Allgemeine moderne Psychologie -  August Messer

Allgemeine moderne Psychologie (eBook)

Systematische Einführung in die Wissenschaft psychischer Prozesse
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2021 | 1. Auflage
648 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7534-4074-3 (ISBN)
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Man hat mit Recht drei Hauptwurzeln der Psychologie unterschieden: die praktische Menschenkenntnis, den religiösen Seelenglauben und die biologische Lebenserklärung. Psychologie als praktische Menschenkenntnis treiben wir alle tagtäglich, wenn wir instinktiv die Gefühle und Stimmungen, die Wünsche und Absichten unserer Mitmenschen erraten, wenn wir ihr Benehmen und Handeln aus ihren Motiven heraus deuten, wenn wir uns Vorstellungen von ihrer Begabung und ihrem Charakter bilden. Je nach Veranlagung, Lebensumständen und Schicksal bringen wir es sehr verschieden weit in dieser praktischen Menschenkenntnis. Weiter bringt man es, wenn man wissenschaftliche Einsichten der Psychologie für die Aufgaben des praktischen Lebens dienstbar macht und sich überhaupt in den Beziehungen zwischen der psychologischen Wissenschaft und der instinktiv-praktischen Seelenkenntnis auskennt. Hier hilft dieses Buch, indem es die grundlegenden Kenntnisse der allgemeinen modernen Psychologie systematisch und verständlich vermittelt.

Der deutsche Philosoph und Psychologe August Messer habilitierte sich an der Universität Gießen und bekam einen Lehrauftrag für experimentelle Psychologie und Pädagogik. Darüber hinaus engagierte er sich für die Erwachsenenbildung an Volkshochschulen auf Basis einer modernen Pädagogik. Unter seinen viel gelesenen Werken finden sich Einführungen in die Psychologie, Darstellungen zur Philosophiegeschichte, zur Erkenntnistheorie und zum kritischen Realismus.

 

 

 

 

Systematische Einführung in die
Wissenschaft psychischer Prozesse

 

1 Die Entwicklung der modernen Wissenschaft psychischer Prozesse


1.1 Praktische Menschenkenntnis


Man hat mit Recht drei Hauptwurzeln der Psychologie unterschieden: die praktische Menschenkenntnis, den religiösen Seelenglauben und die biologische Lebenserklärung.

