Notre-Dame (eBook)

Die Seele Frankreichs | Die wechselvolle Geschichte des ikonischen Bauwerks

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
239 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-76714-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Notre-Dame - Agnès Poirier
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Im April 2019 hielt die Welt den Atem an und blickte voller Entsetzen nach Paris, als die berühmte Kathedrale Notre-Dame in Flammen stand. Auch die Journalistin und Pariskennerin Agnès Poirier, deren Apartment gegenüber der gotischen Kathedrale liegt, bangte um »?ihre? Dame«. In ihrem Buch lässt sie uns nicht nur die Stunden der Katastrophe nacherleben, sondern erzählt die wechselvolle Geschichte des ikonischen Bauwerks von der Grundsteinlegung im Jahr 1163 bis heute. Während ihres sich über zehn Jahrhunderte erstreckenden Bau- und Umbauprozesses, überdauerte sie nicht nur historische Wendepunkte wie die Französische Revolution und die Besetzung der Stadt im Zweiten Weltkrieg, sondern inspirierte zahllose Künstlerinnen und Künstler - dem achtzehnjährigen späteren Schriftsteller Paul Claudel bescherte sie gar ein religiöses Erweckungserlebnis - und avancierte im »Glöckner von Notre-Dame« vor einem internationalen Publikum zum Leinwandstar.

Agnès Poirier lässt die Geschichte Notre-Dames neu aufleben, skizziert die Debatte um ihren Wiederaufbau und lässt keinen Zweifel daran, dass die beeindruckende gotische Kathedrale wie kein anderes Bauwerk die »Seele Frankreichs« verkörpert.



<p>Agnès Poirier, 1975 in Paris geboren, schreibt unter anderemfür <em>Le Monde</em>, den <em>Guardian</em>und die <em>Times</em>. 2019 erschien ihr Sachbuch <em>An den Ufern der Seine - Die magischen Jahre von Paris 1940-1950</em>. Poirier lebt in London und in Paris.</p>

Prolog


Meine Erinnerungen an den Abend, als Notre-Dame brannte, sind ein Kaleidoskop von Bildern, aufeinanderprallende Emotionen in schneller Abfolge: Wie ich durch mein Küchenfenster hellgelbe Rauchschwaden gen Himmel steigen sah und sofort die Treppe hinunterstürzte und hinaus auf den Quai de la Tournelle, um genau gegenüber von Notre-Dames Südrosette stehen zu bleiben, während aus dem Dach rote und orange Flammen schossen; das widerhallende Schweigen der Menge, der entsetzte Ausdruck in den Augen der Menschen, die grauenhafte Schönheit des Augenblicks, während Tränen über Wangen rannen, sich Lippen in stummen Gebeten bewegten; die Feuerwehrleute, die mit ihrem präzisen, fokussierten Handeln wie Feldchirurgen anmuteten, die Wasserschläuche, die plötzlich aus allen Himmelsrichtungen wie riesige Schlangen auftauchten, der wie eine brennende Fackel wirkende Spitzturm kurz vor dem Einstürzen, das rosa schimmernde mittelalterliche Gestein vor dem königsblauen Himmel; dann der schwarze Rauch, der aus dem Nordturm stieg, und der unerträgliche Gedanke: Unsere Liebe Frau könnte untergehen.

Wir brauchen Gewissheiten: Sie geben unserer Existenz einen Rahmen, sind die Wegweiser, ohne die wir nicht durchs Leben navigieren, geschweige denn die unzähligen Prüfungen und Anfechtungen des Schicksals bestehen können; 850 Jahre lang war Notre-Dame eine solche Gewissheit. Jene, die es vergessen hatten, wurden am Abend des 15. April 2019 auf schockierende Weise daran gemahnt. Wenn Notre-Dame vor unseren Augen in sich zusammenfallen und aus unserem Leben verschwinden konnte, konnten dies auch alle anderen Gewissheiten – Demokratie, Frieden, Völkerverständigung. All die Schulleiter von Paris, die Psychologen engagierten, um am Morgen danach die Kinder zu betreuen, hatten das sehr wohl verstanden. Viele Kinder brachten Plastikbeutel voller kleiner schwarzer Holzfragmente mit, die sie von Balkonen und Gehsteigen aufgelesen hatten. Ihre Eltern hatten ihnen gesagt, dass diese winzigen Kohlestücke in die Zeit der Kreuzzüge zurückreichten, und die Kinder bedurften jetzt ganz einfach der Vergewisserung, dass das Geschehene nicht unwiederbringlich war. Ihnen Trost zu spenden war einfacher, als uns selbst zu trösten.

