Jesus oder Paulus (eBook)
200 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76407-3 (ISBN)
Was wir über das frühe Christentum zu wissen meinen, ist bis heute stark von Glaubenstraditionen geprägt. Der preisgekrönte Historiker Johannes Fried befragt die biblischen und außerbiblischen Quellen neu und setzt sie zu einem neuen, kohärenten Bild zusammen: Demnach gab es im entstehenden Christentum einen Grundkonflikt zwischen Anhängern Jesu, die die Worte ihres Meisters und Rabbis im frühesten Kern des Thomas-Evangeliums festhielten, und dem Apostel Paulus, der die Botschaft vom Kreuzestod des Gottessohnes in der heidnischen Welt verkündete. Die Lehre des Paulus setzte sich durch, während die Überlieferung der Jesus-Anhänger verketzert und vergessen wurde. Johannes Fried folgt ihren Spuren und zeigt, dass alles ganz anders gewesen sein könnte, als wir glauben.
«Jesus lebt!» Diese frohe Botschaft konnte nach Jesu Kreuzigung ganz unterschiedlich verstanden werden. Sein engstes Umfeld in Jerusalem wusste, dass er das Kreuz überlebt hatte, und bewahrte die Worte des geflohenen Meisters. Der Apostel Paulus dagegen, der dem Christus Jesus nur in einer Vision begegnet war, verkündete die wundersame Auferstehung des Gottessohnes von den Toten und hatte wenig Interesse am Leben des jüdischen Lehrers. Johannes Fried rekonstruiert den Konflikt auf der Grundlage der verfügbaren biblischen und außerbiblischen Quellen und zeigt, wie die Lehre des Apostels Paulus von Kreuzestod und Auferstehung die kanonischen Evangelien prägte und sich im Römischen Reich durchsetzte, während die Überlieferung der Jesus-Anhänger - festgehalten etwa im Thomas-Evangelium - in Gebiete außerhalb des Römischen Imperiums abgedrängt, verketzert und schließlich vergessen wurde. Johannes Fried folgt den wenigen erhaltenen Spuren mit dem Werkzeug des Historikers und zeigt, dass alles ganz anders gewesen sein könnte, als wir glauben.
- Eine schonungslose Neubewertung der frühchristlichen Quellen
- Die faszinierende Spurensuche eines renommierten Historikers
- Was das Thomas-Evangelium über Jesu Lehre verrät und warum es ins Abseits geriet
- Glänzend geschrieben
Johannes Fried ist Professor em. für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Frankfurt am Main und Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Er war Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands und wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Historikerpreis (1995) und dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa (2006).
2. Wie alles begann
Es begann mit einem Prozess, mit einem Todesurteil gegen Jesus, mit seiner Kreuzigung. Das Verfahren war eine politische Lappalie und wurde doch zu einem Wendepunkt der Weltgeschichte. Der Richter, Pontius Pilatus, ein bedeutungsloser Provinzverwalter Roms, besaß keine große Persönlichkeit und zählt gleichwohl seit bald zwei Jahrtausenden zu den markantesten Figuren im Welttheater. Die Weltmacht Rom indessen beschäftigten Kriege und interne Rankünen im Herrscherhaus. Ihre Geschichtsschreiber blickten selten nach Jerusalem und keinesfalls, um so bedeutungsloses Geschehen wie den Prozess und die Hinrichtung eines letztlich harmlosen Wanderpredigers, Wunderheilers und Sympathisanten von Aufrührern festzuhalten.[1] Jesu Wandel schien es nicht wert gewesen zu sein, aufgezeichnet und festgehalten zu werden, nicht einmal in jüdischen Kreisen.
So ist denn auch nahezu nichts überliefert. Allenfalls kursierten mündlich tradierte Erinnerungen. Wer kannte Jesu Jugend im Elternhaus? Seine Bildung? Seine Flucht in die Wüste? Wie und wovon lebte er dort? Wo hauste er? Wann besuchte er Johannes den Täufer? Wer hätte seine Wege verfolgen sollen, die Wege eines unbekannten jungen Mannes, von Haus zu Haus, von Ort zu Ort, hierhin und dorthin? Sein Dasein fristend, um Brot bettelnd, um einen Schluck Wasser oder Wein. Seine Begegnungen mit fremden Menschen? Nichts erregte die Herrscherin Rom oder die Priesterschaft in Jerusalem.