Psychologie als praktische Menschenkenntnis treiben wir alle tagtäglich, wenn wir instinktiv die Gefühle und Stimmungen, die Wünsche und Absichten unserer Mitmenschen erraten, wenn wir ihr Benehmen und Handeln aus ihren Motiven heraus uns deuten, wenn wir uns Vorstellungen von ihrer Begabung und ihrem Charakter bilden. Diese Art Psychologie ist uns so notwendig wie der Umgang mit Menschen überhaupt. Je nach Veranlagung, Lebensumständen und Schicksal bringen wir es sehr verschieden weit in dieser praktischen Menschenkenntnis. Man kann ein Virtuose darin werden, ohne wissenschaftliche Psychologie zu studieren. Es wäre sonst auch schlimm bestellt um unsere Juristen und Offiziere, Ärzte und Seelsorger, Kaufleute und Industrielle, für die alle die Kunst, Menschen zu verstehen und zu behandeln, so wichtig ist, und die doch zumeist niemals Kenntnis nehmen von der wissenschaftlichen Psychologie. Dass aus dieser Wissenschaft für unsere praktische Menschenkenntnis Bereicherung, Vertiefung und Verfeinerung erwachse, ist sicher möglich. Aber die moderne wissenschaftlich-psychologische Literatur ist im Allgemeinen nicht dazu angetan, diese Möglichkeit auch zu verwirklichen. Erst in den letzten Jahren mehren sich die Anzeichen dafür, dass man bemüht ist, aus unserem Gebiet wissenschaftliche Einsicht den Aufgaben des praktischen Lebens dienstbar zu machen und überhaupt die Beziehungen zwischen der psychologischen Wissenschaft und der instinktiv-praktischen Seelenkenntnis wieder mehr zu pflegen. Die letztere braucht dabei durchaus nicht bloß der empfangende Teil zu sein. Ja, es ist unserer heutigen Fachpsychologie, die so sehr durchsetzt ist von naturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen und Methoden, ganz besonders zu empfehlen, sich in der Grundauffassung des seelischen Geschehens an der vorwissenschaftlichen Psychologie des praktischen Lebens wieder zu orientieren. Ein erheblicher Vorteil ist dabei, dass der einzelne Forscher zu diesem Behufs nicht auf seine eigene Menschenkenntnis allein angewiesen ist; denn die praktische und die ihr wesensverwandte künstlerische Seelenkunde haben in einer reichen Fülle literarischer Erzeugnisse Ausdruck gefunden. Eine über Jahrtausende hinreichende Entwicklungsreihe bietet sich uns hier dar. Mit den Sinnsprüchen der griechischen Spruchdichter (Gnomiker) des 7. und 6. Jahrhunderts v. Chr. hebt sie an und führt bereits im Altertum zu nachhaltig wirkenden Schöpfungen wie Theophrasts „Charakteren“ (3. Jahrhundert v. Chr.) und Galens Temperamentenlehre (2. Jahrhundert n. Chr.). Eine gewaltige Vertiefung und Verfeinerung der Selbstbeobachtung und Zergliederung und damit der Seelenkunde bringt das Christentum. Das beweisen Augustins „Confessionen“ (um 400) und die Mystiker des Mittelalters; nicht minder Schriften wie Ignatius von Loyolas „Anleitung zu geistlichen Übungen“ („Exercitia Spiritualia“ 1522) oder die Autobiografie der Frau de la Mothe Guyon (1720). Seit der Renaissance hatten sich auch in diesem Literaturzweig antike Überlieferungen wieder geltend gemacht, insbesondere Galens Temperamentenlehre, und dadurch bedingt eine stärkere Berücksichtigung der Wechselbeziehungen des Seelischen und Körperlichen, von denen die mittelalterlichen Christen lieber den Blick abgewandt hatten. Das zeigt sich besonders in des Spaniers Juan Huartes „Examen de ingenios“ (1575 erschienen), das kein Geringerer als Lessing ins Deutsche übersetzte (1752). Die Schrift sucht nachzuweisen, dass die seelische Eigentümlichkeit des Einzelnen in seiner körperlichen Beschaffenheit und Erscheinung mit gesetzmäßiger Genauigkeit sich darstelle. Heidnischer Geist atmet auch aus den Schriften eines Montaigne (Essais 1580) und Charron (de 1a sagesse 1601). Der christliche Einschlag überwiegt wieder in dem „Landorakel“ des spanischen Jesuiten Balthasar Gracian (1637), den Schopenhauer hoch schätzte und übersetzte, und in Pascals (gest. 1662) pessimistischer Menschenbeurteilung. Dagegen wird das Religiöse durch eine rein weltliche Betrachtungsweise ersetzt in La Chambres „Art de connaitre 1es hommes (1648; ins Deutsche übersetzt 1794 von C. C. E. Schmid) und in La Roche-foucaulds „Maximes morales“ (1665; deutsch 1852), die auch heute noch ihre Leser finden, weil sie treffend die menschliche Eigenliebe und Leidenschaftlichkeit charakterisieren. Ähnlich „modern“ gerichtete Vertreter praktischer Psychologie sind La Bruyère (gest. 1696), Vauvenargues (Introduction a 1a connaissance de 1'esprit humain, 1746, Deutsch von Hafferberg 1899), Chamfort (Pensées, maximes et anecdotes, 1803) und Beyle (Pseudonym: Stendhal, gest. 1842). Vor allem ist es Nietzsche gewesen, der bei uns in Deutschland das Interesse wieder auf diese Franzosen gelenkt hat, und er selbst reiht sich ihnen als praktischer Kenner und Schilderer der Menschenseele würdig an. Was aber insbesondere seinen Begriff des dekadent betrifft, so hat zur Veranschaulichung dieses Typus schon die vorausgehende literarische Entwicklung wertvolles Material beigebracht. Adam Bernds „Eigene Lebensbeschreibung“ (1738) enthüllt eine von Zwangsvorstellungen und Angstzuständen geplagte Seele. Gar manche pathologische Züge treten uns auch entgegen in Rousseaus „Confessions“, in Goethes „Bekenntnissen einer schönen Seele“ und in dem psychologischen Roman „Anton Reiser“ von Goethes Freund K. Ph. Moritz. Doch wir wollen nicht weiter Namen und Titel häufen: die Zahl der psychologisch feinen Lebensbilder, Autobiografien, Romane und anderer Dichtungen aus den letzten anderthalb Jahrhunderten ist außerordentlich groß. Es wäre aber durchaus verfehlt, wollte der Psychologe vom Fach diese ganze Literatur als „unwissenschaftlich“ zur Seite schieben. Wenn es für irgendeinen Zweig der Wissenschaft ratsam ist, sich mit der vor-wissenschaftlich-instinktiven Erkenntnis, der praktisch-künstlerischen Intuition des Lebens in enger Fühlung zu halten, so trifft dies ganz besonders für die Psychologie zu.

