Natur und Gender (eBook)
233 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75730-3 (ISBN)
Konstruktivismus wie Dekonstruktivismus haben gleichermaßen den Glauben gefördert, die Natur sei nur das, was wir aus ihr machen. Sie sind pseudokritische Ableger eines High-Tech-Machbarkeitswahns. Gender gilt bereits als ein Konstrukt, für das es nur noch ein Kriterium gibt: persönliches Zugehörigkeitsempfinden. Dabei rückt aus dem Blickfeld, dass wir Menschen selbst bloß Naturwesen sind. Wenn wir die Natur - auch unsere eigene - nach Belieben zurechtkneten wollen und ihren Eigensinn ignorieren, schlägt sie umso heftiger auf uns zurück.
Christoph Türcke ist Professor em. für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig.
Einleitung
Anscheinend ist die Natur das, was wir aus ihr machen. Wie niemand zuvor hat der Homo sapiens sie nach seinen Wünschen hergerichtet: Wälder gerodet, Sümpfe trockengelegt, Dämme, Straßen, Häuser, Fahrzeuge und Automaten gebaut; seinen Körper mit Kleidung verhüllt, geschützt und geschmückt; seine Lebensdauer und -qualität durch chirurgische Eingriffe, Medikamente, Stützen, Prothesen, Implantate und Therapien aller Art drastisch erhöht. Warum soll er diese Entwicklung stoppen, sich aufs Heilen von Krankheiten beschränken und nicht auch gesunde Organismen weiter optimieren, so weit, wie die Technik es gestattet? Zumal sie selbst zunehmend dazu nötigt. Hat sie doch Lebensverhältnisse beschert, die sich ohne ständig verbesserte technische Hilfestellung schwer aushalten lassen. Wer kommt in Ballungsgebieten noch ohne hoch effizienten Lärm- und Atemschutz zurecht, ohne maximal zeitsparende Verkehrslogistik, ohne ein fein dosiertes Set von Stimulantien und Tranquilizern, ohne ausgefeilte Physio- und Psychotherapien? Wer kann sich in einer smart designten Umgebung wohl fühlen, wenn der eigene Körper ein undesigntes Gebilde mit wild wachsenden Gliedmaßen, unkorrigierten Gesichtszügen und unterbeschäftigten Hirnarealen geblieben ist? Und wenn sich schon Getreide, Gemüse und Schlachtvieh durch Genmanipulation zu längerer Haltbarkeit und höheren Erträgen lenken lassen, warum soll man dann nicht auch den menschlichen Genbestand durch gezielte Eingriffe besser auf die Anforderungen des modernen Lebens einstellen können? Noch gibt es zwar einigen Widerstand dagegen, zumal strittig ist, in welche Richtung die «Verbesserung» des menschlichen Genoms gehen soll. Um so größer ist die Empfänglichkeit für alle neu entwickelten Seh-, Hör-, Sprech- oder Bewegungshilfen, die sensorisch oder motorisch eingeschränkten Menschen gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben eröffnen. Bis in den Leistungssport sind diese Hilfen vorgedrungen. Bei den Paralympics erbringen schwerbehinderte Athleten körperliche Höchstleistungen, die denen von Olympischen Spielen nicht nachstehen – und beeindrucken zudem durch ihren eisernen Willen, körperliche Einschränkungen nicht als Schicksal hinzunehmen.
Damit ändert sich das Gesamtverständnis von Behinderung. Bis vor wenigen Jahrzehnten schien es einen festen naturbasierten Maßstab zu haben: den Durchschnitt der körperlichen und geistigen Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeit, den es in jeder menschlichen Altersgruppe gibt. Wer deutlich dahinter zurückblieb, galt als behindert. Derzeit bildet sich ein anderes Verständnis heraus, welches besagt: Niemand ist von Natur aus behindert. Im Prinzip kann jeder unbeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Es müssen ihm nur genügend helfende Materialien und Geräte zur Verfügung gestellt werden, gelegentlich auch Personen, die sie bedienen. Behindert ist, wem solche Hilfen vorenthalten werden. Behinderung definiert sich vom Stand der Technik aus. Mit jedem technischen Fortschritt weitet sich allerdings auch ihr Radius. Wer gelähmt ist, muß sämtliche technischen Möglichkeiten in Anspruch nehmen dürfen, die ihn beweglich machen. Wer an körperlicher Unförmigkeit leidet – hohem Gewicht, ausladenden Hüften, kleinen Brüsten, langer Nase etc. –, muß sich dank aller zur Verfügung stehenden medizinisch-kosmetischen Mittel ansehnlicher machen dürfen. Andernfalls findet Behinderung statt. So die Auffassung der amerikanischen Schönheitsaktivistin Cindy Jackson. «38-mal hat sie das Messer gegen sich richten lassen und verlangt, dass es ihr Fleisch durchschneidet, Knorpel abtrennt und Blutbahnen über ihren Körper zieht. Sie hat unter Schmerzen gekämpft, bis ihre alte Haut weggeätzt und ihre Knochen abgemeißelt waren, bis sie endlich das Gefühl hatte, sie selbst zu sein.» Die Londoner Klinik, die ihr das ermöglichte, nennt sie «‹Ort der Gerechtigkeit›. Hier kann sich jeder nach eigener Vorstellung neu erfinden. Hier korrigiert das Skalpell die launische Natur. Menschenrecht der Schönheit!» «Warum soll Schönheit sich nicht der Chancengleichheit beugen? Hat etwa nicht jedermann ein Recht darauf, gesund zu bleiben und, unabhängig von seiner sozialen Herkunft, Professor oder Millionär zu werden? Hat man sich nicht in fast allen Bereichen von der Ergebenheit in das Schicksal getrennt?»[1]
