Das alles sind wir -

Das alles sind wir

Junge kubanische Prosa

Nele Holdack, René Strien (Herausgeber)

Buch | Softcover
64 Seiten
2020 | 1. Auflage
Okapi-Verlag ein Imprint der Leetspeak Media GmbH
978-3-947965-07-6 (ISBN)
10,00 inkl. MwSt
Gefühle, Geschichten, Erfahrungen
Junge Kubanerinnen und Kubaner schreiben auf Deutsch über ihre Phantasien, ihre Sehnsüchte und über die sich rapide wandelnde Realität ihrer Insel.
Eine einzigartige Anthologie voller überraschender Entdeckungen: Vielleicht bedurfte es der fremden Sprache, um das beim Namen zu nennen, was sonst zu persönlich oder zu politisch gewesen wäre.

Das alles sind wir Junge kubanische Prosa Das alles sind wir Junge kubanische Prosa Herausgegeben von Nele Holdack und René Strien okapi Das Projekt der Schreibwerkstatt, dem die Texte dieser Anthologie entstammen, fand statt im Rahmen der Germanistischen Institutspartnerschaft (GIP) zwischen dem Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Fremdsprachenfakultät (FLEX, Facultad de Lenguas Extranjeras) der Universidad de La Habana. Diese Partnerschaft wurde gefördert vom Deutschen Akademischen Austauschdienst. Impressum © 2020 Okapi Verlag // 1. Auflage 2020 OKAPI ist eine Marke der Leetspeak Media GmbH. Foto (Cover) © Carsten Gansel Layout, Typografie:Torsten Nitsche — vanDerner. druck & medien Herstellung:Copy House Digitaldruck Berlin Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Veröffentlichungen, auch nur auszugsweise oder jedwede sonstige Verwendung des Materials, sind nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Verlages möglich. www.okapi-verlag.de ISBN 978-3-947965-07-6 Inhalt Alles ist wie immer Irene Alvarez Sánchez 7 Dunkelheit Camila Y. Fernández Hernández 00 2050 Juan Carlos Bordón Dávila 00 Die Treppe hinauf RACABA 00 Der Schmetterlingssammler Kátherin González Marichal 00 Gebetsstunde Enrique Perez Delgado 00 Ein unverhofftes Ereignis Laura Sosa García 00 Gefrorene Tage Erika María Pacheco Sotés 00 Die Zeit und andere Körperteile Daniel Díaz Hernández 00 Erinnerungen Claudia Martínez Crespo 00 Die Zeit ist eine billige Schlampe J. L. Ginarte Hernández 00 Equilibrium Nathali Hernández Seijo 00 Der Staub Jeimy Duarte Hechavarria 00 Die Autorinnen und Autoren 00 Nachwort Nele Holdack und René Strien 00 Irene Alvarez Sánchez Alles ist wie immer Das Erste, was Juan sagte, nachdem er seine Familie umarmt hatte, war: »Nichts hat sich geändert! Alles ist wie immer!« Wie oft hatte er dasselbe für sich wiederholt, wie oft hatte er sich diesen Moment vorgestellt. Aber sofort bemerkte er ein paar Veränderungen. Ana war nicht mehr das unschuldige Kind. Jetzt wurden ihre Augenlider von einem Lidschatten befleckt, und die Lippen hatten einen künstlichen Glanz. Pedros Gesicht war nicht mehr so rosig, der Schatten eines Bartes wurde erkennbar. Juan sah seine Mutter an. Sie war noch immer die schöne, starke Frau aus seiner Erinnerung. Ihre Haare waren noch schwarz und lang, ihr großer Mund lächelte wie immer, und ihre Arme umfingen ihn mit derselben Zärtlichkeit, die er so lange vermisst hatte. Und trotzdem hatte sich etwas in ihren Augen verändert. Ihr Blick war nicht mehr vergnügt und unbefangen, jetzt glaubte er, etwas wie Angst in ihren Augen zu bemerken. Sein Vater kam wie immer später. Sie umarmten einander, mit der gewohnten Zuneigung und Schüchternheit. Aber Juan fühlte ein neues Unbehagen, eine neue Grenze, die vielleicht aus Scham oder aus unbeabsichtigter Missbilligung entstand. Hinzu kamen andere Veränderungen, subtiler, aber nicht weniger traurig. Die Gewohnheiten waren gleich geblieben, aber Juan empfand sie als unecht. Eigentlich war es pathetisch, dass seine Familie bestimmte Rollen spielen musste, damit er in diesem Haus bliebe. In dieser Welt, die einmal der Ort all seiner Gedanken und Gefühle gewesen war, diesen Zimmern, die ihm jeden Tag dieser zwei Jahren vor Augen gestanden hatten. Heute schmeckte das Brötchen nicht mehr wie damals (seine Mutter sagte ihm, dass die alte Bäckerei vor fünf Monaten geschlossen hatte). Pedro hörte schrille Musik, die ihm fremd und unangenehm vorkam. Einige Möbel waren umgestellt worden. Juan konnte sich nicht mehr mit geschlossenen Augen zwischen ihnen bewegen, so wie er das in seinem kleinen Zimmer die zwei vergangenen Jahre getan hatte, wenn er sich besser fühlen wollte. In diesem kleinen Zimmer, winzig wie eine Kiste, das er mit den Blicken, dem Geschmack, dem Geruch und den Stimmen seiner Familie angefüllt hatte. Er fühlte sich verloren, traurig und müde, so als ob er an einem Ort wäre, zu dem er nicht mehr gehörte. Seine Familie war ihm fremd geworden, und plötzlich spürte er, dass er während dieser ewig langen und schrecklichen zwei Jahre mit einer Lüge gelebt hatte. Einer Lüge, die jetzt die einzige Wahrheit war, der einzige Ort, an dem er leben wollte. Als er sich in sein Bett legte, erwartete er fast, dass der Geruch der Bettlaken sauer und feucht wäre. Dies war der Moment, der ihm klarmachte, dass er in seine eigene, wirkliche Welt zurückqueren wollte. Mitten in der Nacht stand er auf, hinterließ seiner Mutter eine Nachricht und ging fort. Wie gewöhnlich schaute er nach rechts, ehe er die Straße überquerte. Das Auto, das von links kam, sah er nicht. Als er auf den Asphalt schlug, war er schon tot. Einen Monat zuvor hatte man die Fahrtrichtung der Straße verändert. Camila Y. Fernández Hernández Dunkelheit Die Straße ist leer, keine Leute, kein Licht; alles ist in einen Schleier von Dunkelheit gehüllt. Das einzige schwache Leuchten, das ich sehe, kommt von einer einsamen Straßenlaterne an der Ecke. Ich gehe allein, meine Schritte klingen wie auf Klebstoff, Absatz-Spitze-Absatz, immer wieder, ein rhythmisches gedämpftes Geräusch, ähnlich wie es das Herz macht, stetig, aber kaum hörbar. Unter der Straßenlaterne bleibe ich stehen, und in der Stille kann ich fast das schlagende Herz dieser alten Stadt vernehmen. Ein Hund bellt irgendwo auf dem Lafayette Friedhof. Weit entfernt in irgendeiner Kneipe in der Bourbon Street höre ich jemanden etwas von Armstrong spielen. Die Stadt lebt, obwohl sie gerade schläft. Gestern ist der Mardi Gras zu Ende gegangen, die Einheimischen wollen wieder die Ruhe genießen, alle außer mir. Es ist spät, zu spät, ich weiß, dass ich zu Hause in meinem Bett sein sollte. Ich könnte ein wenig schlafen oder wenigstens in dem Buch lesen, das ich schon vor Tagen begonnen habe. Aber ich stehe hier, jetzt, schon wieder … Warum bin ich nicht zu Hause? Warum schlafe ich nicht? Vor ein paar Tagen habe ich zum letzten Mal geschlafen. Ich weiß, dass es für eine Frau gefährlich ist, während der Nacht alleine spazieren zu gehen, aber in dieser Stadt fühle ich mich immer noch zu Hause, auch wenn ich fortgehen muss … Ja, ich muss fort, ich muss diese Stadt verlassen und werde vielleicht nie zurückkommen. In jeder Nacht, die ich schlaflos herumgelaufen bin, habe ich mich gefragt: Wie ist alles so durcheinandergeraten? Die Antwort: Liebe (oder Hass, ganz wie Sie wollen). Eine Frau, die sich in einen Mann verliebt, der sich um nichts sorgt, ist die perfekte Mischung für eine Katastrophe. Ich hatte mich in einen Schriftsteller verliebt, der nach New Orleans gekommen war, um über Mythen, Legenden und die Liebe zu schreiben. Ich glaubte, dass auch mir die Stimmung der Stadt bei der Vorbereitung meiner neuen Herbstkollektion helfen könnte. Ich bekam die Inspiration, er nicht. Alles was er bekam, war eine immer volle Flasche Whiskey und viel Selbstmitleid. Im Laufe der Zeit wurde ich vom Alkoholgeruch und seinen freudlosen Augen