Deutschland (eBook)
936 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75620-7 (ISBN)
Wenn die Welt ein Dorf ist, so ist Deutschland ein Ortsteil dieses Dorfes. Wer diesen Band liest, erfährt, wie die Verbindungen zu den anderen Vierteln des global village entstanden sind und wie sie sich heute gestalten. Wir lernen, dass die ersten Kontakte Jahrhunderttausende zurückreichen, als die Besiedlung unserer Regionen in Europa begann. Von Anfang an waren die Beziehungen vielfältig und differenziert - denkt man etwa an das wechselvolle Verhältnis von Römern und Germanen, an die Gesandtschaft Karls des Großen an den Kalifenhof des Hârûn al-Ra?id oder an die Gründung einer Universität in Prag, als ein neues Bildungsmodell die Alpen überquerte. Es wird deutlich, welche materiellen und geistigen Möglichkeiten sich mit der Öffnung zur Welt verbanden, wenn wir die Handelsimperien der Fugger und Welser in den Blick nehmen oder uns die Geburt Deutschlands aus dem Geist des Humanismus bzw. die Inspiration Dürers durch seine Reise nach Venedig vor Augen führen. Doch nicht nur Segnungen durch Kunst und Kultur gingen mit der zunehmenden Vernetzung Deutschlands und der Welt einher, für die etwa Maria Sibylla Merians Expedition nach Surinam, Mozarts Reisen und Winckelmanns Wirken in Rom stehen mögen, sondern auch die niederschmetternden Erfahrungen von Krieg, Gewalt und Barbarei: der Dreißigjährige Krieg, der deutsche Kolonialismus in Afrika und die unauslöschliche Schande des Holocaust. Darüber hinaus wurde im 20. und 21. Jahrhundert die immer enger werdende Verbindung Deutschlands und der Welt durch gewaltige Wirtschaftskrisen, weltweit vernetzten Terrorismus, die Folgen des Klimawandels, aber auch durch Grenzen überwindende, begeisternde Sportereignisse.
Andreas Fahrmeir lehrt als Professor für Neuere Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Vorwort
Andreas Fahrmeir
Globalisierung verändert Perspektiven. Das gilt für die Gegenwart, und es gilt für die Fragen an die Vergangenheit. Mit «der» Globalisierung verbinden sich heute – je nach Standpunkt – vorwiegend Hoffnungen oder Befürchtungen: Hoffnungen auf eine pluralistische Weltgesellschaft, deren Institutionen in der Lage wären, globale Herausforderungen wie die Klimakrise nachhaltig zu lösen, oder Befürchtungen über das Wachstum von Ungleichheit und den Verlust politischer und kultureller Autonomie. Während eine optimistische Sicht auf Globalisierungsprozesse mit einer Präferenz für institutionelle Ordnungen einhergeht, die über Staatsgrenzen hinausweisen, verbindet sich eine pessimistische Perspektive mit der Forderung danach, der (National-)Staat solle wieder eine «Kontrolle» übernehmen, die er angeblich verloren hat. Ob das in der Realität wirklich so ist, muss hier nicht geklärt werden; die Debatte dokumentiert aber einen raschen Wandel von Wahrnehmungen: Noch vor wenigen Jahrzehnten wäre die (national-)staatliche «Kontrolle» über politische Entwicklungen weitgehend selbstverständlich erschienen – und zugleich stellten die Grenzen von (National-)Staaten den gängigen Rahmen für historische Groß- oder Meistererzählungen dar.
Solche Meistererzählungen gingen zwar nur in den seltensten Fällen so weit, die Geschichten von Staaten oder Nationen als Geschichten von Orten zu beschreiben, die keine Verbindung zur Außenwelt hatten. Es war immer klar, dass der «Container» des Nationalstaates nicht hermetisch versiegelt war, sondern dass er Zugänge und Ausgänge besaß, die es erlaubten, ihn zu betreten oder zu verlassen. Neue Ideen konnten von außen eingeführt und Neuerungen von innen in die Welt getragen werden. Aber er war auch nicht völlig offen, sondern zumindest so weit nach außen abgegrenzt, dass sich die für die Erzählung relevantesten Entwicklungen innerhalb seiner Grenzen abspielten, so dass der Blick in jeden «Container» etwas anderes offenbarte – genau wie bei einem Containerstapel in einem Hafen.