Auch das Geschlecht gilt nicht mehr als Schicksal. Drastisch wächst die «Gruppe von Menschen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei Geburt zugewiesen wurde», «die ihr Geschlecht ‹wechseln› wollen, die Hormone erhalten wollen, auch geschlechtsangleichende Operationen wünschen». «‹Transgender› ist unter Jugendlichen inzwischen sehr verbreitet. Vor 20 Jahren war es noch eine absolute Rarität, die wenigsten Kinder- und Jugendpsychotherapeuten sind mit diesem Thema jemals konfrontiert worden. Vor 10 Jahren ging es dann los, mit einer Dynamisierung in den vergangenen 5 Jahren.»[2] Laut SPIEGEL baten in Großbritannien vor neun Jahren 97 Kinder und Jugendliche den Gender Identity Development Service um Hilfe. 2017/18 waren es 2519. Im Raum München hat sich die Zahl der registrierten Hilfebedürftigen seit 2013 verfünffacht. In den USA halten sich bereits etwa 150.000 Dreizehn- bis Siebzehnjährige für transgender. Es steigt nicht nur die Zahl; auch der Leidensdruck wächst. Mädchen «kommen mit abgeschnürten Brüsten» zum Arzt, «gehen nicht mehr aus dem Haus, wenn sie ihre Tage haben, weil sie am Boden zerstört sind. Wir sehen Jugendliche, die depressiv sind oder sich mit einer Rasierklinge so massiv verletzen, dass man sie chirurgisch versorgen muss.» Sie sagen: «Macht doch endlich, gebt mir meine Hormone, sonst bringe ich mich um.»[3]
Ärzte, die hier die gewünschten Medikamente oder chirurgischen Eingriffe verweigern, geraten in den Verdacht der unterlassenen Hilfeleistung. Verstoßen sie nicht gegen den hippokratischen Eid, wenn sie Menschen, die an ihrem herkömmlichen Geschlecht ähnlich leiden wie andere an Aussatz oder einer Lähmung, die technisch vorhandenen Mittel zur Geschlechtsumwandlung vorenthalten? Bestimmte Massenmedien geben diesem Verdacht derzeit eine Weltbühne; «das ganze Transgender-Thema wird gegenwärtig sehr gehypt, vor allem auf YouTube und Instagram. Es gibt eine Reihe von Transjungen, die Stars auf diesen Kanälen sind, die als Influencer fungieren. Bei ‹Germany’s Next Topmodel› haben Transmädchen mitgemacht. Diese Personen haben eine Vorbildfunktion.»[4] Wie auch Gender Studies gut im Trend liegen, wenn sie zwischen Natur und Inszenierung kaum mehr unterscheiden. «In einer Welt, in der wir die Geschlechtsrolle als die natürlichste Sache denken, gemeißelt in DNA, und alles verzweifelt buchstäblich nehmen, ist es gut, daran zu erinnern, dass man Geschlecht nicht ist, sondern inszeniert, verkörpert, spielt. Schon dem Romancier Balzac war klar, dass Frauen und Männer mit den Weibchen und Männchen der Tierwelt kaum etwas zu tun haben. Es ist Zeit für mehr Schräges, Verrücktes, Queeres, und weniger Identitäres.»[5] Das Schlagwort dafür heißt «transident». Transgender ist nur ein Aspekt davon, Umwandlung des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung nur eine besondere Form, sich jenseits von natürlicher Mitgift, von Heterosexualität und binären Strukturen aller Art eine selbstgewählte Identität zu verschaffen.
Im transidenten Klima gedeiht ein folgenreicher Fehlschluß: Weil die Natur nichts ein für allemal Feststehendes, «Gemeißeltes» ist, kann sie nur etwas durch «uns», die Menschen, Inszeniertes sein. Als ob es nichts Drittes gäbe. Zwar ist unabweisbar, daß wir die Natur nur durch die Filter unserer Wahrnehmung zu erfassen vermögen sowie durch Instrumente, mit denen wir sie bei jeder Berührung auch ein klein wenig verändern. Insofern stimmt sogar der Satz: Die Natur ist das, was wir aus ihr machen. Aber ist sie nur das – und sonst nichts? Erst diese Frage rührt an den Nerv des Problems. Wer sie munter bejaht, mag sich auf dem Weg zur Emanzipation von allen Naturschranken wähnen. Faktisch befindet er sich am Übergang von der Realitätstüchtigkeit zum Machbarkeits-, um nicht zu sagen, zum Schöpfungswahn. Wie sehr die aktuellen sozialen Kräfteverhältnisse diesen Wahn fördern: Darum geht es auf den folgenden Seiten.
Erscheint lt. Verlag | 27.1.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
Schlagworte | Corona • Dekonstruktivismus • Gender • Genderwahn • Genderwahnsinn • Klimawandel • Konstrukt • Konstruktivismus • Machbarkeitswahn • Natur • Naturphilosophie • Naturwesen • Philosophie • Rückbesinnung • Zugehörigkeitsempfinden |
ISBN-10 | 3-406-75730-8 / 3406757308 |
ISBN-13 | 978-3-406-75730-3 / 9783406757303 |
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