krank. Wir fingen an, uns jeden Tag zu streiten, zuerst nur kleine Zankereien, weil er keinen Job hatte; dann über unsere Beziehung und am Ende über die Zukunft. Meistens war er so betrunken, dass er irgendwann plötzlich einschlief und hinterher alles vergessen hatte. Ich war das alles so leid, dass ich ihm sagte, ich würde ihn aus dem Haus werfen, wenn er keinen Entzug machte. Er hatte noch ein kleines Zimmer in einer Seitengasse der Bourbon Street. Obdachlos würde er nicht werden. Eines Nachmittags setzte ich ihn auf dem Bürgersteig ab, und es war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Dass ich ihn lebend sah. Ich hatte nicht bemerkt, dass sich ein paar Häuser weiter zwei streitsuchende Männer auf den Weg machten. Sie waren bewaffnet und wollten Rache nehmen für einen Betrug von jemandem, der ihnen ein gefälschtes Bild verkauft hatte. Ich wusste nicht, dass sie genau auf meinen Exfreund zulaufen würden und dass er wie ein Kollateralschaden im Krieg eines anderen seinen Tod an der nächsten Straßenecke finden würde. Ich liebte ihn nicht mehr, aber ich hatte gehofft, dass er vielleicht noch einmal seinen Weg finden und wieder der Mann werden würde, der er gewesen war. Diese Chance hat er jetzt nicht mehr. Die Stadt beginnt zu erwachen, diese Stadt, die ihn gleich am Tag nach seinem Tod vergaß, denn das war der Tag, als der Karneval begann. Die Sonne geht auf, es wird heller auf der Straße, aber die Dunkelheit in meinem Herzen will nicht weichen. Vielleicht wird es auch für mich mit jedem Schritt heller werden, mit dem ich diese Stadt verlasse. In dieser Stadt, wo ich sein Gesicht und den Schatten seines Blutes auf jedem Bürgersteig sehe, kann ich nicht mehr leben. Ich muss fortgehen, und vielleicht kann ich in einer neuen Stadt eine neue Frühjahrskollektion beginnen. Und vielleicht muss ich nicht mehr allein durch die Straßen einer nächtlichen Stadt laufen; ich werde versuchen, einfach zu vergessen, dass er starb, als ich ihn verstieß. Das Geld von dem Bild wird mir dabei helfen. Mit einem klein bisschen Glück muss ich dann nicht mehr allein durch die Nacht laufen, weil mich sein Geist im Schlaf mit einem einzigen Wort jagt, das er immer wiederholt: »Mörderin.« Juan Carlos Bordón Dávila 2050 In meinem Buch über die Weltgeschichte kann ich ein sehr kleines, aber umstrittenes Land nicht auslassen: Kuba, die größte Insel der Antillen, stellt praktisch den Anfang der verschiedenen revolutionären Bewegungen in der Region dar und hatte deshalb immer eine sehr polemische Beziehung zum nördlichen Nachbarn USA. Das soll aber nicht Thema dieses Kapitels sein, vielmehr werde ich als Kubaner und mithilfe meiner eigenen Erfahrungen berichten, wie sich dieses wunderbare Land verändert hat. Am 1. Januar 1959 stand der Triumph der kubanischen Revolution fest, und ab diesem Datum führte man ein neues Regime ein, damit die Kubaner besser leben könnten. Am Anfang verlief alles relativ gut, dank der Hilfe der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder Europas. Aber diese vielversprechende Revolution entwickelte sich nicht weiter. Dieses Phänomen provozierte eine große Unzufriedenheit in der Bevölkerung, doch die Leute lebten viele weitere Jahre damit. In den Neunzigern kam es wegen des Falls der Sowjetunion zu einer großen ökonomischen Krise. Eines der schlechtesten Jahre dieses Jahrzehnts war 1994, ein Jahr von Armut und Not überall und das Jahr meiner Geburt. 24 Jahre später hatte sich alles ein bisschen gebessert, und die Kubaner konnten jeden Tag essen oder sogar ohne große Sorgen lachen. Ich studierte an der Universität von Havanna, und das war möglich dank der REVOLUTION, die uns freie Bildung und Gesundheit gegeben hatte. Bei all diesen Vorteilen kann niemand sagen, dass dieses Regime diktatorisch war. Allerdings ist nach meiner Meinung eine echte Revolution eine Bewegung, die Entwicklung, Veränderungen und Verbesserungen sucht. Eben deshalb endete diese Stagnation im Jahr 2033, mit dem Beginn des Systems, das ich heute kenne. Das war ein Glück, weil ich nicht mehr leben konnte in einem Land, wo die wichtigsten Notwendigkeiten der Menschen ein Luxus waren. Die Entwicklung, die wir heute im Jahr 2050 haben, ist unvergleichbar mit der Entwicklung der Welt in den 2000er Jahren. Heute müssen wir zum Beispiel für den Einkauf nicht in den Supermarkt gehen, weil unsere Kühlschränke alle Nahrungsmittel direkt im Internet selbst kaufen. Wir müssen unsere Autos nicht tanken, weil sie nur Solarenergie nutzen. Ich kann aber erzählen, dass ich erst im Jahr 2025 mein erstes Auto kaufen konnte, einen Wagen aus den neunziger Jahren, der mich 40.000 CUC kostete – ein Modell, das im Ausland weniger als 1.000 Dollar gekostet hätte. 2025, als alle Leute außer die Kubaner ein eigenes Auto hatten. Für mich war genauso mein erster Facebook-Account ein großes Ereignis, auch wenn dieses soziale Netzwerk damals längst veraltet war. Jetzt bin ich 56 Jahre alt, erinnere mich an alle diese Erlebnisse und lache sogar. Aber in dieser Zeit war die Situation schwierig für jeden Kubaner, und was ich erzählt habe, war nur die Einleitung des revolutionären kubanischen Prozesses. Deswegen werde ich ein weiteres Kapitel in meinem Buch diesem noch nicht erzählten Teil der kubanischen Geschichte widmen. RACABA Die Treppe hinauf Da kommt el señor Vicente. Immer mit dem Album in der Hand. Immer mit seinem Blick auf dem Foto. Dieses Foto begleitet ihn immer. Trotz seiner dicken Brillengläser landen seine Augen darauf. Vorsichtig schaut el señor Vicente dieses Foto an. Vorsichtig, damit die Augen nicht über den Staub stolpern. Der Staub, der nach und nach das Album verschluckt und gerade ein paar Treppenstufen auf diesem Foto entwickelt. Ein verwelktes Foto. Aber el señor Vicente schaut es weiterhin an. Seine Pupillen werden zur Nacht ohne Sterne. Eins, zwei, drei ... Stufen. Die Augen wollen hinauf. Eins, zwei, drei ... Stufen. So weit das Auge gereicht hätte. Der graue Star traut sich nicht, einen einzigen Schritt zu machen. Hinauf ist es immer schwer. Vor allem, wenn es nur ein paar verwelkte Treppenstufen sind. Die Brillengläser können die Tränenwolken nicht mehr im Zaume halten. Sie überschwemmen das Foto. Sie erwecken die Treppe zum Leben. El señor Vicente packt einfach alles mit einem Blinzeln ein. Sieht auf. Die Augen lächeln. Sie erinnern sich daran, die Treppe hinauf. Kátherin González Marichal Der Schmetterlingssammler Er sammelte Schmetterlinge. Er legte sie an die Wände, auf den Tisch, auf den Boden. Am Wochenende ging er mit seinem Schmetterlingsnetz in die Wälder. In der Nacht arbeitete er geduldig, um sie zu konservieren und in den Pappschachteln zu fixieren. Er durchbohrte sie mit aller Zartheit, um auch nicht einen Millimeter dieser dünnen Körper zu brechen. Seine Frau mochte das überhaupt nicht. Ihre ständigen Klagen über mangelnde Aufmerksamkeit hallten durch das ganze Haus und erzeugten ein Echo, das verblasste, bevor es die Ohren des Mannes berührte. Sie sagte ihm, dass er am Ende noch krank werden würde, wenn er nicht schon krank wäre. Er zuckte mit den Achseln. Wer kann die Frauen verstehen? Er verstand nur Schmetterlinge. Eines Nachts wachte er auf und sah einen großen Schmetterling auf dem Bett. Er hatte Schwierigkeiten, ihn mit dem Barbecuespieß zu durchbohren. Der Eindruck, dass dieses Insekt mehr flatterte als jedes andere, das er je zuvor seziert hatte, verblasste schnell, während er mit seiner Aufgabe beschäftigt war. Mit großer Mühe und Umsicht legte er es an die Wand des Raumes. Er bewunderte das schöne Exemplar, das