Er zog seine Straße, so wurde überliefert oder erfunden, am See Genezareth entlang zu den Fischerorten Kafarnaum oder Bethsaida, von da weiter nach Süden, den Jordan hinab. An Qumran vorbei, zum Toten Meer, hinauf nach Jerusalem? War er in Magdala? In Bethlehem, wo er – biblischer Prophezeiung folgend – geboren sein soll? In Ägypten, wohin sich seine Eltern mit ihm vor den Nachstellungen des Herodes gerettet haben sollen? Wer beachtete sein Beten in den Synagogen der vielen Orte, die er auf seinen Wanderungen durchquerte, oder im Tempel von Jerusalem? Trachtete er nach einem Kontakt mit Essenern, mit den Leute von Qumran? Nur spekulationsreiche Interpretationen der berühmten Höhlenrollen könnten es nahelegen. Jesu schlichtes Leben verlor sich weithin spurenlos in Raum und Zeit.
Niemand zückte den Griffel, um auch nur eine Zeile niederzuschreiben und für die Nachwelt zu retten. Was später von ihm erinnert und erzählt wurde, waren Legenden, Wundertaten, wurde fortgeschrieben zu einem einzigartigen Heilswerk und erfüllte dennoch kein wirkliches Leben. An allen genannten Orten kam Jesus stets nur an, war immer schon da, um seine Wunder zu vollbringen, ohne dass Wege und Ziele, die ihn hergeführt hatten, genannt werden. Dieses Dasein war ein von Glauben erfülltes, von religiösen Botschaften diktiertes, vor allem aber ein lange nach der Lebenszeit stilisiertes Bild. Es wurde durch Jesu Passion glorifiziert, die von der Überwindung des Todes handelte und eben damit dieses Dasein mit dem Licht göttlicher Gnade umhüllte. Diese Botschaft aber verklärte das Leben und machte es denkwürdig. Dafür bedurfte es nur noch der bewahrenden Worte und erinnerungswürdiger Taten.
Wichtiger, als dieses Mannes zu gedenken, mochte es scheinen, dass sich die Söhne des Königs Herodes stritten, dass es allenthalben im Volk gärte, dass dasselbe fortgesetzt zu Aufruhr neigte und Aufstände die Statthalter immer aufs Neue beschäftigten, dass sie aber gestützt auf ihre Truppen die Lage doch stets unter Kontrolle halten konnten. Die geschickteren unter ihnen respektierten die jüdischen Gewohnheiten, zumal den Tempelkult und das Bilderverbot. Wenn einer, wie Pontius Pilatus, meinte, sich über dergleichen Rücksichten hinwegsetzen zu können und mit Gewalt das Volk vollends römischer Botmäßigkeit zu unterwerfen, indem er etwa mit dem Kaiserbild geschmückte Legionsadler auf dem Tempelberg aufstellen und Kaiserstatuen aufrichten ließ oder sich am Tempelschatz vergriff, um den Bau einer neuen Wasserleitung nach Jerusalem zu finanzieren, brachte ihn der passive, zum Tod bereite Widerstand des Volks alsbald zur Vernunft: eine Bereitschaft zum Tod, um Gott mehr zu gehorchen als der Weltherrin Rom. Auch Jesus bezeugte wie viele seiner Anhänger solche Bereitschaft: ein Zeichen von Gesetzesgehorsam, nicht von heilverkündendem Selbstopfer.
Der Geschichtsschreiber seines Volkes, Titus Flavius Josephus, ein Kämpfer gegen Rom, der die Seiten wechselte und zum Dank als römischer Bürger und unter dem Schirm kaiserlicher Gnade in Rom sein Dasein enden durfte, wusste im Rückblick gegen Ende des ersten Jahrhunderts zwar manches Detail dieser ständigen Reibereien zwischen Besatzungsmacht und einheimischem Volk zu beschreiben, aber von Jesus und seinem Prozess schwieg er. Nur eine knappe Nachricht erwähnte ihn, den Vollbringer ganz unglaublicher Taten und Lehrer aller Menschen,[2] doch steht diese Nachricht im Verdacht, ein späterer Einschub und eine Fälschung zu sein.
Noch knapper fiel ein zweiter Hinweis aus, dass nämlich Jakobus, der Bruder des Jesus, der Christus genannt wird, auf Befehl des Hohepriesters Ananus gesteinigt und dieser dann wegen Kompetenzüberschreitung vom Statthalter abgesetzt worden sei. Die Aufständischen des Jüdischen Krieges, der mit der Katastrophe der Tempel- und Stadtzerstörung und Hunderten Gekreuzigten endete, hatten anderes zu gedenken als des Todes jenes letztlich unbedeutenden Mannes. Die Mitte christlicher Weltgeschichte war der Weltmacht Rom keine Zeile wert; erst um die Jahrhundertwende begann es sich zu ändern.
