Unter dem Nordlicht (eBook)

Indianer aus Kanada erzählen von ihrem Land
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
480 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32170-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unter dem Nordlicht -  Manuel Menrath
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»Wir wurden nicht in Kanada geboren, sondern Kanada wurde auf unserem Land geboren.« Bären an wilden Flüssen, Ahornsirup, Eishockey, nette Umgangsformen - unser Bild von Kanada ist von Klischees geprägt. Genauso romantisiert ist unsere Vorstellung von Indianern, die immerhin einen Großteil des Landes besiedeln: Lagerfeuer, Adlerfedern, Wildpferde und ein Leben im Einklang mit der Natur. Doch wie leben sie wirklich? Der Schweizer Historiker Manuel Menrath zeigt es uns in diesem Buch. Er machte sich auf in entlegene Gebiete im hohen Norden Kanadas, dorthin, wohin keine Straße führt, und traf Cree und Ojibwe in ihren Reservaten. Und sie vertrauten ihm, dem Europäer - dem Wemistigosh (Holzbootmensch). Sie nahmen ihn mit zu ihren rituellen Festen und zur Jagd, er lebte unter ihnen. In über hundert Interviews erzählten sie ihm von ihrem Leben - ihrem Verhältnis zur Natur, ihren Vorfahren, ihrer Geschichte - und von dem Land, das sich heute »Kanada« nennt und dessen Entstehung für sie mit großem Leid verbunden ist. Sie erzählten von verschwundenen Tieren, alten Ritualen. Und von den Grausamkeiten in den Residential Schools, in denen ihre Kinder in die Gesellschaft der Weißen zwangsassimiliert wurden. Ihre Geschichten handeln von den sozialen wie seelischen Verwüstungen des kulturellen Völkermords, von Depression, Drogen- und Alkoholmissbrauch. Allein im Cree-Dorf Attawapiskat gab es im Jahr 2016 100 Selbstmordversuche unter Jugendlichen - genau in dem Jahr, in dem Premier Justin Trudeau (viel zu spät) die Rechte der Indigenen anerkannte. Manuel Menraths faszinierendes und tief beeindruckendes Buch berichtet vom Leben derer, die schon seit Jahrtausenden in Kanada leben - und lässt sie selbst zu Wort kommen. »Dies ist ein wichtiges Buch, weil es unsere Stimmen enthält. Es ist gut, dass wir damit in Europa gehört werden. Denn unsere Geschichte wurde jahrhundertelang ignoriert.« Chief Stan Beardy, Grand Chief der Nishnawbe Aski Nation (2000-2012) und Chief von Ontario (2012-2015) »Diese großartige Spurensuche in den entlegenen Cree- und Ojibwe-Reservaten Ontarios erzählt die Geschichte von Eroberung, Kolonisierung und fortdauernder Vernachlässigung aus indianischer Sicht - fundiert, überraschend und berührend zugleich.« Aram Mattioli, Verfasser von »Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700-1910« Mehr Infos unter: https://unterdemnordlicht.de

Manuel Menrath, geboren in Luzern, seit 2009 am Historischen Seminar der Universität Luzern. Zuvor war er Lehrer, Kulturmanager, Komponist und spielte Gitarre in verschiedenen Bands. 2016 erhielt er den Opus Primum Förderpreis der VolkswagenStiftung. In seinem Buch Mission Sitting Bull (Schöningh 2016) setzt er sich mit der Bekehrung der Sioux durch Benediktiner aus Einsiedeln auseinander.

Manuel Menrath, geboren in Luzern, seit 2009 am Historischen Seminar der Universität Luzern. Zuvor war er Lehrer, Kulturmanager, Komponist und spielte Gitarre in verschiedenen Bands. 2016 erhielt er den Opus Primum Förderpreis der VolkswagenStiftung. In seinem Buch Mission Sitting Bull (Schöningh 2016) setzt er sich mit der Bekehrung der Sioux durch Benediktiner aus Einsiedeln auseinander.