ihm der Zufall beschert hatte, als ihm Zweifel kamen, ob der Schmetterling zwei, vier oder sechs Beine hatte. Gleich am Morgen schrieb er an die Gesellschaft der Schmetterlingssammler, mit der er eine rege Korrespondenz unterhielt, um sich Klarheit zu verschaffen. Was seine Frau betrifft – er hat sie nie wieder gesehen. Er machte sich darüber nicht allzu viele Sorgen. Das Einzige, was ihn interessierte, waren Schmetterlinge. Enrique Perez Delgado Gebetsstunde Invitatorium. Heute war ihm das Bett zu eng oder zu groß. Er wusste es nicht. Vielleicht zu unbehaglich. Es war sein Bett während der letzen zehn Jahre gewesen. Er stand auf und ging direkt in den Großen Saal. In wenigen Augenblicken würde der Raum voll sein mit Gläubigen. Mit denjenigen, die an seine Worte glaubten. Er dachte, dass es vernünftig wäre, das Sonntagstreffen zu verschieben. Nicht jetzt. Er beschleunigte seinen Gang und schloss die Tür zu. Nur nicht jetzt. Er war schweißgebadet, noch eine halbe Stunde bis Sonnenaufgang. Er wollte, dass sie ihn nicht in diesem Zustand sahen. Keiner würde das Geflüster über ihn unterdrücken können. Um 22 Uhr geht es los. Laudes. Er war ins Kloster eingetreten, weil Mama ihn aufgefordert hatte. Durch jede Ader ihres Körpers flossen die Gebetsstunden. Weit entfernt von Mama, aber näher an Gott. Es waren gute Jahre gewesen, von denen fast nichts geblieben war. Prim. In der Küche bereiteten zwei Arbeiter Kaffee. Er saß am Tisch und blickte auf die Zeitung, als ob die Welt noch einmal auf ihn einstürzen würde. Er zerriss sie. Alte Klatschmäuler, die ihr Leben nur mit Klatsch verbrachten. Sie würden nichts mehr von ihm kriegen. Keine Lust zum Essen. Er forderte die Arbeiter auf, die Kirche zu verlassen. Sie sahen aus, als ob sie vom Inquisitionsgericht beauftragt wären. Das versetzte ihn extrem in Aufregung. Terz. Die Gerüchte breiteten sich in den achtziger Jahren aus. Anfangs waren es nur Klischees, die mit dem Beruf einhergehen. Niemand würde das schlucken, sagte er sich stets. Die Welt hat eindringlichere Probleme in diesen Zeiten, um die sie sich kümmern müsste. Sext. Alle waren weg. Sein Zimmer war eher klein. Die Wände grün gestrichen und Uhren überall. Ein nicht zu unterschätzendes Hobby. Sein Vater war Uhrmacher, und er hörte ihnen immer zu, wenn er zu Hause eine Strafe bekam. Sie waren überall im Raum. Einige fragten und machten Kommentare. Die waren ihm egal. Non. Er konnte es nicht mehr ertragen. Er kam nicht vom Fleck. Er würde vor IHM und nur vor IHM antworten. Die Polizei hörte nicht auf, Schnüffler zu schicken. Sie wussten, dass er schwach war, und fanden das Leitmotiv. Dies war sein tägliches Mantra. Vesper. Alles war in Ordnung. Die Jünger saßen. Er musste nicht vor leeren Bänken predigen. ER da oben. Ihm blieb nichts zu tun, nur zu sagen. Die Soldaten von Pontius Pilatus riefen seinen Namen. Sie riefen gottlose Strafen für ihn auf. Fast waren sie schon drinnen. Er hatte doch keine Angst vor dem Sanhedrin! Dieses Sanktuarium war sein Ölberg. Er war doch nicht allein. Unter ihnen war kein Judas. Er wusste, wer Judas war. Er sprach nur kurz. Fast wortlos. Er hatte nicht vor, die Via Dolorosa, seine Via Crucis allein zu laufen. Er hatte das Kreuz zu lange schweigend getragen. Aber keine Steinigung mehr. Er würde nicht mehr hier sein. Komplet. Niemand trat in sein Zimmer. Trotzdem hatte er keine Ahnung, warum dieses Kind das immer aufs Neue machte. Das Kind brachte dort drinnen viel zu viel Zeit zu. Aber es hatte keine Stimme. Kinder haben keine Stimme. Sie können es immer noch weit bringen. Andere, die sich selbst nicht zuhören können, bringen nur Verrat. Laura Sosa García Ein unverhofftes Ereignis Monatelang wurde das alljährliche Gemeindefest vorbereitet. Dieses Mal sollte es im Freien stattfinden, auf dem Feld, deswegen wurden alle möglichen Vorkehrungen getroffen. Sämtliche Nachbarn wurden befragt, und der Tag wurde ausgewählt. Es würde der vollkommenste Tag des Jahres sein. So, auf diese Weise, begann er auch, klar und schön. Die Sonne schien kräftig, und die Straßen füllten sich überall. Und dann, als alle das Fest genossen, als niemand es vermutete, erschienen die ersten dunklen Wolken schüchtern hinter den Bäumen, und die Tropfen begannen zu fallen. Die Ersten, die den Regen bemerkten, verstummten; sie versuchten, ihn zu ignorieren, um ihn so verschwinden zu lassen, aber er wurde unerwartet stärker und setzte sich über alle Vorhersagen hinweg. Anfangs glaubten sie, dass er vorübergehen würde, dass er nur ein Scherz der Natur sei, aber der immer heftigere Regen endete nicht. Nachdem sie stundenlang im Schutz der Bäume gewartet hatten, begannen sie mit dem schmutzigen Wasserstrom ins Dorf zurückzukehren. Es regnete den ganzen Tag und die ganze Nacht. Am nächsten Morgen regnete es immer noch, und es gab kein Anzeichen für ein baldiges Ende. Die Leute beschwerten sich bereits. Die Wetterwarte wurde mit Fragen bedrängt. Einige gaben den Astronomen die Schuld für das seltsame Phänomen. Die Zeitungen protestierten und versuchten Schuldzuweisungen zu machen, auch wenn sie nicht genau wussten, wen sie überhaupt beschuldigen sollten. Tage, Wochen, Monate vergingen, und während die Wissenschaftler die Ursache für den Regen zu entdecken versuchten, um ihn zum Stillstand zu bringen, fingen die Leute an, sich in ihren Häusern zu langweilen und wieder auszugehen. Die Straßen belebten sich wieder, und der Handel mit Regenschirmen blühte. Die Erfindungsgabe der Menschen wurde angeregt. Am Ende verließen alle die Häuser und begannen zu lernen, im Regen zu leben. Die Leute gewöhnten sich an ihren Regen, so sehr, dass sie sich unter ihm wohler fühlten als in ihren Regenhäusern. Die meisten benutzten keinen Schirm mehr oder irgendeinen anderen Regenschutz. Einige zerstörten sogar ihr Heim mit den eigenen Händen. Die Extremitäten der Menschen nahmen die Form von Flossen an, und es sah so aus, als entwickelten sie Kiemen. Die Kindern lernten sofort schwimmen. Sie waren vollkommen glücklich in dem nassen Element und stolz darauf, das einzige Dorf zu sein, in dem es unaufhörlich regnete. In dem ganzen Dorf gab es wieder Ruhe und Frieden, und die besten Tage waren die, an denen es am strömendsten regnete. Doch auf einmal, so wie er gekommen war, ohne Bescheid, ohne Zeichen, endete der Regen, und die Sonne kam wieder zum Vorschein. Die Bewohner fühlten sich immer schwächer und konnten so nicht weiter leben, nach und nach starben sie wie Fische auf dem Trockenen. Heute ist das Dorf nicht mehr als eine Erinnerung im Gedächtnis einiger weniger Überlebender, die aber nicht mehr wissen, wie das Dorf hieß oder ob es überhaupt existiert hat. Manche werden sagen, dass das Schicksal dieser Menschen zu grausam gewesen ist, aber das Leben kennt kein Mitleid. Man muss dabei die Umstände berücksichtigen; weil es im Leben nicht nur darum geht, den Sturm zu überleben, sondern auch unter dem Regen zu tanzen. Erika María Pacheco Sotés Gefrorene Tage Mai 2018. Sie hatte ihn früher schon gesehen. Einmal. Sie konnte sich daran allerdings kaum erinnern. Die Bilder waren noch irgendwo in ihr, aber nicht so, als hingen sie gut sichtbar an einer Wand, sondern sie lagen im Dunkeln ihrer Seele. Es war wie eine Geschichte, die nur einmal erzählt wurde, die aber nie ganz vergehen wollte. Wie Feuer. Wie Blut. Und es sah so aus, als ob diese zwei Dinge zu dem Gefühl gehörten. Feuer und Blut, die Frau, die tonlosen Stimmen. Er. Damals. Und sie. Mai 2018. In einem Fotokurs traf Karl die junge Frau zum ersten Mal. Sie fühlten sich sofort zueinander hingezogen. Kein