Abgründe (eBook)
192 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12050-9 (ISBN)
Hans Hopf, Dr. rer.biol.hum., ist einer der renommiertesten Kinder- und Jugendlichen-Analytiker Deutschlands; Dozent, Supervisor und Ehrenmitglied der Psychoanalytischen Institute Stuttgart, Freiburg und Würzburg. 2013 erhielt er den Diotima- Ehrenpreis der Deutschen Psychotherapeutenschaft. Er hat zahlreiche Bücher publiziert.
Hans Hopf, Dr. rer.biol.hum., ist einer der renommiertesten Kinder- und Jugendlichen-Analytiker Deutschlands; Dozent, Supervisor und Ehrenmitglied der Psychoanalytischen Institute Stuttgart, Freiburg und Würzburg. 2013 erhielt er den Diotima- Ehrenpreis der Deutschen Psychotherapeutenschaft. Er hat zahlreiche Bücher publiziert.
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Meine Praxis wird umlagert
Ich will vom Schicksal des türkischen Mädchens Selda berichten. Keine Zeitung hat darüber berichtet, die Ereignisse waren nicht spektakulär genug. Ich bin mir aber sicher, dass ihr Schicksal stellvertretend für das von vielen gleichaltrigen türkischen Mädchen steht, damals wie heute.
Alles begann damit, dass mich Selda eines Tages anrief. Meine Adresse hatte sie im Telefonbuch gefunden. Ob ich etwas von seelischen Schwierigkeiten bei Jugendlichen verstehen würde. Und ob ich einer wäre, mit dem man auch reden könne und der nicht gleich Spritzen geben würde. Wir vereinbarten den Termin für ein Gespräch. Schon am Telefon beschwor mich Selda, dass ihre Eltern nichts davon erfahren dürften.
Selda kommt pünktlich zur vereinbarten Stunde, obwohl sie zehn Kilometer entfernt in einem kleinen Dorf lebt. Ihre erwachsene Schwester hat sie mit dem Auto hergefahren. Das Mädchen ist 16 Jahre alt, wirkt sehr schmächtig, braune Haare, große braune Augen, verhärmte, ja versteinerte Gesichtszüge. Nach anfänglichem Zögern bricht es eruptiv aus dem Mädchen heraus. Es spricht erstaunlich differenziert, reflektierend, andererseits stark emotional und anklagend, oft von lautem Weinen unterbrochen. Selda ist das jüngste von sieben Geschwistern, zwei Schwestern, vier Brüder. In Deutschland geboren, ein Opfer des sogenannten Babyexports: Direkt nach der Geburt kam sie zu Verwandten in die Türkei und sah die Eltern nur einmal im Jahr. Mit acht Jahren wurde sie zur Familie nach Deutschland geholt. Bis dahin konnte sie kein Wort deutsch – ein fremdes Kind kam zu fremden Eltern. Schnell erlernte das intelligente Mädchen die deutsche Sprache, lernte leicht und eifrig und gehörte bald zum oberen Drittel ihrer Klasse. Jetzt, in der neunten Klasse, ist Selda sogar beste Schülerin – Deutsch und Mathematik »sehr gut« – und beabsichtigt eine höhere Handelsschule zu besuchen. Alles könnte so schön sein, sie habe deutsche Freundinnen, sei heimlich in einen deutschen Jungen verliebt, wenn nicht die Eltern wären. Die würden ständig alles zerstören, was für sie wichtig, liebens- und lebenswert sei. Insbesondere die Mutter sei eine »alte Hexe«. Weil sie eng mit deutschen Mädchen befreundet sei, sich ebenso kleiden wolle und an allem Gefallen finde, werde sie von ihr als »deutsche Hure« beschimpft. Sie dürfe keine westliche Musik hören, sich nicht mit ihren deutschen Freundinnen treffen, müsse immer zu Hause bleiben. Gelinge es ihr gelegentlich, die elterlichen Verbote zu umgehen, würden die vier großen Brüder als Spitzel eingesetzt. Einmal hatte die Klasse einen Aufenthalt im Schullandheim geplant: Vierzehn Tage Freiheit, ohne das verhasste strenge Reglement der Eltern!