1.2 Religiöser Seelenglaube


Wir haben als die zweite Wurzel dieser Wissenschaft den religiösen Seelenglauben namhaft gemacht. Dieser ist uralt. Erscheinungen Verstorbener im Traum, „Entrückung“ der Seele bei den orgiastischen Kulten und sonstige ekstatische Zustände haben früh dazu geführt, in der Seele ein selbstständiges, vom Leibe trennbares, den Göttern verwandtes Wesen zu sehen. Im Zusammenhang damit steht auch der Glaube vieler primitiver Völker, dass die Seele zeitweilig oder dauernd in Tierkörper hinüberwandern könne; ferner die Lehre von der Präexistenz der Seele, von ihrer Einkerkerung in den Leib infolge eines Sündenfalles und von der Notwendigkeit ihrer Läuterung durch Askese und Buße, damit sie zu einer seligen Unsterblichkeit gelange. Hier ist endlich die Wurzel aller metaphysischen Lehren von der unsterblichen, Gott verwandten Seelensubstanz. In das griechische und damit in das abendländische Geistesleben ist besonders durch die Orphiker und Pythagoreer diese „Seelentheologie“ eingeströmt. Stark beeinflusst ist von ihr Platos Metaphysik. Diese hat aber durch die Vermittlung der Neuplatoniker auf die christliche Theologie und Philosophie gewirkt; und auch für die moderne Philosophie bestehen noch als ernsthafte Probleme die Fragen fort: Gibt es eine vom Leibe verschiedene „Seelensubstanz“? Und kommt der Seele Unsterblichkeit zu? Fast alle unsere großen Denker haben dazu in ihren Schriften Stellung genommen.

Die Metaphysik hat diese Fragen vielfach unabhängig von Erfahrung (d. h. a Apriori) zu lösen versucht. Man wollte aus dem „Begriff“ der Seele deren Substanzialität und Unvergänglichkeit zwingend ableiten, man übersah aber dabei, dass man diesen Begriff doch nur aus der Erfahrung haben konnte. Es ist aber durchaus verfehlt, einen solchen Begriff sozusagen als einen fertigen und für alle Zeit gültigen anzusehen; er muss durch Erweiterung und Vertiefung der Erfahrung bereichert und, wenn nötig, berichtigt werden; auch kann aus ihm nicht mehr abgeleitet werden, als wir aufgrund der Erfahrung in ihn hineingelegt haben.

In unseren positivistisch gerichteten wissenschaftlichen Kreisen herrscht auch heute noch vielfach eine förmliche Scheu vor aller „Metaphysik“. Man sieht darin von vornherein unwissenschaftliche fantastische Spekulation; man ist auch überzeugt, dass Kants Vernunftkritik die Unmöglichkeit der Metaphysik ein für alle Mal dargetan habe. Dabei übersieht man, dass Kants Kritik nur eine Apriori konstruierende Metaphysik trifft, die für ihre Ergebnisse die apodiktische Sicherheit mathematischer Erkenntnisse beansprucht. Nicht widerlegt wird durch sie eine auf die Erfahrungswissenschaften sich aufbauende Metaphysik, die deren Resultate zu einem umfassenden Weltbild zusammenzufassen und, wenn möglich, zu ergänzen sucht. Sie bedient sich keiner anderen Methoden als die empirischen Wissenschaften auch; sie wird ihren Sätzen keine größere Wahrscheinlichkeit zusprechen, als sie ihnen durch Gründe sichern kann, und sie wird bereit sein, den Fortschritten der Einzelwissenschaften stets Rechnung zu tragen.

Dass für die Beantwortung der uralten Menschheitsfragen nach Natur und Schicksal der Seele insbesondere die Ergebnisse der empirischen Psychologie, Physiologie und überhaupt der Biologie in Betracht kommen, bedarf keines besonderen...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie
ISBN-10 3-7534-4074-4 / 3753440744
ISBN-13 978-3-7534-4074-3 / 9783753440743
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