Als an jenem Abend die ersten Bilder der Tragödie die sozialen Netzwerke und die Fernsehbildschirme überfluteten, brandete fast unmittelbar danach an der Pariser Île de la Cité, der Wiege Frankreichs, eine Welle der Emotionen aus allen Teilen der Welt an. Wie schon so oft in unserer Geschichte fühlten wir Pariser uns als Teil der Welt, in Trauer und Schmerz vereint.

Warum fühlten wir uns alle so traumatisiert?

Notre-Dame war seit jeher mehr als nur eine Kathedrale, ein Gotteshaus für Katholiken und ein schönes Bauwerk, dessen Glasfenster aus dem dreizehnten Jahrhundert datieren und somit zu den ältesten und besterhaltenen zählten. Notre-Dame ist eine der größten architektonischen Errungenschaften der Menschheit, das Antlitz der Zivilisation und die Seele unserer Nation. Sowohl heilig als auch profan, gotisch als auch revolutionär, mittelalterlich als auch romantisch, war sie für die Menschen schon immer ein Ort der Zusammenkunft und der Zuflucht, ob für Gläubige oder Atheisten.

Victor Hugo hat mit seinem missgestalteten Glöckner Notre-Dame zu einer weltweit bekannten Heldin gemacht und sie dem Prozess der schnöden Vernachlässigung entrissen, der zweihundert Jahre zuvor begonnen hatte. In den 1860ern erstand sie in neumittelalterlicher Pracht wieder auf, und zwar dank des Architekten Eugène Viollet-le-Duc, eines Experten für mittelalterliche Kunst; er restaurierte sie und stattete sie mit einem Spitzturm über der Vierung aus, dem Zeichen ihrer Wiedergeburt. Durch die neuen Kunstrichtungen Fotografie und Kino wurde sie zu einer universalen Ikone und, zusammen mit Quasimodo, Esmeralda und den schaurigen oder grotesken, aber liebenswerten Wasserspeiern, die ihre Fassade schmücken, zu einer Figur aus Fleisch und Blut in der kollektiven Vorstellungswelt. Auf diese Weise wurde die Liebe zu Notre-Dame, diesem lebenden Wesen in Gestalt einer Kathedrale, von Generation zu Generation weitergetragen.

Auch ihre faszinierende Schönheit ließ die Möglichkeit, sie könnte eines Tages untergehen, unvorstellbar erscheinen. Im Lauf von zehn Jahrhunderten erbaut und immer wieder umgebaut, ein kontinuierlicher Work in progress der Perfektion. Notre-Dames Anmut ist sowohl einzigartig als auch facettenreich. Jeder Betrachter hat seinen eigenen Lieblingsblickwinkel auf die Kathedrale. Bei einigen ist es die Aussicht von der Pont de l’Archevêché, wenn man vom linken Seineufer in Richtung des Gartens schräg unterhalb ihres Strebewerks geht, oder von ein wenig weiter östlich, von der Mitte der Pont de la Tournelle, von wo aus sich die Kathedrale wie der majestätische Bug eines Schiffs namens Frankreich erhebt. Für wieder andere ist es der Ausblick vom Quai d’Orléans auf der Île Saint-Louis, der anderen der beiden Pariser Binneninseln, wo sie mit einem Mal an der Biegung des baumbewachsenen Ufers auftaucht, oder ganz einfach von der Mitte des Vorhofs – dem Platz vor dem Haupteingang der Kathedrale –, von wo aus man das westliche Rosenfenster und die Zwillingstürme in ihrer ganzen Pracht vor sich hat. Oder aber vom Quai Montebello und der Terrasse des Buchladens Shakespeare & Company.