Inzwischen haben sich die Akzente verschoben. Einerseits liegt es nahe, zu versuchen, den auf nur einen Container begrenzten Blickwinkel zu erweitern und einen Überblick über das ganze Hafengelände zu gewinnen – wie es die Welt- oder Globalgeschichte anstrebt. Andererseits ist es in einer Welt, in der die Erfahrung vielfältiger Vernetzungen immer stärker präsent ist, naheliegend, beim Blick in jeden Container weniger danach zu fragen, wie sich dessen Inhalt von dem benachbarter Container unterscheidet, sondern danach, wie der Inhalt hineingekommen ist und wohin er verteilt werden wird.
Alle historischen Meistererzählungen kreisen um zentrale Ereignisse, die sich zu einer chronologisch strukturierten Geschichte zusammenfügen lassen. Solche Erzählungen sind ein elementarer Teil des historischen Wissens, das in Schulen vermittelt und als Grundlage der Diskussion über Vergangenheit vorausgesetzt wird. Dieses chronologische Gerüst kann mehr oder weniger rigide oder mehr oder weniger offen sein. Es ist aber stets präsent und führt zu Kerndaten, welche alle (er-)kennen sollen – 1066, 1215, 1789, 1871 wurden so zu Jahren, die historische Assoziationen aufrufen (sollten), die sich vor allem mit bestimmten Ländern verbinden. Bei den genannten Zahlen denkt man vermutlich zuerst an die Eroberung Englands durch die Normannen, die Magna Charta, die Revolution in Frankreich sowie an die Reichsgründung in Deutschland. Das verdrängt freilich andere mögliche Assoziationen, von denen manche ebenfalls von großer historischer Bedeutung waren: die erste förmliche Verleihung eines Stadtrechts in den Niederlanden 1066, die Einnahme Beijings durch die Mongolen 1215, die Entdeckung des Urans 1789 oder die Einführung des Yen 1871.
Die gegenwärtige Hochkonjunktur historischer Jubiläen, denen nur selten (wie 2014 oder 2019 anlässlich des Beginns des Ersten Weltkriegs und der Pariser Vorortverträge) eine internationale oder gar globale Resonanz eigen ist, verstärkt die Tendenz, solche Daten zu nationalen Erinnerungsorten zu verdichten. Gewiss wurde mit mehr oder weniger guten Begründungen immer schon die «globale» Bedeutung von Ereignissen behauptet, die sich mit Nationalgeschichten verbanden – niemand hätte bestritten, dass «die» Reformation von 1517 über Deutschland hinaus ausstrahlte. Aber die globalen Perspektiven in Nationalgeschichten wurden nur selten symmetrisch gedacht, lag doch der Fokus weitaus häufiger auf den globalen Wirkungen der «eigenen» Leistungen als auf den globalen Rahmenbedingungen, die scheinbar spezifisch nationale Entwicklungen erst möglich gemacht hatten: Eine Globalgeschichte «der» Reformation scheint weitaus weniger überraschend als eine Globalgeschichte der Ursachen der Reformation, die über Deutschland und Europa hinausweist. Ereignisse, deren Bedeutung sich vor allem durch eine globale Perspektive erschließt, hatten zudem eine geringere Chance, in die Reihe der kanonischen Daten aufgenommen zu werden.