Verhältnis, aber etwas war da. Sie ahnte ein trauriges Geheimnis hinter seiner männlichen, starken Erscheinung. Irgendwann während einer ihrer Unterhaltungen sprach er davon. Seine Frau Isabel und seine Tochter Grete waren fünfundzwanzig Jahre zuvor verschwunden. Viel erzählte er nicht von diesem Ereignis. Schnell hüllte er sich wieder in sein Schweigen. Die gespannt lauschende, besorgte junge Frau wollte wissen, wie das hatte geschehen können. Aber die Geschichte bestand nur aus diesen zwei Namen und ein paar knappen kleinen Pinselstrichen. Zwei Namen. Das war alles, was sie bekam. Wie sie herausfand, hatte Karl viele Gewohnheiten und Rituale, die fest mit der verschwundenen Frau verbunden waren, aber er besaß kein Foto. Ihr kamen leise Zweifel. Sie sprach Karl direkt an. Die Zeit und die Wörter verbanden sich. Karl sagte immer wieder das eine. Er wolle nach vorn sehen, die Vergangenheit ruhen lassen. Auch sie wollte sich ein neues Leben aufbauen. Etwas, das sie in der leeren Pension, in der sie gewohnt hatte, nicht hatte finden können. Ihre Geschichte war wie seine mit Staub und Schatten gezeichnet. Keine Daten, keine Gründe, nur Hypothesen. Bei beiden gab es irgendwo im Hintergrund eine Wahrheit. Karl hatte sich entschieden, nach dem Verschwinden seiner Familie ein neues Leben zu finden. Vielleicht bedeutete die junge Frau die Begeisterung, die Karl dafür brauchte. Immer wenn sie sich sahen, fühlte sie sich nervös. Die junge Frau hatte Angst vor ihren und vor seinen Erinnerungen. Ihr Herz schlug schneller, so als wolle es aus der Brust springen, sobald sie ihn hörte. Seine Stimme konnte für sie Ratschlag sein oder Befehl. In ihren Ohren klang sie wie ein vertrautes Wiegenlied. Mit all ihren Sinnen sehnte sie sich nach Liebe, aber in ihrer Seele schrie etwas. Alles, was er tat, empfand sie als etwas Besonderes. Er bedeutete ihr sehr viel. Dennoch verstand sie nicht, was das für eine Anziehungskraft war. Sie wollte ihm unbedingt helfen, aber es würde nicht einfach sein. So entschloss sie sich eines Tages, seine wirkliche Geschichte herauszufinden. Es ist Viertel vor zehn, am 16. Oktober 2025. Die Zeit ist wie im Flug vergangen. Heute ist mein vierzigster Geburtstag. Heute bin ich keine junge Frau mehr. Heute habe ich meine persönlichen Antworten. Heute weiß ich, woher ich kam. Wer bin ich? Jetzt kenne ich meine wirkliche Lebensgeschichte. Ich heiße wieder so, wie es meine Eltern wollten. Ich wohne nicht mehr in einer leeren Pension. Heute treffe ich mich mit Karl in einem Café. Es ist schon lange her, dass ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. Als er hereinkommt, stehe ich auf. Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt. Ich bin nervös. Wie immer empfinde ich, dass alles an ihm für mich besonders ist. Ich kann ihn beschreiben, ohne ihn anschauen zu müssen, einen 78-jähriger Körper, weiße Haare, müde Augen und eine vertraute Stimme, die sagt: »Hallo, Grete!« Daniel Díaz Hernández Die Zeit und andere Körperteile Das Band Du arbeitest in einer Kneipe, hat mir ein LKW-Fahrer erklärt. Nicht weit von dem alten Kapitol, meint er weiter, und ich halte die Luft an, als er so leichtfertig »alt« sagt. Als ob tausend Jahre vergegangen wären. Vielleicht fühlt es sich für ihn so an, als ob die Zeit eine langweilige Freundin wäre. Ist mir scheißegal, würde er gern sagen. Ich nicke, flüstere »danke« und laufe durch den Park, wo damals von einer Wahrsagerin die Ankunft eines Märchenprinzen versprochen wurde. Die Wortführerinnen der gemeinsamen Ängste. Ihnen sei Lob und Preis! Die Antwort war einfach ein Scherbengericht. Keine Hexen mehr! Stattdessen sehe ich nur ein paar Männer mit roten Jacken und diese Gespenster zu ihren Füßen. Ich frage mich, ob eine dieser Frauen etwas prophezeit hat. Gab man ihnen die geringste Chance, sich zu verteidigen? Sei nicht dumm. Da bleibt noch das Plakat der Revolutionshelden, aber jemand hat eine neue Botschaft mit grünem Spray darüber geschrieben: »Zumindest sieht die Politik die Radieschen von unten.« Ich sollte nicht lachen. Ich will allerdings auch nicht. Die Stimme der Frau am Flughafen: Wollen Sie gern fliegen? Wirklich gern? Ja. Damals hätte niemand eine solche Frage gestellt. Damals wussten wir, wie man Vorurteile verbergen musste. Sie wollte nur helfen. Alle haben das versucht und sind leider gescheitert. Sie gibt mir ein weißes Band. »Das ist für dein Handgelenk, so dass sie Bescheid wissen.« Ich bin an Bord des Flugzeugs. Über Lautsprecher hören wir alle Anweisungen und Ratschläge, aber es sind zu viele, und ich setze meine Kopfhörer auf. Ich finde Stevie Nicks, und gleich beginnt sie (nie zu laut, immer so klar) »Seven Wonders« zu singen. Ich verstehe zwar nicht viel von Musik, aber ich stand vor der Entscheidung, entweder Stevie Nicks oder das kürzlich wiederveröffentlichte Audiobuch Stephen Kings zu wählen: »Rose Madder« as recorded by the late Ed Harris. Als ich nach D... flog, wurde Sicherheit nicht so politisch behandelt. Zumindest erinnere ich mich nicht daran. Woran ich mich erinnere? An die Stadt. An die langsam verschwindende Stadt. Dreimal, viermal, fünfmal kleiner. Ich dachte, bitte geben Sie mir noch eine Minute, um ein Foto zu machen. Bitte erlauben Sie mir, Abschied zu nehmen. Ich will aus dem Fenster springen und in der Luft schweben und dann, während die Stadt mich beobachtet, will ich bersten. Ich werde Regen. Da ist das Kapitol, und noch einmal befinde ich mich mit meinen Eltern am Tisch, als der Sprecher das damalige Volk über das neue Gesetz informiert. Unvermittelt erfahren wir, dass ein Mann sein Auto in die demonstrierende Menge gefahren hat. Er wird natürlich zu einem Symbol umgewandelt. Hoch oben ist zu lesen: Der ist ein Mann, der uns Stimme und Mut geschenkt hat! Es sah so aus, als ob die Leute zum ersten Mal etwas zu sagen hätten. Wir laufen nebeneinander mit Eimer, Schrubber und Bleichmittel, knien uns nieder und reiben. Am Ende des Tages tragen wir die gleiche beschmutzte Kleidung und gehen Seite an Seite zurück. Es ist merkwürdig. Diese grotesken Bilder bleiben stark und fest, aber jede kleine, geliebte Erinnerung wird mit der Zeit schwächer, als ob wir kein Recht hätten, Frieden zu schließen. Ich lasse mich vom Schmerz verwöhnen. Eine Woche später kaufte ich mein Ticket, und 22 Jahre nach meinem ersten Sterben bin ich hier, um dich zu retten. Der Mann aus B... sagte, ich solle schnell sein. Ich solle dir nur die Information übermitteln, aber das geht einfach nicht. Ich muss dir alles zeigen, so dass du mir glaubst. Vielleicht werde ich ein paar Tage mit dir verbringen. Du gibst einen aus, und wir reden. Ich sage, »mi español no es bueno«, und dann überlasse ich dir das Quatschen. Ich finde heraus, ob du dich an mich erinnerst. Vertraust du mir nicht? Wegen des weißen Bands? Ich kann nicht mehr bloß in der Erinnerung fortdauern. Da bist du. Hinter der Theke. Manche Sachen kann nicht einmal die Zeit verändern. Deine Narbe ist allerdings neu. Ich habe eigentlich viele, aber ich habe mir große Mühe gegeben, sie zu verdecken. Ich setze mich hin, und du sagst: »Willkommen, was wollen Sie trinken?« Wie einfach war es für dich, jeden Barmann davon zu überzeugen, dir etwas zu empfehlen. »Nur die nationale Scheiße. Den Rum wirst du nicht vermissen, Kumpel.« Dann rannten wir und begannen zu trinken. Das hast du nicht vergessen, right? Es gab einen roten Chevy, der noch die Rücksitze hatte. Es war immer einzigartig bei dem Schrotthändler, und du starrtest mich an, und mit geschlossenen Augen murmeltest du: »Wenn du nur ein Mädchen wärst.