Den Himmel zum Sprechen bringen (eBook)
352 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76478-7 (ISBN)
Umwege sind die direktesten Wege zum Zentrum. Das neue Werk von Peter Sloterdijk ist ein Beleg für diese These: Außerhalb der Aktualität angesiedelt, handelt Theopoesie, auf den ersten Blick betrachtet, von den in der Bibliothek der Menschheit gespeicherten Versuchen, Gott oder die Götter zum Sprechen zu bringen: entweder reden sie unmittelbar selbst oder sie werden von den Dichtern mittelbar in ihrem Tun und Denken wiedergegeben. Damit ist für Sloterdijk die Einsicht unausweichlich: Religionen berufen sich in ihren theopoetischen Gründungsdokumenten auf mehr oder weniger elaborierte literarische Verfahren, auch wenn die begleitende Dogmatik dazu dient, diese Tatsache vergessen zu machen. Religionen sind »literarische Produkte, mit deren Hilfe die Autoren um Klienten auf dem engen Markt der Aufmerksamkeit von Gebildeten konkurrieren«.
Ein Studium der poetischen Stilmittel, deren sich die Religionen in ihren Narrativen bedienen, erfordert eine Neubewertung der Religionen, die die Karl Marx'schen Thesen hinter sich lässt. Elemente einer Kritik literarischer Darstellungsformen als Kritik dogmatischer wie theologischer Dokumente im Durchgang durch die Geschichte trägt Sloterdijk also mit seiner stupenden Belesenheit zusammen - und gelangt so in den Glutkern der Gegenwart, in der Narrative oder Fakten und alternative Fakten einander bekämpfen.
<p>Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel <em>Strukturalismus als poetische Hermeneutik</em>. In den Jahren 1972/73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel <em>Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution</em>. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema<em> Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918-1933</em> promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag publizierte Buch <em>Kritik der zynischen Vernunft</em> zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman <em>Der Zauberbaum</em> vor. Sloterdijk ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und war in Nachfolge von Heinrich Klotz von 2001 bis 2015 deren Rektor.</p>
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Götter auf dem Theater
Die Verknüpfung der Vorstellungen von Götterwelt und Dichtung ist so alt wie die früheuropäische Überlieferung; ja, sie reicht bis in die ältesten schriftlichen Quellen der Zivilisationen in aller Welt zurück. Wer sich an den zeitlosen Wellenschlag der Verse Homers erinnert, wird noch wissen, wie der Dichter die olympischen Götter über die Schicksale der Kämpfer in der Ebene vor Troja sich beratschlagen läßt. Er bringt die Himmlischen ohne Umschweife zum Reden, nicht immer mit der bei Wesen ihres Ranges angebrachten Gravität.
Auch am Beginn der Odyssee ist zu hören, wie Zeus das Wort nimmt, um die eigenwilligen Äußerungen seiner Tochter Athene zu mißbilligen. Er redet hoheitlich auf sie ein: »Mein Kind, welch Wort ist dem Gehege deiner Zähne entflohen!«[1] Selbst der Erste unter den Bewohnern des Olymps kann einer für Weisheit zuständigen Göttin nicht umstandslos den Mund verbieten. Der Göttervater ist, um seinen Unmut zu äußern, zu rhetorischem Aufwand angehalten, sogar zum Gebrauch poetischer Formeln.
Darf man behaupten, Homer sei der Dichter gewesen, der dichtende Götter in die Welt setzte? Wie auch immer man auf die anzügliche Frage antwortete, als Dichter wären die Götter Homers nur im dilettantischen Modus tätig gewesen, sofern Dichtung ein Metier ist, das studiert werden will, dem Gerücht von den Wundertaten der ungelernten Inspiration zum Trotz. Das Beharren auf dem Standpunkt des diletto zeugte für die olympische Aristokratie. Keine Macht der Welt hätte einen amtierenden Gott nötigen können, ein Handwerk bis zur Stufe der Meisterschaft zu erlernen.
Die Götter altgriechisch-olympischen Typs verhalten sich zur Welt meistens als losgelöste Zuschauer. In irdische Handlungen greifen sie nicht weiter ein, als Schlachtenbummler es zu tun pflegen; bei Kriegen sitzen sie in ihren Logen wie Besucher, die auf Favoriten wetten. Verstrickungen sind ihre Sache nicht. Sie gleichen Zauberern, die das plötzliche Erscheinen wie das Verschwinden gleich gut beherrschen. Selbst wenn sie nicht mehr bloß diffuse Naturgewalten, meteorologische Phänomene und Triebkräfte botanischer und animalischer Fruchtbarkeit verkörpern, sondern abstrakteren ethischen, kognitiven, auch politischen Prinzipien zur Personifikation verhelfen, behalten sie einen leichtgewichtigen Zug. Man könnte die Olympier für eine society von Oligarchen halten, die sich zublinzeln, sobald der Duft der Opferfeuer zu ihnen aufsteigt.
Die Wahl ihrer Residenz verrät, sie sind Geschöpfe der Antigravitation. Sie haben das Existieren, den Aufenthalt im Feld der Schwerkraft verlernt, mit der ihre Vorgänger aus der titanischen Göttergeneration sich plagten. Den amorphen Krafttitanen war vorherbestimmt, im Dunkeln zu versinken, als die Wohlgestalteten die Oberhand gewannen – Hephaistos ausgenommen, der Mobilitätsbeschränkte unter den Göttern, der als Schmied und hinkendes Werkstattgewächs nie ganz gesellschaftsfähig wurde. Die olympische Korona, Göttervolk zweiter Generation, wird seit dem Untergang ihrer Vorläufer von der Vorahnung beunruhigt, das Besiegte könne irgendwann wiederkehren. Götter dieser Stufe wissen, alle Siege sind vorläufig. Hätten Götter ein Unbewußtes, wäre in ihm eingraviert: Wir sind Totengeister, die es weit gebracht haben.[2] Unseren Aufstieg verdanken wir einem namenlosen Lebensschwung, von dem nicht auszuschließen ist, er werde eines Tages über uns hinausführen.
