Selbstverteidigung (eBook)

Eine Philosophie der Gewalt

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
300 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76635-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Selbstverteidigung - Elsa Dorlin
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Vom Sklavenwiderstand bis zum Jiu-Jitsu der Suffragetten, vom Aufstand im Warschauer Ghetto bis zu den Black Panther und den Queer-Patrouillen zeichnet Elsa Dorlin in ihrem preisgekrönten Buch eine Genealogie der politischen Selbstverteidigung nach. Diese Geschichte der Gewalt wirft ein neues Licht auf die Definition der modernen Subjektivität und die zeitgenössische Sicherheitspolitik. Sie führt zu einer Neuinterpretation der politischen Philosophie, in deren Rahmen Hobbes und Locke mit Frantz Fanon, Michel Foucault, Malcolm X, June Jordan und Judith Butler in ein faszinierendes Streitgespräch geraten.



<p>Elsa Dorlin, geboren 1974, ist Professorin für Philosophie an der Universität Paris 8 Vincennes-Saint-Denis. Sie gilt als eine der führenden französischen feministischen Theoretikerinnen der Gegenwart und erhielt für ihre Forschungen u. a. die Médaille de Bronze du Centre National de la Recherche Scientifique. S<em>elbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt</em> wurde mit dem Frantz Fanon Prize 2018 und dem Prix de l'Écrit Social 2019 ausgezeichnet.</p>

7Prolog
Was ein Körper vermag


»Ein Gericht in Guadeloupe verfügte mit Urteil vom 11. Brumaire XI (2. November 1802), dass Millet de la Girardière so lange auf dem Place de la Pointe-à-Pitre in einem eisernen Käfig zur Schau gestellt wird, bis der Tod eintritt. Der für diese Folter verwendete Käfig ist acht Fuß hoch. Der darin Eingesperrte befindet sich über einem scharfen Messer; seine Füße sind auf einer Art Steigbügel, und er muss seine Knie durchdrücken, um nicht von dem Messer verletzt zu werden. Auf einem Tisch vor ihm liegt in seiner Reichweite etwas zu essen und zu trinken; doch sorgt eine Wache Tag und Nacht dafür, dass er es nicht anrührt. Wenn die Kräfte des Opfers zu schwinden beginnen, fällt es in die Klinge des Messers, die ihm tiefe und grausame Wunden zufügt. Getrieben vom Schmerz, richtet sich der Unglückliche wieder auf, um erneut in das scharfe Messer zu fallen, das ihn grauenhaft zurichtet. Diese Folter dauert drei bis vier Tage.«1

Bei einem Dispositiv dieser Art findet der Verurteilte den Tod, weil er Widerstand geleistet hat; weil er verzweifelt versucht hat, dem Tod zu entkommen. Die Grausamkeit seiner Folter besteht in der Tatsache, dass jede Bewegung seines Körpers, mit der er sich vor dem Schmerz schützen möchte, zur Folter wird; und vielleicht ist genau das das Charakteristische dieser Vernichtungsprozesse: aus dem kleinsten Schutzreflex einen Schritt zu machen, der zum unerträglichsten Leiden führt. Hier 8geht es nicht darum, die Beispiellosigkeit derartiger Foltern zu diskutieren, die sicher kein Monopol des modernen Kolonialsystems sind. In dieser Szene, wie auch in dem rhetorischen Prozess, der ihre Grausamkeit rekonstruieren möchte, hallt die Geschichte einer anderen Folter nach: die Damiens, die am Anfang von Überwachen und Strafen beschrieben wird.2 Dennoch sind beide vollkommen verschieden. Michel Foucault zeigt, dass mit den Schmerzen, die Damiens Körper zugefügt werden, nicht so sehr auf seine Individualität abgehoben wird, sondern auf den Willen des Souveräns, der in seiner Allmächtigkeit wiederhergestellt wird, wie auch auf die Unterwerfung der Gemeinschaft, der Damiens Verbrechen abträglich war. Die Verstümmelungen mit Zangen und Scheren, die Verbrennungen mit geschmolzenem Blei, siedendem Öl, Wachs, schließlich die Vierteilung mit Pferden ‌… Während dieses ganzen grauenvollen Szenarios ist Damien gefesselt, und niemand vermeint, dass er etwas tun »kann«. Sein Vermögen – so gering es auch sein mag – wird mit anderen Worten nicht berücksichtigt, weil es eben nicht zählt. Der Körper Damiens ist auf ein Nichts reduziert, er ist bereits nichts mehr, abgesehen von dem Theater, in dem sich der Zusammenhalt einer rachsüchtigen Gemeinschaft einstellt, die die Souveränität ihres Königs ritualisiert. Man stellt das völlige Fehlen jeglichen Vermögens zur Schau, um so die Herrlichkeit einer absolut souveränen Macht besser zur Geltung zu bringen.