Vierzehn Tage Zusammensein mit ihren Freundinnen! Als die Eltern davon erfahren, verbieten sie die Teilnahme entschieden. Selda kann es nicht glauben. Ihr Klassenlehrer spricht mit dem Vater. Dieser bleibt hart und unzugänglich. Die Rektorin der Schule versucht es ebenfalls, aber der Vater droht mit Anzeige, wenn sich die Lehrer nicht aus seinen Familienangelegenheiten heraushielten! Einen Teil des Geldes hat Selda bereits angezahlt, die Schwester hat es ihr gegeben. Am Tag vor der Abreise hat sie alles gepackt, hofft immer noch, die Eltern umstimmen zu können. Am nächsten Morgen ist ihr Zimmer von außen abgeschlossen. Selda weint, schreit, trommelt gegen die Wände. Mittags öffnet die Mutter die Tür, die Klasse ist längst abgefahren. Am selben Tag erkrankt Selda an einer Entzündung der Ovarien. Sie sagt, seither sei der Rest von Zuneigung zu den Eltern gestorben.
In den achtziger Jahren lebten in Deutschland 520 400 Einwohnerinnen und Einwohner türkischer Herkunft. Offizielle Daten aus dem Jahr 2017 beziffern die Zahl der türkischen Staatsbürger in Deutschland mit 1,48 Millionen, es gibt rund 360 000 türkische Schüler, die meisten an Grund- und Hauptschulen (245 000). Ruth Herrmann hatte schon 1978 in »DIE ZEIT« beschrieben, was sich hinter diesen Zahlen auch verbirgt: »Und ganz am Rande der Randgruppe existieren ihre Kinder, die ja niemand gerufen hat, die dem Gastland keinen materiellen Nutzen bringen, im Gegenteil Kosten und Probleme. Isoliert, diskriminiert, in allem gegenüber den deutschen Kindern benachteiligt, existieren sie nicht nur hinter sprachlichen Barrieren«. Und: »Weit stärker als deutsche Kinder haben sie unter Infektionskrankheiten zu leiden, unter Krankheiten der Atemwege und Durchfallkrankheiten. Ihr Morbiditätsrisiko ist dreimal so hoch, die Sterblichkeitsrate über dem Durchschnitt. Weit häufiger als unsere Kinder erleiden sie Unfälle«. Was sich als körperliche Symptomatik manifestiert, ist vor allem Ausdruck des beträchtlichen psychischen Leidens dieser Kinder.
Ein zentraler Konflikt der Adoleszenz ist, dass sich Jugendliche nicht nur aus den familiären Bindungen zu lösen versuchen, sondern dass die elterlichen Ideale und Moralvorstellungen, die das Kind einst in sich aufgenommen hatte, tiefgreifend erschüttert werden. Die Jugendlichen müssen neue Wege suchen.
Aber wer kann ausreichend mitfühlen und ermessen, was ein türkisches Mädchen mit beginnender Pubertät an Konflikten und seelischen Belastungen durchstehen muss, wenn muslimische Ideale und Wertvorstellungen mit den Verhaltensmustern einer Industriegesellschaft kollidieren? Damals wie heute? In vielen türkischen Familien hat sich bis heute nur wenig geändert. Ein türkisches Mädchen sieht bei seinen deutschen Altersgenossinnen alle Freiheiten. Es wird doppelt hart mit den moralischen Vorstellungen und Idealen ihrer Eltern konfrontiert. Die entstehenden adoleszenten Krisen können das Ausmaß von Katastrophen bekommen. Einmal sagte ein 14-jähriges türkisches Mädchen zu mir: »Wenn ich mich mal wie eine Deutsche anziehen will, etwa Jeans und ein Top, dann sagt meine Mutter gleich vorwurfsvoll: »Willst Du auch wie Deutsche werden …«
Ich will zu Selda zurückkehren. Vorbild ist ihr die 25-jährige Schwester. Sie lebt zusammen mit ihrem gleichaltrigen Freund, die Familie hat sie verstoßen. Nie mehr möchte sie in die Türkei zurück. Selda erzählt von Paniken, die sie blitzartig überfallen, von erschreckenden Traumbildern und dem Wunsch, endlich Ruhe finden zu können. Entweder werde ihr endlich geholfen oder sie werde sich umbringen. Die Klasse plant derzeit eine mehrtägige Berlinreise, und sie dürfe wieder nicht mit. Ob ich nicht mit dem Vater sprechen könne, vielleicht würde er auf mich hören, wenn er vom Ernst der Situation erfahren würde. Er habe seine Tochter eigentlich gern, werde aber ständig von der Mutter aufgehetzt.
