Die Heilung der Welt (eBook)
400 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11643-4 (ISBN)
Ronald D. Gerste, geboren 1957, ist Arzt, Historiker und Amerikakenner und lebt als Buchautor und Wissenschaftskorrespondent in Washington, D.C. Er schreibt u. a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitun g, Neue Zürcher Zeitung und Die Zeit . Bei Klett-Cotta erschienen u. a. »Wie Krankheiten Geschichte machen«, »Wie das Wetter Geschichte macht« und »Die Heilung der Welt«.
Ronald D. Gerste, geboren 1957, ist Arzt, Historiker und Amerikakenner und lebt als Buchautor und Wissenschaftskorrespondent in Washington, D.C. Er schreibt u. a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitun g, Neue Zürcher Zeitung und Die Zeit . Bei Klett-Cotta erschienen u. a. »Wie Krankheiten Geschichte machen«, »Wie das Wetter Geschichte macht« und »Die Heilung der Welt«.
Prolog
Hände waschen, Leben retten
Auf den ersten Blick sah es im Supermarkt aus wie immer. Die Obstabteilung zeigte eine üppige Vielfalt, die Fleisch- und Wursttheke war exzellent sortiert, und auf Freunde kleiner, süßer Sünden warteten mehrere Regalmeter von Pralinen und Schokoladen, von Vollmilch bis zu Tafeln mit knapp 90 Prozent Kakaoanteil und exotischen Beigaben wie Chilischoten oder Meersalz. Nur zwei Eigentümlichkeiten im Sortiment mochten dem aufmerksamen Kunden beim Bummel durch die Konsumwelt auffallen. Es gab kein Klopapier. Und es klaffte eine weitere Lücke: dort, wo bei den Produkten zu Sauberkeit und Hygiene normalerweise die Fläschchen unterschiedlicher Größe zu finden waren, die weltweit als Hand Sanitisers gelten; die deutsche Sprache hat dafür den etwas umständlichen Begriff Händedesinfektionsmittel.
Der Supermarkt lag in der Einkaufszone von Stuttgart oder Berlin, in einem Einkaufszentrum am Rande von Düsseldorf oder über der Elbe in Magdeburg, er war in Wien oder in Luzern. Und auch in anderen Ländern bot sich ein ähnliches Bild, als zunächst wenige, dann immer mehr und schließlich alle Menschen mit Gesichtsmaske zum Einkaufen gingen, mit misstrauischen Blicken andere Kunden musterten und dann das Geschäft meist schnellstmöglich wieder verließen.
Es war ein Frühjahr im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts.
Auf den ersten Blick sah der Eingang zur Klinik aus wie immer. Die Ärzte und Medizinstudenten kamen mit dem gerade von Letzteren bekannten, überwiegend fröhlichen Geräuschpegel aus einem Komplex des großen, vom seligen Kaiser Joseph II. konzipierten Krankenhauses, der geradezu der Kontrapunkt zu der Abteilung bildete, die zu betreten die Gruppe im Begriff war. Sie kamen vom Tod und gingen zu neuem Leben. Hinter ihnen lagen die morgendlichen Sektionen, das Studium des menschlichen Körpers und der Ursachen des Ablebens – die Pathologie des Allgemeinen Krankenhauses Wien war die größte und berühmteste in der zeitgenössischen Medizin. Und sie betraten die Erste Geburtshilfliche Klinik, eine von zwei Abteilungen, deren Flure vom Schreien neugeborener Babys widerhallten.
Das Gelächter, die angeregte Konversation der jungen Mediziner verstummte, als sie – meist erst auf den zweiten Blick – bemerkten, was in dem Eingangsbereich an diesem Tag so anders war. Ein Waschgefäß stand dort auf einem Tisch, daneben ein Behältnis mit einer streng riechenden Flüssigkeit. Und eine Tafel, auf der unmissverständliche Worte geschrieben standen. Von heute an, so las man mit Erstaunen, teilweise auch mit Entrüstung, können die Herren Collegae den Kreißsaal und die Wöchnerinnenstation nur betreten, nachdem man sich die Hände ausgiebig mit einer Chlorkalklösung gewaschen habe. Ohne Ausnahme. Die Studiosi empfanden es mehrheitlich als Zumutung – doch sie gehorchten. Manche Revolutionen fangen unscheinbar an; dies war eine: Ein Kind zur Welt zu bringen musste nicht länger ein Todesurteil für die Mutter bedeuten.
Es war ein Frühjahr um die Mitte des 19. Jahrhunderts.
Vieles, was uns selbstverständlich erscheint, hat irgendwo, irgendwann einen Anfang gehabt. Wer bei Google Suchbegriffe wie »Geschichte des Händewaschens« oder »History of Handwashing« eingibt, wird Ergebnisse erhalten, in denen fast immer und oft schon im ersten Satz der Name des Ignaz Philipp Semmelweis auftaucht. Manche dieser Beiträge erwecken gar den Eindruck, dass man vor dem Wirken dieses ungarischstämmigen Arztes in Wien, vor 1847, sich nicht oder kaum die Hände gewaschen hat. Sicherlich war die Neigung zu dieser uns heute grundlegend erscheinenden Körperhygiene über die Epochen von der Vorstellungswelt der Menschen und natürlich ihrer sozialen Stellung abhängig gewesen. Grob verallgemeinernd gesprochen verbinden wir mit unserem Bild von der griechischen, vor allem aber der römischen Antike mit ihren Bäderanlagen und Aquädukten – auch wenn diese vor modernen Hygienikern allein aufgrund der Wasserqualität wenig Gnade finden würden – eher einen Sinn der Menschen für körperliche Sauberkeit als mit manchen von Badezimmern und Toiletten freien Schlössern des europäischen Adels der Frühen Neuzeit. Wie dem auch sei – das Händewaschen aus einem medizinischen Motiv, zur Prävention, in diesem Fall als einem Mittel gegen eine himmelschreiend hohe Müttersterblichkeit, geht in der Tat ganz überwiegend auf Ignaz Philipp Semmelweis zurück. Die auf ihn verweisenden Beiträge, auf die Google schnellstmöglich stößt, meist in Zeitungen, Zeitschriften und anderen Medien online publiziert, sind fast alle im gleichen Jahr erschienen. Im Jahr 2020.
