Der verlassene Zwilling (eBook)
224 Seiten
Kailash (Verlag)
978-3-641-26281-5 (ISBN)
Hochsensibilität, Einsamkeit und unspezifische Schuldgefühle: Wer diese Symptome verspürt, hat wahrscheinlich das Trauma eines vorgeburtlichen Geschwisterverlustes erlitten. In der Embryonen-Forschung geht man davon aus, dass 30 bis 60 Prozent aller Schwangerschaften zunächst als Mehrlingsschwangerschaften angelegt sind. Nicht alle tragen ein Trauma davon, doch für viele überlebende Zwillinge kann erst die Aufarbeitung dieses Verlustes und die Kontaktaufnahme zur verlorenen Geschwisterseele Heilung bringen. Inge Danke, Psychotherapeutin und selbst ein verlassener Zwilling, hat unzählige Betroffene begleitet. Anhand vieler Fallbeispiele beschreibt sie, welche Anzeichen für ein Trauma im Mutterleib sprechen und welche therapeutischen Wege zur Heilung führen.
Inge Danke, geboren 1952 in Jülich (Deutschland), ist Diplom-Sozialpädagogin, systemische Familien- und Trauma-Therapeutin (SE und NARM-Practitioner) sowie zertifizierte Trauerbegleiterin mit eigener Praxis im Hochwald (Schweiz). Einer ihrer Praxisschwerpunkte liegt im Heilen von frühen Entwicklungstraumata. Dank ihrer spirituellen und feinfühligen Wahrnehmung erreicht sie Menschen auf einer tiefen seelischen Ebene. Neben therapeutischen Einzelsitzungen leitet sie Seminare in den Bereichen systemische Familienaufstellungen, Persönlichkeitsentwicklung und Trauerbegleitung.
Kapitel 3
Wenn das Trauma sich meldet: Anzeichen für einen vorgeburtlichen Geschwisterverlust
Symptome bei Kindern
Frau A. kommt mit ihrem Sohn Michael zu mir in die Praxis. Michael ist in der Lage, Dinge und Situationen wahrzunehmen und zu benennen, zu denen die Eltern keinen Zugang hatten. Der Junge ist recht zart und wirkt zu Beginn etwas scheu. Doch das, was er spürt, kann er präzise beschreiben, allerdings mit auffallend leiser Stimme. Es ist, als würde er mir ein Geheimnis anvertrauen.
Immer wieder berichten Eltern mir in meiner Praxis, dass ihr Kind Dinge spürt, die sonst keiner in der Familie mitbekommt. Häufig leiden die Kinder unter ihrem besonderen Wahrnehmungsvermögen. Sie reagieren verunsichert, wissen oft nicht, ob sie eigentlich »normal« sind, ziehen sich in ihre eigene Welt zurück und haben nicht selten unsichtbare Freunde, die für sie zu unverzichtbaren Begleitern werden. Der kleine Sohn einer Freundin beispielsweise führte über Jahre Gespräche mit einem Freund, den wir nicht sehen konnten.
Vielfach berichten Eltern auch, dass ihr Kind außergewöhnlich unruhig sei. Eine medizinische Abklärung habe ein Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivität ergeben (ADHS), und ihr Kind solle zur Behandlung Ritalin einnehmen. Vielfach zögern die Eltern dann, und für mich ist sehr gut nachvollziehbar, dass sie zunächst nach nicht-medikamentösen Behandlungswegen suchen.
Die beschriebenen Auffälligkeiten sind für mich Anzeichen dafür, dass ein Kind möglicherweise einen vorgeburtlichen Geschwisterverlust erlitten hat. Nach meiner persönlichen Auffassung kommen auch Störungen aus dem Autismus-Spektrum als Anzeichen für einen solchen Verlust in Frage.
Auffallend ist, wie hochsensibel, ja hellsichtig diese Kinder sind. Aufgrund ihrer besonderen Gabe befindet sich ihr Nervensystem in einem Zustand ständiger Anspannung. Sie leben in einer permanenten Überforderung. Einen Ausweg aus ihrem Dilemma können sie allein nicht finden.
Kinder, die einen verlorenen Zwilli haben, leiden häufig unter quälender Angst sowie Verlassenheitsängsten, Schuldgefühlen und/oder ungezügelter Wut. Manche Kinder verletzen sich selbst, haben ein gestörtes Essverhalten, Schlaf- oder Schulprobleme.