« Jetzt bin ich eines. Für dich. Um dich zu retten. Claudia Martínez Crespo Erinnerungen Endlich wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Ich konnte die Situation nicht länger ertragen. Trotz der Strapazen und meiner Beinprothese beschloss ich, einen Rundgang zu machen. Die Entdeckung, dass der Ort 25 Jahre hindurch unverändert geblieben ist, war für mich ein Schock. Dieser besondere Ort, an dem sich fremde Leute in Liebhaber verwandelten. Hier hatte auch ich die Liebe auf den ersten Blick gefunden. Alles an diesem Ort trug damals dazu bei, die Atmosphäre zwischen uns angenehm zu gestalten. Die Wellen verursachten ein Gefühl von Ruhe, das mir wohltat. Hier entschieden wir uns, als Paar zusammenzubleiben, und wir lebten intensiv jeden Augenblick. Bis ein großes Unglück in unser Leben getreten ist. Deshalb vermisse ich heute ein noch nicht gebrochenes Herz. Wenn ich an Peter denke, trauere ich um zu früh verlorene Dinge. Mutti. Abschlussball. Plötzlich versagen meine Augen. Ich bin auf eine Zeitung gestoßen, in der zwischen anderen Meldungen zu lesen steht, dass vor fünf Wochen ein furchtbarer Unfall stattfand. Der Mann am Steuer kam ums Leben, weil er ein paar Bier zu viel getrunken hatte. Seine Frau, die sich auf dem Beifahrersitz befunden hatte, war nur knapp mit dem Leben davongekommen. Traurigkeit ist zu meinem Lebensstil geworden. Ich weine sehr viel, oft weine ich aber auch vor Zorn. Ich habe jemandem das Versprechen gegeben, alle Orte, wo wir besondere Momente zusammen verbracht haben, zu besuchen und noch mal unsere Liebe und unser Glück zu durchleben. Obwohl diese Person nicht mehr neben mir ist, muss ich mein Versprechen erfüllen. Deshalb gehe ich mit großen Schwierigkeiten und Schmerzen zu diesem wunderbaren Ort weiter, wo ich Peter geheiratet habe. Dort erinnere ich mich an mein sensationelles Brautkleid, den Brautstrauß aus Rosen. Das Meer war unser Zeuge auch in diesem wichtigen Moment, so wie es seit unserem ersten Treffen immer dort war. Alles an diesem Tag war Freude. Alle haben getanzt. Das Lachen konnte man über die Musik hinweg hören. Alles war perfekt. Doch nun nehme ich wieder die raue Wirklichkeit meines Alltags wahr, und ich verliere meinen Mut. Die Schuld dafür, dass ich diese Momente verloren habe, muss ich auf mich nehmen. Ich frage mich immer wieder, warum ich das getan habe. Tatsache ist, dass ich keine Wahl hatte. Am Ende des Tages war er der Unfallfahrer, und nur ich habe überlebt. Ich musste an unsere zwei Kinder denken. Sie durften nicht alles verlieren. Es gab keinen anderen Ausweg, als für eine Veränderung zu sorgen. Obwohl ich diese gefährliche Last mein Leben lang werde tragen müssen. Obwohl ich mich als herzlose Person fühle. Ich werde es immer geheim halten, egal was kommt. Aber ein Unfall kann der beste Freund einer unzufriedenen Frau sein. Jose Luis Ginarte Hernández Die Zeit ist eine billige Schlampe Morgen werde ich 56 Jahre alt. Die Zeit ist eine billige Schlampe, die niemandem vergibt. Viele Erinnerungen strömen mir durch den Kopf. Gerade denke ich an meinen Vater, meine alten Freunde, die Uni, meine Kommilitonen, meine lange verlorene Jugend. Heute erst verstehe ich meinen alten Vater und seine immer lehrreichen Weisheiten. »Die Zeit, die du für deine Rose gegeben hast, sie macht deine Rose so wichtig«, sagte er häufig zu mir. Am Anfang habe ich nur Bahnhof verstanden. Er meinte, dieser Satz käme in einem Buch für Kinder vor. Konnte das sein? Können Kinder etwas so Tiefgründiges verstehen?, fragte ich mich. Einige Jahre später habe ich »Der kleine Prinz« gelesen, und alles wurde mir klar. Als ich jung war, habe ich viele, sehr viele Situationen des Lebens nicht verstanden. Heute, über dreißig Jahre später, sehe ich die Dinge anders. Ich habe zu vieles lernen müssen, am meisten durch Stolpern und Hinfallen. Aber das ist die beste Art zu lernen, sagte schon mein Papa. Kinder, besonders steht mir dieses Jahr 2018 vor Augen. Ich studierte noch an der Uni, in meinem vorletzten Jahr, und eure Mutter hatte schon ihr Medizinstudium beendet. Seit zwei Jahren arbeitete sie an einer Klinik in Gibara. Zu dieser Zeit waren wir natürlich nur gute Freunde. Ich war an der Fakultät hier in Havanna, und das Geld reichte bei mir für nichts als gerade für das Essen. Sie musste noch zwei weitere Jahre für die alte Castro-Regierung arbeiten, und es war für uns fast unmöglich, uns zu sehen. Wir waren schon verliebt, aber die Situation zu dieser Zeit war allgemein schwierig, sehr schwierig, nicht wie heute. Alles war ausgesprochen teuer und der Lohn zu wenig. Heute haben wir Autos, unser Audi A15 schafft die Fahrt nach Gibara in zwei Stunden, aber damals, im Jahr 2018, gab es nur überfüllte, teure Busse. Deshalb konnte ich nur einmal pro Monat nach Gibara reisen, eine Achtstundenfahrt, um eure Mutter zu sehen. Ich hatte einen kleinen Job als Reiseleiter bei einer winzigen Agentur und konnte so wenigstens ein bisschen verdienen. Das war eine Hilfe für mich und für euren Opa. Klar, wir hatten kein Haus in Vedado. Ein Haus am Strand? Nicht einmal in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir das vorstellen können. Ich wohnte in einem Studentenwohnheim, kostenlos, sicher, wir waren ein sozialistisches Land. Das Essen war ungenießbar. Zweimal pro Woche gab es Fleisch. Meine Freunde haben immer gelästert: »Ist das Straßentaube oder Hähnchen?« Meine übliche Diät bestand aus Brot, Eiern und Piñata. Piñata war ein billiges Erfrischungsgetränk aus Pulver, so sauer, dass man damit die Toilette hätte putzen können. Ich könnte euch aus dieser Zeit noch so viel erzählen, aber ich will euch nicht langweilen. Deshalb werde ich den Rest der Geschichte zusammenfassen. Ich brachte die nötige Geduld auf, und im Laufe der Zeit hat sich alles zum Besseren verändert. Eure Mutter ist hierhergezogen, wir haben eine kleine Wohnung gefunden. Ich habe mein Studium beendet, meinen ersten richtigen Job bekommen, und nach dem Ende der Blockade und des Sozialismus konnten wir heiraten. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, und die kann man nicht an einem Tag erzählen. Die Lehre, die ich gezogen habe, ist, dass ich Geduld hatte und meine Zeit in die richtige Sache investiert habe. Diese ganze Zeit meiner Rose zu widmen war die beste Entscheidung meines Lebens. Nathali Hernández Seijo Equilibrium Havanna 2030. Die Stadt der Lichter. Meine Stadt. Mein Leben. Ich bin Schandra, Schandra Raven, 38 Jahre alt. Ich bin endlich umgezogen! Ich wohne mit meinem Freund Alec, meiner Mama und meiner Oma. Ich wohne da, wo die Lichter die Augen der Menschen blenden. Ich wohne mitten im Herzen der Stadt. Gebäude 9, Wohnung 21. Mein neues Zuhause: groß und leer, keine Möbel, nur schwarze Türen und hermetische Fenster. Aber alles sollte inklusive sein. Ich konnte das gar nicht glauben. Als ich mich beim Einzug das erste Mal in dem leeren Wohnzimmer umsah, ging plötzlich in einer Ecke ein Licht an. Es tauchte ein großes glänzendes Stück Metall aus dem Schatten auf. Ein Roboter, der wie ein Mensch aussah. Es war wirklich unglaublich. Ich habe ihn angestarrt und schließlich den Roboter von Nahem betrachtet. Ich fand ein Schild mit dem Namen: Butler B92130. Ganz links an seiner Hand gab es einen PUSH-Knopf. Diesen habe ich gedrückt, und sofort ging der Roboter an und begann mir alles zu erklären: wie die Wohnung funktioniert und wie sie genutzt wird. Er hat mir das ganze intelligente Haus vorgestellt. Das ist doch Wahnsinn, habe ich gesagt. Was für ein Tag! Morgens früh, 5.30 Uhr. Jeden Tag ist es das