Geteiltes Land


Stellen Sie sich vor, Sie sitzen am Schreibtisch. Ihr Stuhl befindet sich auf dem Gebiet der USA und die Tischfläche symbolisiert Kanada. Wenn Sie nun von der unteren Tischkante einen Streifen ziehen, der Ihrer Handbreite entspricht, dann erhalten Sie den Hauptsiedlungsraum des Landes. Tatsächlich leben die meisten der 37 Millionen Kanadier nicht weiter als 100 Kilometer von den USA entfernt. Der riesige nördliche Rest des Landes ist äußerst dünn und in der Regel von Indigenen besiedelt. Europäische Reisende kommen nur selten in diese abgelegenen Gebiete und bewegen sich meist innerhalb des verhältnismäßig schmalen Landstreifens nahe der US-kanadischen Grenze. Dort liegen auch die Großstädte Toronto, Montreal, Vancouver und Winnipeg. Einzig Calgary und Edmonton in Alberta sowie die von dort in kurzer Zeit erreichbaren, im Sommer massentouristisch überlaufenen Nationalparks Banff und Jasper befinden sich etwas nördlicher. In der Gesamtbetrachtung liegen sie jedoch ebenfalls deutlich am unteren Rand der Landfläche. Die Touristen lernen ein Kanada kennen, das vor allem seine französisch und britisch geprägte Geschichte erzählt und sich heute dank der Einwanderung und Integration von Menschen aus aller Welt offen und multikulturell präsentiert. Mit der indianischen Bevölkerung kommen nur die wenigsten in Kontakt. Dabei leben auf dem kanadischen Territorium 634 vom Staat anerkannte indianische »Stammesgemeinschaften«, die offiziell als First Nations bezeichnet werden und die etwa 3000 Reservate besitzen. Ungefähr eine Million Menschen gehört den First Nations an, 600000 zählen zu den Métis, also in der Regel Nachfahren von europäischen Pelzhändlern und indianischen Frauen, und 65000 sind Inuit. Die First Nations, Métis und Inuit bilden zusammen die Indigenous Peoples, welche etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen.

In der euro-kanadischen Erinnerungskultur treten die Indianer kaum in Erscheinung. Dies zeigt sich schon daran, dass indigene Geschichte für die Prüfung, die jeder ablegen muss, der im Alter von 18 bis 54 die kanadische Staatsbürgerschaft erwerben will, keine Rolle spielt. Auf einer staatlichen Webseite, die zur Vorbereitung dient, enthält die Rubrik ›Geschichte‹ nur einen winzigen Abschnitt zu den Indigenous Peoples.[10] Dann folgt eine sehr, sehr lange Ausführung über die Besiedelung und den Aufbau des Landes durch die Europäer, mit deren Ankunft die tatsächliche Geschichte anscheinend erst beginnt. So entsteht der Eindruck, alles, was vorher gewesen war, sei bedeutungslos. Das ist bezeichnend. In breiten Kreisen der Gesellschaft fehlt es an einem tiefgehenden Verständnis für die Situation der Indigenen. Dafür gibt es mehrere Ursachen. Unwissen, Ignoranz oder Rassismus sind einige davon. Alle nicht-indigenen Kanadier sind Einwanderer oder stammen von solchen ab. Zentral für sie sind daher der Bezug zum Herkunftsland und die Integration im Zielland. Als ich weiße Kanadier kennenlernte, kamen diese oft auf ihre Vorfahren aus Deutschland, England, Finnland, Italien, Polen oder der Schweiz zu sprechen. Ein derartiges Gesprächsthema gab es bei Begegnungen mit Indianern nicht, es sei denn, sie hatten noch einen europäischen Pelzhändler in ihrer Ahnenreihe. Ihre historische Referenz war nie ein anderer Kontinent, sondern stets das Land, auf dem sie leben und mit dem sie eine jahrtausendealte Geschichte verbindet.

In jüngster Zeit wurde zwar auf Druck von indianischer Seite die Geschichtsschreibung etwas ausbalanciert. 2008 entschuldigte sich Premierminister Stephen Harper offiziell bei den Indigenous Peoples für das staatliche Zwangsassimilationssystem in den Residential Schools. Im gleichen Jahr machte sich auch die Truth and Reconciliation Commission an die Aufarbeitung dieses kulturellen Völkermords, der die indigenen Gesellschaften unvorstellbar traumatisiert hatte. 2015 publizierte sie ihren erschütternden Abschlussbericht.[11] Landesweit wurden zwischen den 1880er- und 1990er-Jahren insgesamt 139 vom Staat finanzierte und von Kirchenpersonal geleitete Residential Schools betrieben. Etwa 150000 indigene Kinder im Alter von vier bis 16 Jahren, teils mit Gewalt ihren Eltern entrissen, waren in diesen Internaten nach westlichem Muster »umerzogen« worden. Sie hatten ihre indigene Sprache nicht mehr verwenden dürfen und die Erzieher versuchten, alles Indianische an ihnen auszumerzen. Tausende sind dabei gestorben und unzählige nach ihrer Schulzeit daran zerbrochen.