Nach meiner Erfahrung ist es wichtig, diese sehr feinfühligen Kinder in ihrer Wahrnehmung ernst zu nehmen, sei es als Eltern, Großeltern, Lehrer oder Erzieherin. Wenn wir davon ausgehen, dass wir ab dem Zeitpunkt der Befruchtung auch eine Seele haben, liegt die Vermutung nahe, dass ein überlebender Zwilli bereits vor seiner Geburt eine enorme seelische Anstrengung durchlebt hat. Ist dies der Grund dafür, dass überlebende Mehrlinge häufig nicht richtig im Leben ankommen? Sind sie immer noch ein Stück weit mit ihrem vorgeburtlichen Erleben verhaftet?
Die Seele und die transzendente Dimension
Wenn ich von der Seele spreche, meine ich damit einen in uns ruhenden Ort des Denkens, Fühlens, Wahrnehmens. Die Seele ist die transzendente Instanz in uns. Unter Transzendenz verstehe ich einen Bereich der Wahrnehmung, der jenseits von dem liegt, was wir mit unseren Sinnen aufnehmen können. Im Zusammenhang des vorgeburtlichen Geschwisterverlusts sind damit auch die Begebenheiten gemeint, die sich unserem rationalen Verständnis entziehen. Der transzendente Aspekt spielt bei der Heilung des vorgeburtlichen Traumas eine zentrale Rolle.
Wenn Eltern professionelle Hilfe suchen, kann die innere Not der Kinder früh unterbrochen werden. Die Heilung von Körper, Geist und Seele der Kinder trägt zur Entspannung der gesamten familiären Situation bei. Im besten Fall können überlebende Zwillis bereits im frühen Kindesalter eine gesteigerte körperliche, geistige und seelische Widerstandskraft entwickeln. In späteren Kapiteln dieses Buches komme ich auf diverse Lösungswege zu sprechen. Als Vater oder Mutter kannst du sie nutzen, um die Weichen dafür zu stellen, dass dein Kind einen sicheren Ausweg aus seinem Zustand innerer Ausweglosigkeit findet.
Nachfolgend habe ich noch einmal die wichtigsten Symptome zusammengefasst, die darauf hindeuten können, dass ein Kind einen vorgeburtlichen Geschwisterverlust erlitten hat:
- Das Baby weint unentwegt, obwohl es ihm äußerlich betrachtet an nichts fehlt.
- Das Baby schläft wenig.
- Das Kind leidet an einer Aufmerksamkeits-Defizit-Störung (ADS).
- Das Kind ist hyperaktiv.
- Das Kind ist hochsensibel.
- Es braucht auch nach dem zehnten Lebensjahr noch viel Nestwärme der Eltern.
- Das Kind hat imaginäre Freunde, die ihm wichtige Lebensbegleiter sind.
- Ein Kuscheltier muss doppelt oder dreifach vorhanden sein.
- Das Kind kann ohne Vater oder Mutter nicht einschlafen.
- Das Kind hat Einschlaf- und Durchschlafprobleme.
- Es hat Angst vor Klassenfahrten, wenn diese mit Übernachtungen verbunden sind.
- Es hat Angst, nicht normal zu sein.
- Es sieht und hört Dinge, die für andere nicht wahrnehmbar sind.
- Es wirkt unsicher.
- Es verletzt sich selbst.
- Es leidet unter Nägelkauen.
- Es sieht verstorbene Personen.
Symptome bei Erwachsenen
Bei erwachsenen Menschen sind die Symptome eines erlittenen vorgeburtlichen Geschwisterverlusts vielfältiger als bei Kindern. Immerhin haben Erwachsene bereits eine lange Wegstrecke ihres Lebens ohne ihren Zwilli zurückgelegt. Ich benenne hier nur einige prägnante Kriterien, die mir im Praxisalltag immer wieder begegnen. Anmerken möchte ich jedoch, dass es sich dabei nicht um Merkmale handelt, die ausschließlich und zweifelsfrei auf einen vorgeburtlichen Geschwisterverlust hinweisen. Jeder Klient ist im gesamten Kontext seines Lebens, seines Verhaltens und seiner Äußerungen individuell zu betrachten. Bei jedem prägt sich das Thema des vorgeburtlichen Verlusts auf eine ganz persönliche Weise aus, und jeder braucht daher auch eine individualisierte therapeutische Herangehensweise.