Hieran ist für das Weitere vor allem ein Aspekt von Bedeutung: daß Homers Götter sprechende Götter gewesen sind. Auch sie waren, wie Aristoteles von den Menschen sagte, Lebewesen, »die die Sprache haben«. Durch Dichtung wurden sie in die Hörweite von Menschen gebracht. Mögen die höheren Wesen zumeist nur untereinander sich ausgetauscht haben, die Konversationen der Unsterblichen wurden zuweilen von Sterblichen mitgehört – als würden Pferde vor dem Rennen die Wetten der Zuschauer belauschen.
Das Phänomen der sprechenden Götter wurde Jahrhunderte nach Homer in die griechische Theaterkultur aufgenommen. Das Bühnenspiel Athens setzte vor der versammelten Bürgerschaft Handlungen in Gang, die durch ihre allgemeine Verständlichkeit der emotionalen Synchronisierung des städtischen Publikums zugute kamen. Demokratie begann als affektiver Populismus; sie machte sich von Anfang an die infektiöse Wirkung von Emotionen zunutze. Wie Aristoteles später resümierte, empfand das Zuschauervolk im Theater »Furcht und Mitleid«, phobos und eleos, besser: Schauder und Jammer, zumeist an denselben Passagen der tragischen Stücke. Die von den Schauspielern dargestellten Erschütterungen wurden von der Mehrheit der Besucher, den Männern wie den Frauen, im Gleichtakt durchlebt; sie reinigten sich von ihren Spannungen durch nahezu distanzlose Anteilnahme an den Leiden der Zerrissenen auf der Bühne. Das Griechische besaß für diesen Effekt ein spezifisches Verbum: synhomoiopathein,[3] gleichzeitig das gleiche Leid empfinden. Auch in den Komödien, die auf die Tragödien folgten, lachte das Volk in der Regel an denselben Stellen. Für die erbauliche Wirkung des Dramas war entscheidend, daß man bei der Betrachtung der Schicksalswendungen auf der Bühne gemeinsam an die Grenze geriet, von der an man aufhörte, weitere Fragen zu stellen. Das Verhüllte, das Übervernünftige, man sagt auch: das Numinose, erfüllte in realer Gegenwart die Szene. Da dieser Effekt selten eintrat und in den mediokren Stücken der nachklassischen Zeit unterging, verlor das athenische Publikum sein Interesse. Im 4. Jahrhundert v. u. Z. wurden die Zuschauer, die einen Tag für die ermatteten Darbietungen der Dionysos-Bühne geopfert hatten, mit einem Theaterobolus entschädigt.
Vor diesem Hintergrund ist auf eine ingeniöse Erfindung der attischen Bühnenkunst näher einzugehen. Die Dramaturgen (»Ereignismacher«) – noch weitgehend identisch mit den Dichtern – hatten verstanden, daß Konflikte zwischen Menschen, die für Unvereinbares streiten, dazu neigen, an einen toten Punkt zu gelangen. Mit menschlichen Mitteln steht dann kein Ausgang offen. Solche Momente wurden vom antiken Theater als Vorwände für die Einführung eines Gottesschauspielers begriffen. Weil ein Gott nicht einfach wie ein Bote von der Seite her auftreten durfte, war es nötig, ein Verfahren zu ersinnen, wie man ihn aus der Höhe einschweben lassen konnte. Zu diesem Zweck erbauten athenische Theateringenieure eine Maschine, die Göttererscheinungen von oben ermöglichte. Apo mechanes theos: Ein Kran schwenkte über die Szene, an dessen Ausleger eine Plattform, ein Pult befestigt war – von dort her redete der Gott in die Menschenszene hinab. Das Gerät trug bei den Athenern den Namen theologeion.
Wer auf dem staunenerregenden Kran agierte, war naturgemäß kein Priester, der Theologie studiert hatte – eine solche gab es nicht, und ihr Begriff war noch nicht geprägt –, sondern ein Schauspieler unter einer erhabenen Maske. Er hatte den Gott, die Göttin als gebietend-problemlösende Instanz darzustellen. Offensichtlich empfanden die Dramaturgen keine Scheu, »theurgisch« tätig zu werden – Göttererscheinungen galten für sie als machbare Effekte, so wie später manche Kabbalisten überzeugt waren, theotechnische Prozeduren ausüben zu können, indem sie die Buchstabentricks des Schöpfers wiederholten. Andere hellenische Spielorte begnügten sich damit, das theologeion als eine Art von Empore oder als erhöhten Balkon an der Rückwand des Theaters einzurichten, dann unter Verzicht auf die faszinierende Dynamik des Hereinschwebens.
Die stärkste Bühnen-Epiphanie geschieht, wenn Athene in den Eumeniden des Aischylos (in Athen aufgeführt 458 v. u. Z.) gegen Ende des Dramas auftritt, um in der Sache des Muttermörders Orest die Pattsituation zwischen der Rachepartei und der Verzeihungspartei zugunsten der versöhnenden Option aufzulösen – wodurch die rächerischen Erinnyen sich zu den »Wohlmeinenden« wandeln. Analoges wird inszeniert, wenn im Philoktet des alten Sophokles (aufgeführt 409...
Erscheint lt. Verlag | 26.10.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
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ISBN-10 | 3-518-76478-0 / 3518764780 |
ISBN-13 | 978-3-518-76478-7 / 9783518764787 |
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