Im Fall der Folter des Eisenkäfigs ist ebenfalls Publikum da. Allerdings wird mit der öffentlichen Zurschaustellung des Martyriums des Gefolterten etwas anderes verfolgt. Die verwendete Technik scheint auf die Fähigkeit des Subjekts abzuheben, zu (re-)agieren, um es umso besser zu beherrschen. Das eingesetzte Strafdispositiv führt die körperlichen Reaktionen, die Vitalreflexe des Verurteilten vor und löst sie aus, wobei es sie gleichzeitig als das konstituiert, was gleichermaßen das Vermögen und 9die Schwäche des Subjekts ausmacht. Hier muss die strafende Autorität das Subjekt in keinster Weise in Form eines absoluten Unvermögens präsentieren, um sich zu behaupten. Vielmehr gilt, je mehr das Vermögen des Subjekts in seinen wiederholten verzweifelten Versuchen zu überleben in Szene gesetzt wird, desto mehr regiert es die strafende Autorität, die hinter dem Auftritt eines passiven und marionettenhaften Henkers verschwindet. Diese tödliche Regierung des Körpers erfolgt in einer Ökonomie der Mittel, bei der der Gefolterte sich selbst zu töten scheint. Alles ist so konzipiert, dass er dem scharfen Messer, das ihn tödlich zu verletzen droht, physisch standhält: Er muss sich, eingeschlossen in seinen Käfig, auf den Steigbügeln aufrecht halten. So macht das Dispositiv glauben, dass sein Überleben von seiner (muskulären und physischen, aber auch »mentalen«) Stärke abhängt: Er muss sich am Leben erhalten, wenn er nicht noch mehr leiden und sterben möchte. Gleichzeitig ist das einzige Ziel dieser Foltertechnologie, ihn zu töten, aber so dass er umso mehr leidet, je mehr er sich verteidigt. Die um ihn angeordnete Verpflegung kommt einer grausamen Komödie gleich, die zeigt, dass die Folter mit der Effektivität der Vitalbewegungen spielt und versucht, sie vollständig zu kontrollieren, um sie besser zerstören zu können. Ebenso wie ihn die Erschöpfung in die Messerklinge sinken lässt, ist es für ihn unvermeidlich, das unerträgliche Bedürfnis zu essen und zu trinken zu verspüren. Zudem ist der erste Aufschlagpunkt an seinem Körper zweifellos der Intimbereich. Alles läuft so ab, als sei die Arbeit der geschlechtsbezogenen Codierung der Macht vollendet: Das Geschlecht ist weit mehr als irgendein anderer Körperteil zu dem allerletzten Ort geworden, an den sich das Handlungsvermögen des Subjekts verkriecht. Es zu verteidigen bedeutet, sich zu verteidigen. Und es zuerst anzugreifen bedeutet, das zu zerschlagen, womit das Subjekt – nicht de jure, sondern das handlungsfähige Subjekt – eingeführt wurde.

10Dieses Tötungsdispositiv geht davon aus, dass derjenige, der ihm unterworfen ist, etwas tun kann, und es zielt genau auf den letzten Impuls dieses Vermögens in seinen hintersten Winkeln ab, stimuliert es, fördert es, um es in seiner In-Effizienz umso mehr herauszufordern und in Unvermögen zu verwandeln. Diese Machttechnologie produziert ein Subjekt, dessen Handlungsvermögen man »anregt«, um es umso mehr in seiner Heteronomie zu packen: Und dieses Handlungsvermögen wird, obwohl es ganz auf die Verteidigung des Lebens abgestellt ist, darauf reduziert, nichts anderes zu sein als ein Todesmechanismus im Dienst der kolonialen Strafmaschinerie. Hier sieht man, wie ein Herrschaftsdispositiv versucht, die Eigenbewegung des Lebens zu verfolgen und auf das abzuzielen, was es in diesem Impuls noch an Muskelkraft gibt. Die kleinste Geste der Verteidigung und des Schutzes, die kleinste Regung zur Bewahrung und Erhaltung von sich selbst wird in den Dienst der Vernichtung des Körpers gestellt. Diese Macht, die ausgeübt wird, indem sie auf das Vermögen des Subjekts abhebt, das sich in dem Impuls ausdrückt, sein Leben und sich selbst zu verteidigen, konstituiert so die Selbstverteidigung als Ausdruck des physischen Lebens, als das, was ein Subjekt ausmacht, als das, »was das Leben ausmacht«.3

Vom Eisenkäfig bis zu bestimmten modernen und zeitgenössischen Foltertechniken4 kann man zweifellos ein Raster ausmachen, einen vergleichbaren Typus von Machttechniken, den man unter dem Motto zusammenfassen könnte: »Je mehr du dich verteidigst, desto mehr leidest du und desto sicherer stirbst du.« Unter bestimmten Umständen und bei bestimmten Körpern kommt sich zu verteidigen einem Sterben durch Selbstaufzehrung gleich: zu kämpfen heißt, sich vergeblich dagegen zu wehren, geschlagen zu werden. Dieser Mechanismus unglücklichen Handelns hat Folgen für die politischen Mythologien (welches Schicksal ist unserem Widerstand beschieden?), für 11die Vorstellungen von der Welt sowie für die Vorstellungen von sich selbst (was kann ich tun, wenn alles, was ich zu meiner Rettung unternehme, in mein Verderben führt?). So erscheint die gemachte Erfahrung – weniger des eigenen Vermögens als des Zweifels, der Sorge, der Angst, die seine Fehlversuche, seine Grenzen und gegenteiligen Effekte auslösen – insofern als sinnstiftend, als diese Erfahrung nicht mehr so sehr eine Frage der äußeren Gefahr, der Bedrohung oder eines Feindes ist, wie schrecklich sie auch sein mögen, sondern ein Spiegeleffekt von der eigenen Aktion und Reaktion, von sich selbst. Die Originalität derartiger Techniken besteht mithin in der unaufhaltsamen Arbeit der erzwungenen Einverleibung dieser tödlichen Dimension des Vermögens des Subjekts, was auf seine Suspension hinausläuft, als einzigen Ausweg, sich am Leben zu erhalten; in dem Moment, in dem das Subjekt den Antrieb zur...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2020
Übersetzer Andrea Hemminger
Sprache deutsch
Original-Titel Se défendre. Une philosophie de la violence
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Black Panther • Feminismus • neues Buch • Se défendre. Une philosophie de la violence deutsch • STW 2382 • STW2382 • Sufragetten • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2382
ISBN-10 3-518-76635-X / 351876635X
ISBN-13 978-3-518-76635-4 / 9783518766354
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