Literatur lesen wie ein Kenner (eBook)
394 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76436-3 (ISBN)
Dieses gelehrte und doch wunderbar leicht geschriebene Buch will helfen, Literatur besser zu verstehen, und macht zugleich deutlich, dass Lesen auch und vor allem Vergnügen bereiten soll. Von Kleist bis Thomas Mann, vom Minnesang bis zum Bildungsroman, von Dante bis Günter Grass, von geistlichen Liedern bis Hans Magnus Enzensberger - Hermann Kurzke liest Prosa, Poesie und Dramen mit der analytischen Kraft des Professors und erweist sich gleichwohl als begnadeter Literaturverführer. Wer Kurzke liest, hat mehr vom Lesen großer Literatur.
Hermann Kurzke ist Professor em. für Neuere deutsche Literatur an der Universität Mainz.
1.
ANSPANN
Im Kapitel Anspann werden die Pferde angeschirrt und die Wagen flott gemacht. Einige Voraussetzungen werden geklärt. Außerdem wird ein Analysebesteck vorgestellt, das später immer wieder Anwendung findet.
Quiribirini
«Quiribirini» sollte dieses Buch ursprünglich heißen. Weil das zu rätselhaft war, habe ich davon Abstand genommen, aber ein paar Sätze dazu sollen doch bleiben. Das Wort kommt um 1700 in die Literatur. Es ist eine Zauberformel, hochwirksam, anzuwenden dann, wenn man den Geist eines Werks von seiner Machart trennen will? Seinen Inhalt von seiner Form? Nein, ursprünglich dann, wenn man eine Seele von ihrem Körper trennen und sie zur Verbindung mit einem anderen Körper veranlassen will. Das Wort diene uns – außer dass es das Geheimnisvolle der Literatur markiert, in der so etwas wie «Seelenwanderung» jederzeit möglich ist – dazu, das Europäische, nicht nur Deutsche, «Germanistische» unseres Unternehmens anzudeuten. Seine Zauberkraft helfe uns, die Grenzen der nationalen Philologien zu überwinden! Uns vielzüngig im Internationalen wohl zu fühlen! Nicht nur deutsche, sondern auch europäische Literatur zu erwandern!
«Quiribirini» ist ein Zauberspruch aus Feenmärchen, einer untergegangenen Modegattung der europäischen Unterhaltungsliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts. Zuerst begegnet das Kunstwort in Les illustres fées, einer Sammlung von Feenmärchen, die Louis de Mailly 1698 in Paris herausgegeben hat. Der Untertitel bezeichnet sie als «contes galans» (galante Erzählungen), eine Widmung gilt den Damen («dédié aux dames»). Eines dieser Märchen heißt Le Bien-faisant ou Quiribirini («Der Wohltäter oder Quiribirini»), was auch ironischer übersetzt werden könnte: «Der Gutmensch oder Quiribirini». Den Wohltäter haben die Feen geschickt. Wer «Quiribirini» sagt, soll die Macht haben, «de se transformer en quel animal il voudroit»[1] (sich in jedes gewünschte Tier zu verwandeln). Davon werden wir keinen Gebrauch machen. Aber wir sehen in «Quiribirini» ein Zauberwort, das uns Einlass in die Geheimnisse der Literatur gewährt.
Das «Ich» dieses Buches
Zwar strebt dieses Buch eine gewisse Allgemeingültigkeit an, aber es will gut lesbar sein und das Abschreckende meiden, das wissenschaftliche Bücher manchmal haben. Eines der Gegenmittel scheint zu sein, manchmal (nicht oft!) «ich» zu sagen. Das tut man eigentlich nicht in der Wissenschaft, weil man doch objektiv sein will und nicht subjektiv. Das aber ist oft eine Täuschung. Am stärksten ist der subjektive Faktor in der Auswahl der Bücher, die besprochen werden. Da ich einerseits Bücher von klassischem Rang vorstellen möchte, bringe ich zwar vieles, über dessen Wichtigkeit man sich leicht einig werden wird, ist der Leser andererseits aber davon abhängig, was ich für klassisch halte. Bei Shakespeares Hamlet und Goethes Faust wird da kein Streit aufkommen, aber bei Michael von Joseph Goebbels? Ich behaupte nicht, dass dieses Buch, das ich zufällig in einem Antiquariat aufstöberte, klassisch (im Sinne von erstrangig, vorbildlich) sei, aber ich fand, es sei interessant, einen Blick darauf zu werfen, was ein führender Nationalsozialist, der überdies studierter Literaturwissenschaftler war, zur Unterhaltungsliteratur beigetragen hat.
Es bleibt jedenfalls zuzugeben, dass es bei der Auswahl der Bücher ein subjektives Element gibt. In mancher Hinsicht ist Lesen wie ein Kenner ein Spiegel meiner Bibliothek. Manchmal sage ich auch, wie ich zu einem Buch kam. Ich rede nur über Bücher, die ich auch besitze. Aber ich habe auch versucht, mir irgendwann und irgendwie alles anzuschaffen, was mir wichtig schien oder in meiner Ausbildungs-, Lehr- und Lebenszeit als wichtig galt.
Absicht und Anlage
Für wen ist dieses Druckwerk da, welchem Bedürfnis will es abhelfen? Es will nützen, Literatur zu verstehen. Es will eine Orientierung für Liebhaber der Literatur, für engagierte Leser sein, sowohl für Anfänger als auch für Fortgeschrittene und Bewanderte. Denen will es nicht nur mühsalerleichternd «Stecken und Stab» (Psalm 22,4[2]) sein, sondern eine Lust und ein Vergnügen. Es will ihnen das Lesen von Literatur nicht nur so vergnüglich, sondern auch so ertragreich wie möglich machen.