Gleiche. Alec und ich stehen auf, dann dusche ich, während Butler B92130 das Frühstück vorbereitet. Ich schminke mich, und gleich nach dem Morgenkaffee gehen wir zur Arbeit. Butler B92130 bleibt allein zu Hause, um die Schaltkreise auf EDV-Viren zu analysieren, das System zu aktualisieren und die Datenverwaltung zu perfektionieren. Alles daheim ist so gut geplant, dass ich nichts zu tun habe. Wie langweilig für mich. Alec und ich haben uns ein Kind gewünscht. Aber heutzutage es ist verboten, Kinder durch die natürliche Methode zu bekommen statt durch künstlich-technologische Vermehrung. Seit dieser Vorschrift verläuft unser Leben völlig anders. Die Stunden verrinnen schnell, die Tage verwandeln sich in Jahre. Jahre, die wir nicht kontrollieren oder ersetzen können. Zeiten, die wir nicht mehr verändern können. Als Kind fragte ich mich immer, wie mein Leben in der Zukunft wohl sein würde. Ein Paradox: »meine« Zukunft und die heutige Zukunft. Ich dachte, dass meine Zukunft eine gesunde, interessante und glückliche wäre. Aber jetzt weiß ich gar nicht mehr, was ich denken soll. Heute fühlen wir nicht mehr selbst. Technologien haben immer mehr Kontrolle über uns. Die Bestimmer, die Leute, die mehr Macht haben, sagen uns, dass alles unter Kontrolle ist, während alles falsch ist, alles immer schlimmer wird. Wie soll das enden? Macht – Kontrolle – schädliche Technologien: So sieht meine Zukunft aus, die heutige Zukunft. Manchmal setze ich mich an meinem Fenster hin, gucke um mich herum und sage: Was ist mit den Menschen passiert? Sofort bin ich wieder in der Vergangenheit. Havanna 2018. Ich bin 25 Jahre alt, lebe mit meiner Familie und meinem Freund Alec. Ich wohne in dem schönsten Haus der Stadt, mit bequemen Möbeln, schönen Türen und offenen Fenstern. Es gibt Häuser, die wie prächtig verpackte Pralinen sind. Man sieht, wie farbenfroh sie außen aussehen, und wenn die Türen aufgemacht werden, ist alles drinnen auf ganz eigene Art wunderbar. Die Gerüche des Essens, das die Mamas kochen, die Oma, die näht, der Freund, der im Garten mit dem Hund spielt, und das freudige Bellen. Was kann uns das Leben mehr bieten? Wir hatten alles. Ich hatte alles. Es gab kein Verbot, einfach Kinder zu bekommen. Technologien waren wichtig, aber vor allem für das Wachstum der Gesellschaft und um medizinischen Fortschritt zu erreichen. Zurück im Havanna von 2030. Meine Stadt erkenne ich nicht wieder. Heute habe ich nur einen Roboter zu Hause und keine eigenen Kinder. Einen Roboter, der keine wirklichen Gefühle, keine Gedanken oder Erinnerungen hat. Er ist nur eine Maschine, mehr nicht. Jeimy Duarte Hechavarria Der Staub Ein Staubfilm hatte sich auf alles gelegt, vom Auto bis zu unseren Haaren. Wir hatten die Fenster geschlossen, aber der Staub lag überall, auf den Sitzen, auf unseren Kleidern. Wir sprachen nicht, er dörrte unsere Kehlen aus. Schon seit einer ganzen Weile hatten weder die Tiere noch die Felder eine Farbe, nichts als Staub. Schon länger war auch der Erdwall nicht mehr von den umliegenden Feldern zu unterscheiden. Alles war eine einzige graue Fläche unter einer stehenden Staubwolke, die sich nicht auflösen wollte. Sie blieb unbeweglich und ausgedehnt, haftete am Weg und an allem, was an dem Weg lag, der alles war, was es dort gab, denn alles war gleich, alles war Erde, und die gesamte Erde war Staub. Das einzige andere war die Sonne, eine Sonne ohne Kern, ohne Strahlen, eine diffuse Sonne, eine Sonne, die nur aus Hitze bestand. Der Rest waren wir. Ich versuchte auf die Uhr zu sehen, um festzustellen, wie lange wir uns schon auf diesem Stück Erde befanden, aber das Zifferblatt war von Staub bedeckt, und obwohl es sich um so trockenen Staub handelte, gelang es mir nicht, es zu reinigen. Nichts half mir, mich zu orientieren. Mittlerweile war die Sonne vom Himmel verschwunden, nur um alsbald von allen Seiten her wieder aufzutauchen. Die Luft war inmitten des Staubes stehen geblieben, undurchsichtig. Vor dem Auto, vielleicht fünfzehn oder zwanzig Meter entfernt, schien der Staub Gestalt anzunehmen, wurde dunkel, dicht. In der Wolke war immer deutlicher eine Figur auszumachen, sie kam auf uns zu. Ich hielt an. Ich glaubte, eine erdige, trockene Stimme zu hören. Als die Figur näher kam, nahm sie eindeutig menschliche Form an. Kein Zweifel, es war ein Mann, ein staubiger Mann, aber ein Mann. Ich betrachtete meine Frau, ich betrachtete mich selbst, wir sahen genauso aus wie er. Ich versuchte zu antworten, aber ich konnte nicht, weil sich meine Zunge auflöste und ich einen staubigen Geschmack im Mund spürte und einen erdigen Strom in den Venen. Die Autorinnen und Autoren Irene Alvarez Sánchez wurde am 24. Juli 1995 in Artemisa, Kuba, geboren. Sie studiert an der Fremdsprachenfakultät der Universität Havanna Germanistik mit Englisch als zweiter Sprache und einem Schwerpunkt auf Übersetzungsforschung. Sie spricht neben ihrer Muttersprache drei Fremdsprachen – Deutsch, Englisch, Türkisch – und arbeitete bereits als Reise­leiterin und als Dolmetscherin. Sie liebt das Reisen, und 2017 durfte sie am studen­tischen Austauschprogramm der Justus- Liebig-Universität in Gießen teilnehmen. So machte sie ihre erste Auslandserfahrung. Wenn sie nicht schreibt, treibt sie am liebsten Sport oder trifft sich mit Freunden. Immer aber achtet sie beim Überqueren von Straßen darauf, aus welcher Richtung die Autos kommen. Juan Carlos Bordón Dávila wurde am 5. August 1994 im Zentrum von Kuba geboren, in Morón. Seit seiner Kindheit liebt er die Fremdsprachen, und nach dem Militärdienst begann er Germanistik an der Fremdsprachenfakultät in Havanna zu studieren. Deutscher Fußball ist seine Leidenschaft, und außerdem interessieren ihn die deutsche Kultur und Gewohnheiten. Kurz nach Studienbeginn hatte er die Möglichkeit, dieses Land selbst kennenlernen, und das war ein einschneidendes Erlebnis. Er mag Politik nicht, aber diskutiert immer über die gesellschaftlichen Probleme seines Landes und versucht Nachteile wie Vorteile zu erkennen, um ein gelungenes Leben hinzubekommen. Daniel Díaz Hernández ist auf Kuba geboren und aufgewachsen, und wie alle Möchtegernschriftsteller musste er schnell realisieren, dass er etwas tun sollte, während die Träume noch jung und stark und naiv waren, so dass er nicht verhungerte. Deswegen verbrachte er während seines Germanistikstudiums an der Universität Havanna ein Semester am Institut für Sprache, Kultur und Literatur der Justus-Liebig-Universität in Gießen und hofft, dass sein „künstlerisches“ Amalgam von Tarantino, Clive Barker, Lars von Trier und Body-Horror fruchtbar und beliebt wird. Bis heute schreibt er weiter Kurzgeschichten und raucht viel, und fast immer machen seine Worte keinen Sinn, obwohl die Titel seiner Texte gut genug sind. Das sagt nicht er, sondern das haben andere gesagt. Jeimy Duarte Hechavarria wurde am 28. September 1991 in Havanna, Kuba, geboren. Er lebt derzeit in Ost-Havanna. Im Alter von 5 Jahren begann er die Grundschule »Mariana Grajales« zu besuchen, wo er am Turmspringen teilnahm. Im Alter von 12 Jahren wechselte er auf die Sekundarschule »Otto Barroso«. Während dieser Zeit hat er Baseball, Taekwondo und Fußball praktiziert. Als er 15 Jahre alt war, machte er seinen Schulabschluss und begann die Voruniversität. Danach verbrachte er ein Jahr im Militärdienst. Anschließend studierte er zwei Jahre lang Philosophie. In dieser Zeit spielte er wieder Fußball und übte sich im Capoeira. Derzeit studiert er an der Fremdsprachenfakultät der Universität Havanna Germanistik, mit Italienisch als zweiter Sprache. Seit zehn