Die Urzeit der Menschheit (eBook)
300 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7534-3188-8 (ISBN)
Der Naturwissenschaftler Carl Wilhelm Neumann war als Redakteur bei Reclams Universum nicht nur an der Übersetzung und Veröffentlichung von Büchern über geschichtliche, biologische und kulturelle Themen beteiligt, er schrieb auch eigene gemeinverständliche Werke, die meist hohe Auflagen erreichten.
Das Werden des Menschen
Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur, du fühlest dich fähig, Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang, nachzudenken. (Goethe)
Einleitung
Wie viele haben, Hand aufs Herz, in den hundert Jahren seit Goethes Tod dem „höchsten Gedanken" der Natur, der Schöpfung des Menschen, nachgesonnen? Wie viele sind in besinnlichen Stunden den Spuren der Wissenschaft gefolgt, die rückwärts in aschgraue Urzeiten führen, tief in die Kindheitstage der Menschheit? Ein winziger Hundertsatz jedenfalls, gemessen an all den vielen Millionen, die selbstbewusst sich Kulturmenschen nennen. Und doch gibt es nichts auf der weiten Erde, was den Kulturmenschen näher angeht als die Geschichte des eigenen Stammes, das Werden und Wachsen seines Geschlechts. Er war nicht seit Anbeginn seiner Tage der stolze Beherrscher der ganzen Natur, als den er sich heute mit Recht betrachtet, vielmehr ein schwer gehetztes Wesen, das sich sein armselig bisschen Leben tagtäglich neu erobern musste. Keine Naturkraft gehorchte ihm, und keine nachhaltig wirksame Wehr gegen kraftvoll gewappnete Mitbewerber aus der seine Heimat durchschweifenden Tierwelt verlieh ihm Stärke und Selbstsicherheit. Sogar die Landschaft, in der sein Schicksal ihn Hunderttausende von Jahren geduldig leben und ausharren hieß, stand ihm in Feindseligkeit gegenüber, denn diese Landschaft war die der Eiszeit. Wo sie nicht starrende Gletscher bedeckten, bot sie das Bild einer öden Steppe, wie wir sie aus Innerasien kennen.
Dennoch hat dieser schlichte Mensch sich schrittweise in beschwerlicher Arbeit aus seinem schlichten Urzustand weiter und weiter emporgerungen, weil unter seinem noch flachen Schädel ein hellerer Geistesfunke glomm, als selbst die höchsten Wirbeltiere bis dahin aufzuweisen hatten. Aus dem Feuerstein schlug er sich roh eine Waffe zurecht. Aber er schlug auch, als sich der grimme Kälteschrecken der Schnee- und Eiszeit vom Pol her heranwälzte, das erste Kulturflämmchen künstlichen Feuers daraus hervor und lernte damit eine Herdflamme entfachen. Und wie er die feindlichen Höhlenbären und Mammuts niedergerungen, so wurde er, nun er das Feuer besaß, auch zum Herrn jener furchtbaren Kälte, die neben ihm ganze Tiergeschlechter vertrieb oder völlig vernichtete.
Ein langer Weg noch von da herauf bis zum heutigen Menschen mit seiner Kultur. Ein langer Weg noch vom Pfahlbaudorf bis zur elektrisch beleuchteten Großstadt. Der Mensch jedoch hat ihn glücklich durchmessen dank seinem entwicklungsfähigen Hirn. Mit dieser fein organisierten Masse im Schädelinnern hat er die Welt erobert. Vom Pol zum Pol, vom schneegekrönten Gebirgsgrat bis hinab in die Meilentiefen des Ozeans ist sie ihm untertan. Schritt für Schritt hat seine höhere Intelligenz ihn vorwärtsgebracht auf der Siegesbahn seines Geschlechts.
Er kann nicht fliegen wie der Vogel, aber er segelt im Flugzeug oder im lenkbaren Luftschiff kaum weniger leicht und geschwind über Festland und Meer. Den halben Planeten überzieht er mit einem eisernen Schienennetz, und Dampf oder Elektrizität sich zunutze machend, durchsaust er mit rasender Schnelligkeit ganze Erdteile. Er hat keine Grabfüße wie der Maulwurf, aber er durchbricht, wenn er will, breite Gebirgsketten und sprengt Straßen gewaltsam durch härtesten Fels, weil er gelernt hat, die Naturkräfte zur Verrichtung brutaler Arbeit einzuspannen. Er kann nicht schwimmen wie ein Fisch, aber er baut sich gigantische Eisenkolosse, die ihn durch die brandenden Wogen der Weltmeere sicher hindurchtragen, und arbeitet als Taucher mit gleicher Ruhe und Sicherheit in der Tiefe des Wassers wie auf der Oberfläche. Seine Stimme ist schwach im Vergleich mit der Stimme des Löwen, deren Schall sich wie rollender Donner meilenweit über die Steppe fortpflanzt, allein er hat es zuwege gebracht, mit Hilfe kunstvoller Feingeräte sein winziges Sümmchen so kraftvoll zu machen, dass es über Länder und Meere tönt und sich zwei Menschen selbst dann noch verständigen können, wenn Tausende von Meilen sich zwischen sie schieben. Sein Auge ist schwächer als das eines Kondors, der aus schwindelnder Höhe ein Aas erspäht, aber was macht das für ihn, für den Menschen, der mit Röntgenstrahlen durch Bretter sieht, der mithilfe des Fernrohrs den Millionen von Meilen entfernt kreisenden Weltkörpern ihre Bahnen nachmisst oder mit Hilfe des Mikroskops in einem einzigen Wassertropfen einen ganzen Sternenhimmel winzigster Radiolarien schaut!
„Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweig ..."
Aber da kommt die Naturwissenschaft nun des Weges und sucht diesen gleichen Menschen von seiner Sonnenhöhe wieder herabzuziehen, indem sie ihm klarmacht, er sei doch im Grunde nur ein veredeltes Tier. War da die alte Schulbankweisheit, die den Menschen als „Schöpfungsmittelpunkt" auf den Thron setzte und ihn herrschen ließ über die ganze Natur, nicht seiner doch hundertmal würdiger?
Nun denn, das kommt auf die Auffassung an. Stelle dich mit deiner Schulbankweltanschauung auf den Gipfel des höchsten Berges, der mit den Wolkenbällen zu spielen scheint, recke dich auf in der ganzen Größe und schreie der Natur mit dem Aufgebot all deiner Lungenkraft ins Gesicht, dass du ihr Herr bist, dass sie für dich und zu deiner Freude „am Anfang" erschaffen worden: Du bleibst dennoch ein Zwerg bloß, ein lächerlich kleiner Zwerg gegen diese Natur, deren Backen dich umblasen können wie einen Grashalm. Und diese Natur verliert nicht einmal etwas, wenn du am Fuße des Berges tot mit zerschmetterten Gliedmaßen daliegst, denn du standst außerhalb der Natur. Losgerissen von ihr und von allem, was außer uns kreist und atmet im weiten All, sind wir ohne Bedeutung und ohne Sinn. Jeden Augenblick müssen wir fürchten, herausgeschleudert zu werden. Wenn wir wachsen wollen, Bedeutung gewinnen wollen, müssen wir Frieden schließen mit der Natur, eins werden mit ihr.
Die Wissenschaft lehrt uns, dass wir herausgeboren sind aus dieser Natur im langsamen Gang einer allmählichen Aufwärtsentwicklung. Und da die Entwicklung der Lebewelt keine Lücken kennt, sondern nur ein ewiges Ineinandergreifen, ein ewiges Anknüpfen an Früheres, ein ewiges Herauswachsen des Vollkommeneren, mehr Ausgestalteten und doch wieder in sich straffer Zusammengefassten, so ist auch in allem Verwandtschaft. Das Höhere war immer nur die Erfüllung des Ideals der nächst niedrigeren Entwicklungsstufe. Wenn wir ein Samenkorn in die Erde pflanzen, so wundern wir uns keinen Augenblick, wenn es aufgeht, zur Pflanze wird und zuletzt eine bunte, duftende Blüte entfaltet. Wir wissen, dass alles so kommen muss nach der Logik eines geheimen Naturgesetzes, dass in dem winzigen Samenkorn nicht allein Wurzel und Stängel und Blätter, dass auch die Blüte darin bereits vorgeahnt war. Und ähnlich so ist's mit dem mächtigen Baum der Entwicklung des Lebens als Ganzem, dessen Wurzeln im Erdreich entlegener Urwelttage verborgen stecken und dessen Wipfel der Mensch ist. Ähnlich, nicht ganz so, denn das Entwicklungsgesetz, das ans Kleinstem zum Menschen hinaufleitete, arbeitete nicht so direkt auf dieses Ziel los. Wie aber die Blüte im Samenkorn, so steckte der Mensch schon verkappt in all den tausend und abertausend entwicklungsgeschichtlichen Vorstufen seines eigenen Ich. Wer dem Werdegang der Natur und des Lebens nachspürt, der in Wahrheit nichts anderes, als die Geschichte des Menschen erforschen, die über Jahrmillionen zurückreicht und alles, was lebt, in sich einschließt.
Das törichte Selbstbewusstsein des einsamen Prahlers, der auf dem Gipfel des Berges sich Herr fühlt über alles, was existiert, wird so zum erhabenen Unendlichkeitsbewusstsein. Und in diesem göttlichen Unendlichkeitsbewusstsein, dessen nur er als der Gipfelspross aller Entwicklung sich erfreuen darf, hebt er die ganze Natur mit hinauf auf die ragende Höhe seines eigenen Selbst. Je prachtvoller die Blüte, desto bewundernswerter das unscheinbare Samenkorn, aus dem sie hervorwachsen konnte. Je wunderbarer und reifer der Mensch und seine Kultur, desto erhabener die außermenschliche Natur, die von Anbeginn her schon die Möglichkeit einer Menschwerdung in sich trug und über ungezählte missglückte Versuche hinweg zuletzt auch den Weg dazu fand.
Was aber, wird der Leser fragen, was gibt uns die sichere Bürgschaft dafür, dass das alles so war? Was gab der Naturwissenschaft das Recht, den Menschen in das Naturganze der organischen Welt einzuordnen und ihn mit dem gleichen Maßstab zu messen wie Pflanzen und Tiere? Womit stützte sie ihre Lehre vom „entwickelten" Menschen, die sie an die Stelle des ehrwürdig alten Dogmas vom „erschaffenen" setzte? Und vor allem: Welches waren die treibenden Kräfte, die die Natur immer „vollkommener" machten, die Tiere immer höher emporklimmen ließen auf der Stufenleiter des Lebens? Könnt ihr die Abstammung wirklich beweisen?
Ein glattes „Ja" kann die Antwort nicht sein, denn niemand war Zeuge, wie eine Art sich in die andere umwandelte. Vollzöge sich die Artenumbildung unter unseren...
Erscheint lt. Verlag | 6.4.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Archäologie |
ISBN-10 | 3-7534-3188-5 / 3753431885 |
ISBN-13 | 978-3-7534-3188-8 / 9783753431888 |
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