Erwachsene Betroffene eines vorgeburtlichen Geschwisterverlusts
- haben häufig das Gefühl, nicht zu genügen,
- spüren eine tiefe Sehnsucht in sich oder fühlen sich von einer latenten Trauer begleitet,
- sind häufig »im Doppelpack« unterwegs, essen also zum Beispiel für zwei oder kaufen für zwei Personen ein,
- erleben ihre eigene Hochsensibilität als positiv wie negativ,
- können sich schlecht abgrenzen,
- nehmen ihren eigenen Körper kaum oder gar nicht wahr,
- spüren oft sehr genau, was in anderen vorgeht,
- leben mehr im Kopf als im Körper.
Der Tod eines geliebten Menschen kann diese Menschen in eine tiefe Lebenskrise stürzen. Die Trennung vom Partner, der Partnerin triggert in ihnen die vorgeburtlich erlebte Verlassenheitsangst. Ihre innere Unruhe und der Drang, immer aktiv sein zu müssen, können sie in ein Burnout, eine Lebenskrise, eine Depression führen. Meist leiden diese Menschen unter Schuldgefühlen. Sie suchen Nähe, doch wenn es ihnen »zu nah« wird, ziehen sie sich zurück. Vertrauen ist ein Fremdwort für sie. Meist fallen ihnen Entscheidungen schwer. Sich auf etwas Neues einzulassen erzeugt vielfach Unsicherheit. Sie wollen sich immer auf der sicheren Seite bewegen. Viele dieser Menschen lieben Extremsportarten, denn so können sie ihren Körper zumindest ein bisschen spüren.
Auch Autoaggressionen (also eine Tendenz zur Selbstverletzung) oder Autoimmunerkrankungen können ein Hinweis darauf sein, dass es sich bei dem Betroffenen um einen überlebenden Zwilli handelt. Sadistische und narzisstische Züge anderer Menschen spiegeln überlebenden Mehrlingen die innere Not wider, in der sie sich befinden. Ihre Seele kann in solchen Situationen aus der Balance geraten. Etwas in ihnen wird unbewusst wieder wachgerufen. Manche der Betroffenen meiden daraufhin den Kontakt zu denjenigen Personen, die solche Reaktionen in ihnen auslösen. Andere richten ihren Blick nach innen, um zu erforschen, was genau der andere in ihnen auslöst und warum das so ist.
Das In-sich-Hineinhorchen und -schauen wird mit der Chance des Heilwerdens belohnt. Ich freue mich immer wieder mit den Menschen, die während einer therapeutischen Sitzung eine sicht- und spürbare Veränderung durchlaufen und sich anschließend neu spüren können. In diesem Moment wird ihnen erstmals ein Perspektivwechsel möglich, der sich im weiteren Verlauf ihres Lebens als positive Wende darstellt.
Es ist mir wichtig festzuhalten, dass überlebende Mehrlinge, seien sie Kinder oder Erwachsene, keine »defizitären« Menschen sind. Im Gegenteil: Sie mussten früher als andere Überlebensstrategien entwickeln und tragen damit zumindest die Anlage zu beachtlichen Ressourcen in sich. Im Laufe ihres Lebens eignen überlebende Mehrlinge sich eine Reihe von Überlebensstrategien an, die ihnen dabei helfen, das Leben zu meistern. Meist funktionieren diese Strategien bis zu jenem Zeitpunkt, an dem sich körperliche Symptome einstellen und die Betroffenen ärztliche Hilfe suchen. Im Idealfall geben überlebende Mehrlinge sich nicht mit Medikamenten zufrieden, sondern stellen sich dem vorgeburtlichen Trauma und den damit verbundenen krankmachenden Bewältigungsmechanismen. Zu erkennen, welche dieser Mechanismen ausgedient haben und nicht mehr länger benötigt werden, stellt für viele Betroffene einen positiven Wendepunkt dar.
Körperliche Spuren des verlorenen Geschwisters
Mitunter habe ich...
Erscheint lt. Verlag | 25.10.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Abgeschnittenheit • eBooks • Einsamkeit • Entwicklungstrauma • Familienaufstellung • Hochsensibilität • Mehrlingsschwangerschaft • Motivation • Positives Denken • Rebirthing • Schuldgefühle • Selbstwert • ungeborener Zwilling • Verlusterfahrung in der Schwangerschaft |
ISBN-10 | 3-641-26281-X / 364126281X |
ISBN-13 | 978-3-641-26281-5 / 9783641262815 |
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