Jahren praktiziert er die Yoruba-Religion, die eine Tradition in der kubanischen Kultur ist. Diese Religion ist sehr interessant und sehr umstritten. Jeder Mensch hat seinen eigenen Heiligen und ist mit ihm durch eine Reihe von geheimen Zeremonien verbunden. Derzeit praktizieren fast 50 Prozent der Kubaner es, obwohl andere Religionen seine Prinzipien leugnen. Camila Yaloddé Fernández Hernández ist 24 Jahre alt und wurde in der Stadt Havanna geboren, wo sie noch immer wohnt. Schon lange nennen einige ihrer Freunde sie einen Sprachfreak. Warum? Als kleines Mädchen lernte sie bereits Englisch, und nach dem Abitur studierte sie zwei Jahre lang Englisch und Französisch. Sie wechselte zu Germanistik mit zwei weiteren Fremdsprachen, Japanisch und Katalanisch. Man kann sagen, dass ihre großen Hobbys Lesen und Musik sind. Das hat dazu geführt, dass sie vieles kennenlernte, und sie begann sich für verschiedene Orte in der Welt, ihre Kultur und ihre Geheimnisse zu interessieren. Einer dieser Orte ist New Orleans, die Stadt, in der ihre Geschichte »Dunkelheit« spielt. Sie entstand als Antwort auf eine Englischprüfung, wobei die ursprüngliche Geschichte viel mehr auf die Phantasie und die Mythen um das berühmte »French Quarter« ausgerichtet war und sich nun weiterent­wickelt hat. José Luis Ginarte Hernández kommt aus Holguín und ist in Mayarí geboren und aufgewachsen. Mayarí ist ein kleines Dorf, es liegt im Nordosten von Holguín und ist der Geburtsort der Brüder Castro. Als Kind war sein Traum immer, Baseballspieler zu werden, aber das war nicht möglich, weil er sich schließlich zwischen Sport und einer Ausbildung entscheiden musste. Mit 18 hat er das Studium gewählt: deutsche Sprache. Die deutsche Sprache, Kultur und auch Mentalität faszinieren ihn. Einen Monat später begann er den Militärdienst, die schlechtesten 14 Monate seines Lebens. Schon an der Uni hat er eine Frau kennengelernt, und sie hat ihn inspiriert, seine Liebegeschichte zu schreiben. Leider ist ihre gemeinsame Geschichte beendet, aber heute eine schöne Freundschaft. Er studiert noch an der Fremdsprachenfakultät von Havanna, mittlerweile im letzten Jahr. Er mag es, Baseball und Fußball zu spielen, Filme und Fernsehserien zu sehen, sich mit seinen Freuden zu unterhalten und mit seiner Freundin spazieren zu gehen. Kátherin González Marichal, geboren am 1. Juli 1995 in Sancti Spíritus, Kuba, ist mit ihren 23 Jahren eine junge Frau, die noch die Vorstellungskraft eines Kindes hat. Sie ist in einem kleinen Dorf im Zentrum der Insel im Schoße einer kleinen Familie als Einzelkind aufgewachsen und war immer auf der Suche nach fiktiven Figuren, mit denen sie auf Abenteuer aus sein könnte. Für viele war der Ort dafür einfach der Garten des Hauses, für sie exotische und unerforschte Gegenden in aller Welt, die sie sich ausmalte. Sie hat ein bisschen Klavier gelernt, auch Gitarre, Malerei, hat Schreibkurse besucht und alle denkbaren Sportsarten betrieben sowie an Theaterstücken in der Schule teilgenommen. »Mama hat mich als die beste Künstlerin aller Zeit gesehen und Papa als die vorbildliche Schülerin, die Zukunft der Familie. Für Oma war ich einfach eine kleine Puppe, die ihre Süßspeisen und handgemachten Verkleidungen liebte. Und ich, was kann ich sagen? Das war für mich ein tolles Vergnügen, das Jahre andauerte. Die Geschichte ›Der Schmetterlingssammler‹ bedeutete eine Wiederbegegnung mit diesem kleinen Mädchen. Nach Jahren ohne etwas zu schreiben war es nicht nur eine Herausforderung, sondern auch ein kleines Stück gelebte Sehnsucht.« Nathali Hernández Seijo ist 1992 in Havanna geboren und auch dort aufgewachsen. Als Kind entwickelte sie eine Schwäche für Sprachen, besonders für die deutsche Sprache – dank ihrer Mutter, die Reiseleiterin war und nach und nach alle ihre Geschichten und Erfahrungen teilte. In den Teenagerjahren spielte die Kunst eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Sie hatte eine große Vorstellungsgabe, weswegen sie sich nicht nur für Sprachen, sondern auch für Tanz, Musik, Modeln, Handarbeit interessierte. Seit damals weiß sie, dass Sprache ihre Passion ist. Heute ist sie Studentin an der Fremdsprachenfakultät der Universität Havannas. Dort hat sie an verschiedenen Kunst- und Literaturseminaren teilgenommen und viel Erfahrung gesammelt. Sie sagt dennoch, dass das, was sie beeinflusst, einen Text zu schreiben, das Leben ist. Deshalb hat sie »Equilibrium« geschrieben. Eine Geschichte, die zeigt, wie ausdrucksvoll die Menschen im Leben sein können, wenn die materiellen Bedürfnisse befriedigt sind und keine anderen menschlichen Gefühle als das Glück existieren. Claudia Martínez Crespo wurde am 27. März 1996 geboren. Sie wuchs in Vedado, einem Stadtteil von Havanna, auf und wohnt noch immer dort. Als Kind lernte sie spanischen Tanz, und das Tanzen gefällt ihr bis heute. Bereits in jungen Jahren lernte sie Englisch und erwarb mit zwölf Jahren ein Cambridge-Sprachzertifikat. Ihr Interesse für Sprachen führte sie dann auch zum Fremdsprachenstudium an der Universität von Havanna. Ihre erste Fremdsprache ist Deutsch, die zweite natürlich Englisch, Italienisch die dritte. Sie genießt es, andere Sprachen zu sprechen und findet es interessant, Kontakt mit Menschen, die aus anderen Ländern kommen, zu haben und deren Kultur kennenzulernen. Sie ist eine empathische Person, deshalb schrieb sie eine Geschichte, die einige der Gefühle, die Menschen üblicherweise fühlen, behandelt. Gefühle, die vielleicht für einige als schlecht gelten und die diese nicht spüren wollen: Angst, Einsamkeit, Traurigkeit, Mutlosigkeit, Unglück. Aber am Ende machen auch diese »schlechten« Gefühle einen Teil unseres Lebens aus. Wir müssen uns ihnen im Hinblick auf diese Tatsache immer versuchen zu stellen. Erika María Pacheco Sotés wurde am 16. Oktober 1996 in Villa Clara, Kuba, geboren. Bereits als Zehnjährige hat sie an literarischen Wettbewerben über die Werke von Mark Twain, Onelio Jorge Cardoso und den Nationaldichter Kubas, Nicolás Guillén, teilgenommen. Besonders die beiden zuletzt genannten kubanischen Schriftsteller haben einen starken Einfluss auf die Autorin ausgeübt. Zwei Jahre später schrieb sie eine Gedichtsammlung für Kinder. Während der Sekundarschule und des Gymnasiums war sie eine aktive Sportlerin und weiterhin Teilnehmerin an Literatur- und Schreibwettbewerben. Damals wollte sie nicht mehr in Villa Clara leben und zog nach Havanna, um ihren Traum zu verwirklichen: die deutsche Sprache, Kultur und Literatur zu studieren. Deshalb hat sie im Jahr 2014 an Havannas Universität ihr Germanistikstudium begonnen. Mit der räumlichen Distanz zu ihren Freunden und ihrer Familie in Villa Clara wurde es für sie notwendig, ihre Gefühle zu artikulieren. So entstand die Kurzgeschichte »Gefrorene Tage«. Heute wartet sie auf das Wiedersehen und darauf, vielleicht diese gefrorenen Tage zu überwinden. Enrique Perez Delgado, geboren und aufgewachsen auf Kuba, Nerd von Geburt an. Über die Jahre hat er sich viele Ziele gesetzt, Schriftsteller zu sein fand man auf keinen Fall darunter. Neben seinem Job als Dolmetscher beschäftigt er sich mit dem Schreiben von kleinen Erzählungen und Geschichten. Zu seiner Leidenschaft hat er zufällig gefunden, und jetzt spielt Literatur in seinem Leben die erste Geige. Träume hat er viele, die ihn jeden Tag antreiben, die ihn auch jeden Tag enttäuschen. Allerdings übernehmen diese die Hauptrollen in seinen Famous-wanna-be-Krimis. RACABA (Ramón Caro Barrios), 1991 in Havanna geboren, studiert Germanistik. Er interessiert sich sehr für