Pablo Picasso wiederum gefiel die Aussicht vom rückwärtigen Garten. Am 15. Mai 1945 fragte der Stierkampf-Aficionado den Fotografen Brassaï: »Haben Sie Notre-Dame von hinten fotografiert? […] Mich hat diese Spitze auch überrascht […] sie wirkt wie eine in den morillo gebohrte banderilla!«1

Mein liebster Blickwinkel ist indes der von der Ecke Rue de la Bûcherie und Rue de l’Hôtel Colbert aus, wo im Oktober 1948 Simone de Beauvoir ein kleines Mansardenzimmer mit Blick auf den Spitzturm mietete, und zwar unterhalb vom Quai Montebello, am Fuß der drei mittelalterlichen Stufen, direkt neben dem Bauwerk. Wenn man auf Straßenhöhe steht, macht dieser schmale Ausschnitt von Notre-Dame einen neugierig, sodass man mehr von ihr sehen möchte und sie einen unweigerlich näher heranzieht.

Nie erscheint Notre-Dames Schönheit als etwas Selbstverständliches, Gegebenes; immer wieder aufs Neue erkennen wir ein Wunder in ihr, immer wieder aufs Neue fasziniert sie uns, wann immer ihr Blick dem unseren begegnet. Das Geheimnis ihrer Anmut liegt in einer wirkmächtigen Mischung aus Vertrautheit und Vornehmheit, aus Wärme und Grandezza. Wie kann ein Bauwerk einem so vertraut und doch zugleich so imposant sein?

In die Vergangenheit Notre-Dames einzutauchen heißt zugleich, die Seele Frankreichs zu ergründen, eine Geschichte voller Ruhm, Schmerz und Widersprüche. In den 850 Jahren ihres Bestehens hat Notre-Dame sowohl das Beste als auch das Schlechteste, was Frankreich hervorbrachte, miterlebt. Am 15. April 2019 starb sie beinahe in Folge menschlichen Leichtsinns und wurde quasi erst auf dem Sterbebett durch den Mut von Menschen gerettet, die bereit waren, ihr Leben für sie hinzugeben.

* * *

Das vorliegende Buch ist unter anderem eine Hommage an Maurice de Sully, den Bischof von Paris und Bauernsohn, der im ausgehenden zwölften Jahrhundert die ersten Arbeiten an der Kathedrale in Auftrag gab; eine wichtige Rolle kommt auch Heinrich IV. zu, der, als ihm klar wurde, dass er nicht gegen Paris würde regieren können, zum Katholizismus konvertierte, Notre-Dame seinen Respekt erwies und ein Land einte, das durch einen dreißig Jahre währenden Krieg zwischen Protestanten und Katholiken zutiefst gespalten war. Heinrichs Sohn, Ludwig XIII., weihte in Notre-Dame seine Krone und damit Frankreich der Jungfrau Maria, und seine Hoffnungen wurden tatsächlich erfüllt, und er bekam mit dem späteren Sonnenkönig Ludwig XIV. einen Thronerben.

Im Jahr 1789 und in der darauffolgenden Zeit von Robespierres Schreckensherrschaft spielte der schlaue Organist von Notre-Dame Revolutionslieder und die Marseillaise statt Kirchenliedern, und ein nicht minder gewiefter Kanonikus beschloss, die Statuen vom Sonnenkönig und dessen Vater in Sicherheit zu bringen, während er es der Jungfrau Maria überließ, sich selbst gegen grimmige Atheisten und stramme Republikaner zu verteidigen....

Erscheint lt. Verlag 26.10.2020
Übersetzer Monika Köpfer
Sprache deutsch
Original-Titel Notre Dame. The Soul of France
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Regional- / Landesgeschichte
Geisteswissenschaften Geschichte
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ISBN-10 3-458-76714-2 / 3458767142
ISBN-13 978-3-458-76714-5 / 9783458767145
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