Und die Christenheit selbst? Da herrschte Ratlosigkeit, herrschte Entsetzen, dann Furcht und Angst, endlich Schweigen und Streit. Nur langsam löste sich die Erstarrung von Jesu Jüngern. Was war geschehen? Was hatten sie in den letzten Monaten und Jahren erlebt? Wie sollte es weitergehen? Zweifelnd, keineswegs einmütig verbrachten sie die Tage, die auf die Kreuzigung folgten. Es waren unruhige Zeiten. Dann trat der Herr wieder unter sie, offenbarte sein Überleben und gab erste Winke für ihrer aller Zukunft. Ihre Gemeinschaft sollte nicht zerbrechen; sie sollten in seinem Geist weiterwirken, hier und dort. Sein Überleben aber musste ein Geheimnis bleiben. Nur wenige durften es erfahren. Bald waren es zu viele. Es wurde für alle gefährlich. Jesus musste verschwinden; er zog sich zurück. Abermals Schweigen und fortdauernder Streit.
Dieses Schweigen hat sich dem gesamten frühen Christentum mitgeteilt. Niemand kennt bis zur Stunde dessen erste Anfänge. Die Jünger schwiegen, keiner von ihnen griff zur Feder. Nur ein dünnes Rinnsal an Nachrichten fließt aus dieser frühen Zeit. Die erneuerte Botschaft eines Propheten, eingegangen in einen Christus-Hymnus (Phil 2–11), und eine Christus-Vision führt es mit sich.[3] Die geschichtlichen Grundlagen des Geschehens auf Golgatha, im und am nahen Grab verflüchtigen sich mit solcher spärlichen Verkündung in ein unglaubliches, schon den Zeitgenossen von damals ganz unwahrscheinliches Wunder. Sie konnten es leicht zum Betrug erklären. Was tatsächlich geschah, ist noch immer von dem Schweigen des Anfangs verdeckt. Aber das Grab war, wie spätere Überlieferungen bezeugen, selbst für die krudesten Heiden leer, und das verlangte nach einer Erklärung. Der Glaube erhob sich endlich aus diesem Schweigen – ein Geheimnis, noch für die heutige Liturgie.
Jesu Tod und seine Auferstehung sind das «Geheimnis des Glaubens»: Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und Deine Auferstehung preisen wir, so belehrt uns diese Liturgie und die Gläubigen bekennen es in jeder heiligen Messe. Anonyme Umfragen unter protestantischen Pfarrern verdeutlichen allerdings, so wurde mir berichtet, dass um die 70–80 Prozent von ihnen mit der körperlichen Auferstehung nichts anfangen können, sie vielmehr entschieden bezweifeln, gleichwohl aber, wie mir weiterhin versichert wurde, ihren Gemeinden predigen: Christi Auferstehung sei geistig zu verstehen, was wohl heißen mag: als Wirkung einer Verwandlung in eine andere, leiblose, spirituelle Daseinsform, in ein irgendwie jenseitiges, ewiges Sein. Doch eben keine leibliche Auferstehung.[4]
Und Jesu Leib? Im Grab zurückgelassen? Verwest? Das Grab nicht leer? Eine solche «Auferstehung» hätte schwerlich Gläubige gefunden, wäre überflüssig gewesen, nicht heilwirksam. Also doch nicht bloß geistig? Eine derart zwiespältige Haltung widerspricht indessen Jesu klarem Wort in seiner «Bergpredigt»: Eure Rede aber sei ja, ja, nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel (Mt 5,37). Gilt das für die Glaubensbotschaft nicht?
Den Tod also nehmen sie hin. Die Formel vom leeren Grab aber (zuerst in dem Evangelium, das Markion...
Erscheint lt. Verlag | 27.1.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Vor- und Frühgeschichte / Antike |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Vor- und Frühgeschichte | |
Schlagworte | Apostel • Auferstehung • Bibel • Christentum • Geschichte • Gottessohn • Heiden • Israel • Jerusalem • Jesus • Juden • Kreuzestod • Kreuzigung • Mission • Paulus • Sühnetod • Überlieferung |
ISBN-10 | 3-406-76407-X / 340676407X |
ISBN-13 | 978-3-406-76407-3 / 9783406764073 |
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