Fantasy-Literatur, Kinderliteratur und andere erzählende Prosa. Metaphern sind ein literarisches Mittel, das er besonders gern in seinen Texten benutzt, wie auch die Kunstsprache. Die Natur und die Philosophie sind Elemente, die er häufig thematisiert und denen er immer eine fantastische Nuance gibt. Er hat schon ein paar Kurzgeschichten und Märchen geschrieben, u. a. »Die Farben des Gartens« und »Der Elefant, die junge Insel und der kleine Fisch«. Im Moment beschäftigt er sich mit literarischen Übersetzungen. In der Kurzerzählung »Die Treppe hinauf« versucht er den Leser darauf aufmerksam zu machen, welche Geheimnisse ein Foto bergen kann, und auch die wichtige Rolle der Erinnerung im Leben zu betonen, das Hauptthema der Geschichte. Laura Sosa García wurde am 8. August 1995 in der Provinz Ciego de Ávila, Kuba, geboren. Als sie klein war, mochte sie alle künstlerischen Ausdrucksformen, also begann sie klassisches Ballett, dann spanisches Ballett und schließlich traditionellen kubanischen Tanz zu lernen. Im Alter von 8 Jahren nahm sie an ersten literarischen Kursen teil, bei denen ihr Interesse an Poesie und Fabelschreiben im Vordergrund stand. In Literaturworkshops traf sie sich immer wieder mit Freunden verschiedenen Alters, um ihre Arbeiten zu teilen, die meist Gedichte waren. Nach dem Abitur beschloss sie, ihrer Leidenschaft für Sprachen zu folgen, weshalb sie sich für ein Studium der deutschen Sprache entschied. Im Moment lebt sie in Havanna und ist im letzten Jahr des Germanistikstudiums. Sie möchte Übersetzerin werden. Sie mag am liebsten fantastische Geschichten, und ihre Geschichten haben immer eine Moral. Deswegen hat sie »Ein unverhofftes Ereignis« geschrieben. Nachwort 2019 wurde Havanna 500 Jahre alt; zugleich erleben die Stadt und ganz Kuba eine nachdrückliche Umwälzung ihrer Geschichte. Der tiefgreifende politische, soziale und wirtschaftliche Umbruch betrifft nicht zuletzt die Jugend des Landes, die sich mehr und mehr nach außen zu orientieren versucht und dabei vielfältigen Einflüssen ausgesetzt ist. Auf diese Herausforderung reagieren die jungen Kubanerinnen und Kubaner auf unterschiedlichste Weise, auffallend oft aber kreativ und künstlerisch. Das betrifft die Graffitiszene ebenso wie den Einfallsreichtum, mit dem man sich Ersatz für das Internet oder Zugang zu WLAN-Netzen verschafft. Es zeigt sich gleichfalls in Tanz, Musik, bildender Kunst und, viel selbstverständlicher als etwa in Deutschland, auch im literarischen Schreiben. Die vorliegende Anthologie entstand im Rahmen eines seit 2009 laufenden Projektes zwischen der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Universität von Havanna. Die jährlich in Havanna stattfindenden Seminare, von Dozenten aus Deutschland angeboten, sind in das dortige Studium integriert und stellen erkennbar eine für die Studierenden interessante Ergänzung dar, da große Neugier bezüglich deutscher Jugendkultur besteht und insgesamt der Stellenwert von Literatur im konsumierten Medienmix (trotz rasanter Verbreitung von Smartphones und Laptops) weiterhin beträchtlich erscheint. Der Langzeitaspekt dieses deutsch-kubanischen Projektes ermöglicht dank der jährlich stattfindenden Seminare, deren Gestaltung in aufeinander aufbauenden Zyklen zu planen. Vielfach können Studierende so über mehrere Jahre begleitet werden, was zusammen mit einer bereits vorhandenen, durchweg beeindruckenden Sprachkompetenz die Möglichkeit eröffnet, anspruchsvollere Aufgaben anzugehen, als sonst in einem Seminar von Gastdozenten üblich ist. Auch die Schreibwerkstatt, der diese Texte zu verdanken sind, wurde aus den Erfahrungen vorangegangener Jahre entwickelt. Auffällig war dabei die immer wieder hohe Bereitschaft der Studierenden, eigene kreative Leistungen zu erbringen. Das ermutigte die Dozenten dazu, die Studierenden anzuregen, konkret selbständige deutschsprachige Texte zu verfassen. Es war für die Abschlussarbeit eines Wahlpflichtkurses sicherlich ein hoher Anspruch, durch Erzähltechnik und Gehalt von zuvor gemeinsam analysierten deutschen Gegenwartstexten angeregte, eigene kurze Geschichten auf Deutsch zu verfassen: Literarische Kreativität in einer fremden Sprache ist schon für professionell Schreibende eine häufig genug nicht zu bewältigende Herausforderung. Um die Hürde nicht zu hoch werden zu lassen, wurde die Schreibarbeit durch praktische Übungen begleitet. Zudem wurden gemeinsam Lektoratskriterien zur Bearbeitung von literarischen Werken am Beispiel der präsentierten Texte erarbeitet, was die Studierenden anschließend in die Lage versetzte, die eigenen Arbeiten zu verbessern und danach in der Rolle des »Lektors« den Mitstudierenden Überarbeitungsvorschläge zu machen. Da die Teilnehmerinnen und Teilnehmer regulär benotet wurden und so einen studienrelevanten Leistungsnachweis erbringen konnten, durfte man durchaus ein gewisses Engagement erwarten. Sehr schnell wurde jedoch deutlich, dass der Anreiz, die eigenen Texte veröffentlicht zu sehen (ein Aspekt des Projektes, der die Ernsthaftigkeit der kreativen Anstrengung zusätzlich fördern sollte), die Studierenden weit mehr anspornte als die Aussicht auf eine gute Zensur. Im Rahmen der Schreibwerkstatt entstanden die vorliegenden 13 literarischen Erzählungen, von jungen kubanischen Studierenden in deutscher Sprache geschrieben. Die selbst verfassten Geschichten wurden von den studentischen Autorinnen und Autoren vor der Gruppe vorgelesen und im Anschluss diskutiert. Dann wurde in wechselnden Zweiergruppen ein Lektoratsprozess unter den Studenten angestoßen, der sich über die Seminardauer hinaus erstreckte. Der Eingriff der Dozenten beschränkte sich auf ein behutsames abschließendes, formales Korrektorat. Die kurzen Autorenviten, gleichfalls von den Studierenden selbst verfasst, wurden ausführlich im Seminar präsentiert. Die sich dabei ergebende Diskussion entwickelte sich zu einem so nicht von den Dozenten erwarteten Höhepunkt des Kurses: Sie wurde in einer derart offenen, kritischen und reflektierten Weise geführt, wie sie in einem anderen Kontext, ganz besonders vor von außen Hinzugekommenen, schwerlich vorstellbar wäre. Das Niveau der Reflexion sowohl der persönlichen Lebenssituation als auch ihrer gesellschaftlichen Aspekte war beeindruckend. Selbst schwierige Themen wie der politische Umbruch und die Situation von religiös (etwa in den tradierten Yoruba-Riten) engagierten Kubanern wurden in aller Offenheit diskutiert. Abgerundet wurde die textliche Selbstdarstellung durch ein Foto der studentischen Autorinnen und Autoren. Die Auswahl des jeweils am besten geeigneten Bildes erfolgte ebenfalls in der Gruppe und war ein gelungener Abschluss, der für viel Heiterkeit und die Erkenntnis sorgte, dass die Wahl eines Selbstbildnisses immer auch eine Interpretation der eigenen Persönlichkeit darstellt. Diese Fotos, die kurzen biographischen Einblicke und vor allem die Geschichten stellen aus Sicht der Herausgeber in beeindruckender und literarisch reizvoller Weise eine kubanische Generation vor, die sich durch besondere Dynamik und Kreativität auszeichnet. Auf wie vielfältige Weise sich dies manifestiert, zeigt diese Textsammlung mit dem von den Studierenden selbst gewählten, treffenden Titel »Das alles sind wir«. Nele Holdack und René Strien Januar 2020

Erscheinungsdatum
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Maße 1400 x 1920 mm
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Germanistik
ISBN-10 3-947965-07-9 / 3947965079
ISBN-13 978-3-947965-07-6 / 9783947965076
Zustand Neuware
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