanwälten aufgestellt. Umgekehrt rühmt sich ein athenischer Patriot, in seiner Stadt ständen auf der Agora nur Bildnisse von Politikern, nicht von Athleten. Es gab also Standards, welche Bildwerke wo stehen sollten. In diesem Sinn konnten die wichtigen sozialen Räume zu Orten für spezifische Bildwerke werden: die Heiligtümer für Votivbilder, die Agora für politische Denkmäler, die Gymnasien für Standbilder der göttlichen Beschützer der Athleten, Hermes und Herakles, die Nekropolen für die Statuen und Reliefs der Verstorbenen, die Häuser für Leit‑, Wunsch- und Gegenbilder der Lebensführung. Die Bildwerke erhielten an den verschiedenen Orten ihre aktuelle Bedeutung und gaben umgekehrt den Orten einen spezifischen Sinn.

Soziale Zeiten. Die Bildwerke waren auf soziale Situationen ausgerichtet. Der Krieg der Griechen gegen die Perser wurde 472 v. Chr. von Aischylos beim Fest des Dionysos in der Tragödie «Die Perser» als ein Konflikt von hohem religiösen Ethos auf die Bühne gebracht. Zur selben Zeit waren bei den Symposien bemalte Gefäße in Gebrauch, auf denen die griechischen Siege gegen die orientalischen Feinde in krasser, z. T. obszöner Diffamierung dargestellt waren und zur Unterhaltung der Zecher dienten. Dagegen wurden einige Jahrzehnte später auf dem Fries des Tempels der Athena Nike dieselben Kämpfe als patriotische Ruhmestat gegen einen großen Gegner stilisiert. Götterfest, Trinkgelage und Heiligtum waren Situationen, in denen unterschiedliche Diskurse über die zentralen Themen der Gemeinschaft geführt wurden.

Soziales Handeln. Der Umgang der Menschen mit den Bildwerken vollzog sich teils in spontanen, teils in regelhaften Handlungen. Die Bildwerke wurden Gegenstand von sinnstiftenden Ritualen der Aufstellung, Pflege und kultischen Verehrung, von politischen und gesellschaftlichen Wertsetzungen, schließlich auch von affektiven Handlungen der Verehrung, Bewunderung und Liebe wie auch des Hasses. Die Bilderwelt war ein Teil der Lebenswelt.

Hier liegt das Ziel dieses Buches: die griechischen Bildwerke in den Räumen, Situationen und Handlungen der antiken Lebenswelt darzustellen.

2. Das Leben der Bilder


Was war ein Bild in dieser Kultur? Was leisteten die Bildwerke für die Gesellschaften Griechenlands?

Griechischen Bildwerken ist eine erstaunliche ‹objektive› Lebendigkeit eigen. Die Kultbilder der Götter in den Tempeln wurden in Prozessionen herumgetragen, an Flüssen gewaschen, danach gesalbt, mit Kleidern und Schmuck ausgestattet, als wären sie die Gottheit selbst. Man erzählte von Götterbildern, dass sie den Kopf bewegten, weinten oder Blut schwitzten und dadurch ihren Willen kundtaten oder die Zukunft zu erkennen gaben. Eine Statue der Athena kann mit geschwungener Lanze die Schlechten bedrohen und die Frommen schützen. Standbilder von Göttern und Heroen können von Krankheit heilen und Seuchen abwenden.

Ähnlich ‹lebendig› waren die Bilder von Menschen. Von einem gewissen Theagenes von Thasos wird berichtet, nach seinem Tod habe ein persönlicher Feind zur Rache an ihm seine bronzene Bildnisstatue auf der Agora ausgepeitscht – bis das Bildnis sich wehrte, auf ihn fiel und ihn erschlug. Seine Kinder klagten daraufhin das Standbild des Mordes an, bekamen Recht, und die Thasier warfen das Bildwerk zur Strafe ins Meer. Bald kam es zu einer Missernte, man fragte beim Orakel von Delphi an und bekam zur Antwort, die Stadt solle alle Exilierten zurückholen. Das tat man, aber die Missernte wiederholte sich. Auf eine zweite Anfrage hin sagte das Orakel, man habe Theagenes vergessen. Daraufhin fischten sie das Standbild aus dem Meer und stellten es wieder auf der Agora auf. Im Bild verehrten sie Theagenes noch jahrhundertelang mit Opfern, wofür er sich mit realen Wunderheilungen erkenntlich zeigte.

Gelegentlich wurden Bildwerke eigens hergestellt, um einen direkten Umgang mit den dargestellten Personen möglich zu machen. In Kyrene schrieb etwa ein Gesetz denjenigen, die einen Verbannten aus einer anderen Stadt aufnehmen wollten, vor, sie müssten sich mit den Verbannenden aussöhnen, indem sie Bilder von ihnen herstellten und sie mit Speisen und Getränken bewirteten.

All dies sind nicht Relikte prähistorischer Magie, sondern Vorstellungen und Praktiken aus Zeiten ausgeprägter Rationalität. Man war sich auch immer bewusst, dass die Bildwerke menschliche Artefakte waren. Ihr Material wird im gleichen Zug wie ihre Lebendigkeit hervorgehoben. So verkündet die Inschrift einer archaischen Grabstatue: «Dies ist das Grabmal der Phrasikleia», und zugleich: «Ich [d.h. die im Bild dargestellte Verstorbene] werde immer [unverheiratetes] Mädchen genannt werden». Künstliche Herstellung und Lebendigkeit stehen nicht im Widerspruch, sondern steigern...

Erscheint lt. Verlag 11.8.2022
Reihe/Serie Beck'sche Reihe
Beck'sche Reihe
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Kunstgeschichte / Kunststile
Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Geisteswissenschaften Archäologie
Geschichte Allgemeine Geschichte Altertum / Antike
Schlagworte Antike • Bildwelten • Gemälde • Geschichte • Gesellschaft • Griechenland • Griechische Kunst • Helden • Heroen • Keramik • Kultur • Kulturgeschichte • Kunst • Kunstgeschichte • Lebenswelt • Menschenbild • Mythen • Mythos • Politik • Reliefs • Statuen • Vasen
ISBN-10 3-406-76850-4 / 3406768504
ISBN-13 978-3-406-76850-7 / 9783406768507
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