Tatsächlich zeigt Selda alle Symptome einer schweren depressiven Episode. Wie bei allen Jugendlichen ihres Alters haben die elterlichen Leitbilder mit beginnender Pubertät an Gültigkeit verloren. Doch mit welcher Dynamik hat sich dieses Mädchen innerseelisch von den elterlichen Moralbegriffen und dem islamischen Erbe gelöst. Ein geringer äußerer Anlass kann jederzeit das Fass mit Emotionen zum Überlaufen bringen. Die Gefahr ist groß, dass das Mädchen versuchen könnte, kurzschlussartig mit Scheinlösungen den Konflikt zu bewältigen – dass es wegläuft oder sich selbst zu töten versucht. Es besteht immer ein enger Zusammenhang zwischen Weglaufen und Suizid: Kinder und Jugendliche, die weglaufen, sind immer auch suizidgefährdet. Nicht so, dass sie etwa Suizid verübten, wenn sie wieder nach Hause müssten, sondern sie bewahren die Selbsttötung als letzte Möglichkeit. Suizidversuch und Weglaufen sind Symptome einer Flucht vor nicht lösbaren Konflikten.
Therapeutische Maßnahmen greifen nur, wenn die Eltern erreicht werden. Ich schreibe also dem Vater einen Brief, in dem ich die ernste seelische Verfassung seiner Tochter beschreibe und einen Termin für ein Gespräch vorschlage. Am Tag des geplanten Gesprächs ruft mich Selda voller Angst an: Die Mutter habe den Brief heimlich geöffnet und irrtümlicherweise angenommen, Selda habe sich beim Jugendamt über die Eltern beschwert. Sie hat wahrscheinlich »Jugendlichen-Psychotherapeut« mit »Jugendamt« verwechselt. Die Brüder seien schon unterwegs zu mir. Ich dürfe aber um Gotteswillen nicht verraten, dass sie bei mir angerufen hat.
Tatsächlich stehen wenig später drei türkische Männer mit finsteren Gesichtern vor dem Haus. Der Vater habe sie beauftragt, mir etwas mitzuteilen. Zu der von mir vorgeschlagenen Zeit, 20 Uhr, könne er nicht kommen, da müsse er arbeiten. Außerdem wolle er nicht mehr mit Briefen belästigt werden und wolle vor allem nichts mit dem Jugendamt zu tun haben. Ich bin mitten in einer Therapiestunde und sage, dass ich nicht das Jugendamt sei. Doch ich hätte festgestellt, dass ihre Schwester ernsthaft seelisch...
Erscheint lt. Verlag | 17.7.2020 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Biografie • Fallbeispiele • Gewalt • IRRE • Lebensgeschichten • menschliche Abgründe • menschliche Dramen • Missbrauch • Psyche • Psychiatrie • Psychologie • Psychotherapeut • Psychotherapie • Sachbuch • Sprechstunde Psychiatrie • Sprechstunde Psychotherapie • Störung • Sucht • Suizid • Tod • Wahn |
ISBN-10 | 3-608-12050-5 / 3608120505 |
ISBN-13 | 978-3-608-12050-9 / 9783608120509 |
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