Was verändert sich, wenn man versucht, diese Akzente zu verschieben, indem man nach zentralen Daten fragt, bei denen zwar eine bestimmte Region in den Fokus des Betrachters rückt, die sich aber vor allem durch globale Verflechtungen begründen lassen? Würde dann neben die Kaiserkrönung Karls des Großen 800 durch den Papst vielleicht die Bitte um die Übersendung eines Elefanten treten, die Karl der Große 797 äußerte, weil sich damit der ganze Komplex der Beziehungen zwischen dem Frankenherrscher und der außerchristlichen Welt verband? Würde an die Stelle der Bedeutung des bayerischen Reinheitsgebots 1516 das Jahr 1903 treten, da damals «deutsches» Bier seine Karriere in Asien begann? Wie steht es umgekehrt um die «globale» Bedeutung kanonischer Daten? Machte sich außerhalb Europas über die Reichsgründung 1871 überhaupt jemand Gedanken? Wäre das Jahr 1563, als der Heidelberger Katechismus formuliert wurde, vielleicht ein zentraleres Datum für die Wirkung der «deutschen» Reformation als 1517? Warum ist 1944 ein gutes Jahr, um über die Wirkung der amerikanischen Innenpolitik auf deutsche Literatur nachzudenken?
Dieses Buch enthält mögliche Antworten auf solche Fragen. Es ist das Ergebnis der Bereitschaft von 172 Historikerinnen und Historikern, Publizisten und Kulturwissenschaftlerinnen, sich auf ein Wagnis einzulassen. Sie haben die Anregung von Stefan von der Lahr, der das Buch als Lektor aus der Taufe gehoben hat, und mir aufgegriffen, von einer möglichst konkreten Episode ausgehend einen Stein zum Mosaik einer Globalgeschichte Deutschlands beizutragen, der die Form eines knappen Essays ohne Anmerkungsapparat annehmen sollte und entweder eine globale Sicht auf kanonische Bausteine der Nationalgeschichte ermöglichen oder Episoden, die für globale Beziehungen Deutschlands besonders wichtig waren, in Erinnerung rufen sollte. Daraus ergibt sich bewusst keine einheitliche Erzählung einer Nationalgeschichte Deutschlands für die Zeiten der Globalisierung (und auch nur die Andeutung der Konturen eines möglichen Mosaiks), sondern eine Anregung dazu, scheinbar Vertrautes neu zu denken und zugleich bislang weniger prominente Facetten der Geschichte Deutschlands, die sich durch ein wachsendes Interesse an globalen Vernetzungs- und Verflechtungsprozessen ergeben, stärker in den Vordergrund zu rücken.
Die Episoden sind chronologisch angeordnet und markieren damit – teils mit vollstem Ernst, teils mit einem kleinen Augenzwinkern – den Anspruch, dem bisherigen kanonischen Zeitstrahl neue Daten hinzuzufügen. Sie verweisen in Form eines chronologischen Sachregisters aufeinander und laden so dazu ein, Bezüge zwischen Themen zu finden, welche Epochengrenzen überdauern; bei Artikeln, die sich mit längerfristigen Vorgängen beschäftigen, markiert die Jahreszahl selbstverständlich nur den Beginn der jeweiligen Entwicklung.
Dieses Experiment hat Vorbilder. Im Jahr 2016 erschien in Paris eine von Patrick Boucheron herausgegebene Histoire mondiale de la France. Es war das Jahr, bevor sich zwei politische Visionen der Zukunft Frankreichs im Präsidentschaftswahlkampf gegenüberstehen sollten: Emmanuel Macrons Programm eines weltoffenen, aber zugleich global konkurrenzfähigen und politisch selbstbewussten Landes, das sich gegen das Versprechen der rechtspopulistischen Globalisierungskritikerin Marine Le Pen durchsetzte, den Franzosen einen starken, nach außen exkludierend wirkenden Nationalstaat zu bieten, der sie gegen die Herausforderungen der Welt abschotten würde. Boucherons Werk setzte sich das Ziel, die französische Nationalgeschichte als Geschichte der Beziehungen zwischen Frankreich und der Welt sowie zwischen der Welt und Frankreich ...
Erscheint lt. Verlag | 17.9.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Allgemeines / Lexika |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Beiträge • Deutschland • Geschichte • Gesellschaftswissenschaften • Kunst • Musik • Philosophie • Religionswissenschaft • Sachbuch • Sport |
ISBN-10 | 3-406-75620-4 / 3406756204 |
ISBN-13 | 978-3-406-75620-7 / 9783406756207 |
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Größe: 5,2 MB
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