Das Leben, wie wir es kennen und unter normalen Umständen für selbstverständlich halten, beruht auf Erfahrungen und Fortschritten derer, die vor uns kamen – Fortschritte, die oft hart und unter Opfern erkämpft werden mussten, wie es uns die Vita von Semmelweis zeigt. Bewusst werden wir uns der Linien, die das »moderne« Dasein mit der Vergangenheit verbinden, oft erst, wenn die Normalität bedroht ist, in Zeiten von Krisen und Ungewissheit. Auf die Frage nach den Wurzeln dieser uns vertrauten, aber letztlich doch fragilen Moderne wird ein jeder gemäß seiner eigenen Weltsicht eine individuelle Antwort geben. Man mag auf die Erfindung der Buchdruckerkunst um die Mitte des 15. Jahrhunderts verweisen, ohne welche die Vermehrung und Verbreitung von Wissen kaum denkbar wäre. Es können gesellschaftliche Fortschritte als Morgenröte der Gegenwart gelten, wie die Abschaffung der Sklaverei, die Einführung des Frauenwahlrechts oder die Etablierung der Demokratie als Staats- und Regierungsform. Technik- und Digitalfreaks werden möglicherweise auf eine erst rund 40 Jahre zurückliegende Wegscheide verweisen, als das Wort Computer nicht mehr allein in Zusammenhang mit Institutionen wie NASA und CIA verwendet wurde, sondern das Präfix Home bekam, als die ersten Ataris und Macintoshs in bürgerliche Wohn- und Arbeitszimmer Einzug hielten.
Nichts indes – weder die technische Ausrüstung oder das schönste Auto in der Garage noch die weitesten Reiseaktivitäten und selbst nicht die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der eigenen Existenz – bestimmt so unmittelbar unser Leben, unsere Befindlichkeit wie der körperliche und auch der mentale Zustand. Gesundheit oder das Fehlen derselben, Krankheit, sind die elementarsten Faktoren, die das eigene Leben definieren, lenken und irgendwann – unausweichlich – beenden. Das Vorliegen einer Krankheit oder allein die Erwartung, dass eine solche uns treffen könnte, letztlich gar die Angst vor einem viele oder gar alle Menschen heimsuchenden pathologischen Geschehen sind in der Lage, alles scheinbar Vertraute, Sichere zu erschüttern und das Leben Einzelner oder Vieler in eine ganz andere Richtung zu lenken.
Wenn es um den Beginn der Moderne aus der Sicht unserer Körperlichkeit, unserer Gesundheit geht, fällt der Verweis auf eine Epoche unvergleichbaren Fortschritts leicht. Es ist die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Entdeckungen und Erfindungen wie nie zuvor gemacht wurden, in der allmählich die weißen Flecken auf der Landkarte der medizinischen Möglichkeiten kleiner wurden. Dieses Buch soll in diese Zeit entführen, den Leser an den wichtigsten Ereignissen teilnehmen lassen, die unser heutiges Leben erst ermöglichen, und einige der Wegbereiter, der Pioniere dieser faszinierenden Ära lebendig werden lassen, ohne dass es einen Anspruch auf Vollständigkeit oder auf eine globale Perspektive erheben könnte; die Schauplätze unserer Handlung sind Europa und Nordamerika.
Es ist gleichwohl keine Medizingeschichte. Es soll eher ein Zeitgemälde einer auf so vielen Gebieten fortschrittsgläubigen Epoche sein, betrachtet aus primär medizinischer Sicht. Die Durchbrüche der Ärzte in ihrer Goldenen Zeit sind eingebettet in eine beispiellose Innovationsfreudigkeit dieser Jahre, für die unter anderem das Aufkommen von lebensechten Bildern (Daguerreotypien und Fotografien) steht, die gegen Ende des Jahrhunderts auch noch sich zu bewegen lernten, in denen sich der Siegeszug der Eisenbahn vollzieht und Echtzeitkommunikation dank auf dem Meeresboden verlegter Kabel möglich wird. Die Ärzte und Forscher setzen zu ihren Pioniertaten vor dem Hintergrund einer sich rasch wandelnden Demografie mit dem rasanten Wachstum von Städten und einer massiven Industrialisierung an – und sie tun dies in einem sich wandelnden politischen Umfeld. Immer stärker bestimmen in dieser Epoche Ideologien und Parteibildungen die Debatten, neue...
Erscheint lt. Verlag | 13.2.2021 |
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Zusatzinfo | mit zahlreichen Abbildungen |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • Amerikanischer Bürgerkrieg • Amputation • Anästhesie • Bismarck • Erster Weltkrieg • Forschung • Fortschritt • Geschichte • Gründerzeit • Impfung • Medizin • Philipp Semmelweis • Reichsgründung • Robert Koch • Röntgen • Virchow • Wilhelminische Zeit |
ISBN-10 | 3-608-11643-5 / 3608116435 |
ISBN-13 | 978-3-608-11643-4 / 9783608116434 |
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