Literatur gibt viel. Wir sprechen nicht von Gartenbüchern oder Reiseführern, deren Lehren sich leicht erschließen, sondern von derjenigen Literatur, die man die «schöne» nennt, weil sie in der Regel keine praktischen Zwecke verfolgt. Sie gibt nicht nur das Politische und Soziale, sondern auch das Seelische und Innerliche einer Zeit. Sie gibt das Denken, Empfinden und Phantasieren der gebildeten wie der ungebildeten Stände und Schichten, sie gibt Freude und Leid, Liebe und Hass, Festivität und Alltäglichkeit, und sie gibt dieses breite Spektrum in allen europäischen Spielarten, von Gibraltar bis St. Petersburg, von Palermo auf Sizilien bis Tromsö in Nordnorwegen.
Die Literaturgeschichte wird zwar manchmal von der Profangeschichte angestoßen, und geschichtliche Personen wie Karl der Große, Rudolf von Habsburg, Napoleon, Hitler oder Stalin wirken ein halbes oder ganzes Jahrhundert oder Jahrtausend nach, aber hauptsächlich ist sie eine Seelengeschichte. Man erfährt aus ihr, was geglaubt wurde. Glauben in diesem Sinne ist nicht Fürwahrhalten theoretischer Sätze aus irgendeiner Dogmatik, sondern meint das Ensemble der handlungsleitenden Gestimmtheiten. Diese können zwar als Theorien zum Bewusstsein kommen. In der Regel bleiben sie aber unbewusst, zwar mächtig, aber dem überlegten Handeln entzogen. Die Literatur zeigt oft, wie sie funktionieren. Sie weiß mal gleich viel, mal weniger, mal mehr, meist aber etwas anderes als die gleichzeitige Philosophie.
Warum lesen wir gern auch Literatur, die Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte alt ist? Sehr vieles von dem, was die Literatur intimgeschichtlich weiß, ist vergessen, aber meistens doch irgendwo in der Seele gespeichert. Auch wenn wir die Eschatologie des Mittelalters nicht kennen, ist Dantes Göttliche Komödie für uns einleuchtend. Auch im Falle, dass wir nicht an ein Leben nach dem Tode zu glauben vermögen, ist uns die Vorstellung davon zugänglich, vielleicht sogar verlockend. Dante malt einen motivreichen, verantwortungsvollen, geselligen und unterhaltsamen Aufenthaltsort der Toten. Dass die Glaubenswelt des Mittelalters untergegangen ist, sollte uns nicht dem Mittelalter gegenüber beunruhigen, aber skeptisch machen gegenüber unserer eigenen Glaubenswelt. Vielleicht wird sie auch untergehen? Vielleicht wird unser Glaube an die Wissenschaft entlarvt werden als Illusion und Narretei eines Zeitalters, das sich «Neuzeit» nannte?
Gleichviel. Jedenfalls bewahrt die Literatur viel von dem, was der Tagesoptik entzogen ist. Sie hat außer dieser eine Nachtoptik. Die Literaturgeschichte zeigt die Tag- und die Nachtseite einer Zeit. Und sie zeigt beide in ihrem geschichtlichen Wandel. Das Studium der Literaturgeschichte macht deshalb nicht nur den Verstand reicher, sondern die gesamte Innerlichkeit. Die Literaturgeschichte eines Landes oder Kulturkreises ist eine Intimgeschichte. Sie ist nicht wie die politische oder soziale Geschichte eine Sammlung von Ereignissen, Entwicklungen, Daten, Fakten und Jahreszahlen, sondern sie zeigt so schwer Greifbares wie die Entwicklung des Geschmacks, also dessen, was als schön und als hässlich empfunden wurde, sowie die Geschichte der Empfindungen: der Ängste und der Sehnsüchte, des Gehassten und des Geliebten, des Realen und des Phantastischen, der Ängste und Befürchtungen, ferner der Lüste und Genüsse, der Ordnung und des Ungeordneten sowie des Bewussten und des Unbewussten, des Sichtbaren wie des Unsichtbaren, des Sicheren und des Verunsichernden, auch des Aufgeräumten und des Chaotischen.
Zwar war ich lange Germanist, aber dieses Buch richtet sich an alle Liebhaber des Lesens, nicht nur an akademische Spezialisten für deutsche Literatur. Es ist sogar ein bisschen skeptisch den Akademikern gegenüber. Warum? Weil die universitäre Germanistik manchmal auch das Lesen behindert. Weil «Wissenschaft» manchmal nicht auf Wiesen, sondern in Wüsten führt. Es gibt eine «Wissenschaft», die im Wege steht, die Barrieren aufrichtet, die spannende Bücher durch Begriffsmonster zu ersetzen sucht, die mit Fachwissen nicht dienen, sondern prahlen will, die nicht erschließt, sondern verschließt, die mit «Bildung» und Belesenheit vor allem renommieren möchte und dem...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Germanistik |
Schlagworte | Bildungsroman • Dante • Drama • Enzensberger • Gedicht • Günther Grass • Handreichung • Kleist • Lesen • Literatur • Literaturführer • Literatur verstehen • Lyrik • Minnesang • Poesie • Prosa • Roman • Theaterstück • Thomas Mann • Verstehen |
ISBN-10 | 3-406-76436-3 / 3406764363 |
ISBN-13 | 978-3-406-76436-3 / 9783406764363 |
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