Bis das Thema der Indianerinternate im Mainstream der kanadischen Gesellschaft angekommen ist, muss noch einige Aufklärungsarbeit geleistet werden. Zudem stellt es nur die Spitze des Eisbergs dar. Zwei weitere koloniale Tragödien werden ebenfalls erst seit Kurzem historisch aufgearbeitet. Die eine wird als ›Sixties Scoop‹ bezeichnet. Die Kinderfürsorgebehörden der kanadischen Provinzen gaben zwischen 1960 und 1984 etwa 20000 Indianerkinder zur Zwangsadoption frei und platzierten sie in weißen Mittelklassefamilien in Kanada, den USA, Westeuropa und Neuseeland. Viele Sozialarbeiter hielten dies für eine effiziente Maßnahme zur Armutsbekämpfung in den Reservaten und eine Erfolg versprechende Möglichkeit, die Indianer zu assimilieren. Für die Kinder bedeutete es jedoch totale Entwurzelung. Sie verloren ihre Namen, ihre Sprache und die Verbindung zu ihrer Kultur.[12] Bisher entschuldigten sich die Regierungen der Provinzen Manitoba (2015), Alberta (2018) und Saskatchewan (2019) offiziell bei den Opfern. Bei der zweiten Tragödie handelt es sich um die ›Missing and Murdered Indigenous Women‹. In Kanada werden prozentual zwölfmal mehr indigene Frauen ermordet oder verschwinden spurlos als nicht-indigene. Die Bundespolizei RCMP geht davon aus, dass von 1980 bis 2012 etwa 1200 Morde an Indianerinnen verübt wurden. Aktivisten sprechen hingegen von 4000 Opfern. Die genauen Zahlen liegen im Dunkeln. Doch Fakt ist, dass indigene Frauen diejenige kanadische Gesellschaftsgruppe bilden, die am stärksten von Gewaltverbrechen betroffen ist. Der 2019 publizierte Bericht einer nationalen Untersuchungskommission zeigt detailliert und ungeschönt die kolonialen Ursachen für diese Katastrophe auf.[13]

Die Kolonialisierung Kanadas durch Menschen aus Europa hatte für die indigene Bevölkerung fatale Folgen, die weiterhin heftig nachwirken. Die entsprechende Aufarbeitung kommt erst langsam in Gang. Doch sie ist dringend notwendig. Zu glauben, offizielle Entschuldigungen für das an den Indigenen verübte Unrecht würden nun Versöhnung bedeuten, wäre ein krasser Trugschluss. Sie schufen erst die Voraussetzungen, dass der Dialog zwischen den beiden grundverschiedenen Gesellschaften weitergeführt werden kann, und leiten lediglich einen langen und beschwerlichen Aussöhnungsprozess ein.

Auch 2020 fühlen sich die First Nations nach wie vor systematisch diskriminiert. Arbeitslosigkeit, Armut, Obdachlosigkeit, Selbstmorde, Drogen- und Alkoholabhängigkeit, verschiedene Krankheiten wie Diabetes und limitierte Bildungsmöglichkeiten liegen bei den Indianern im Vergleich mit der nicht indigenen Bevölkerung prozentual um ein Vielfaches höher. Während Kanada einer der reichsten Staaten der Welt ist, erinnern die Zustände in einigen Reservaten an die in Drittweltländern. So manche rassistische Aussage auf sozialen Netzwerken schiebt die Schuld dafür den Indianern selbst in die Schuhe. Die miserablen Zustände werden einer angeblich »angeborenen Faulheit« und »korrupten Chiefs« zugeschrieben. Solche grobschlächtigen Äußerungen sind nicht nur bei Wutbürgern aus der Unterschicht verbreitet, die jeden Dollar zugunsten der Indigenen als zum Fenster hinausgeschmissenes Geld betrachten. Als ich auf einem Blueskonzert in Thunder Bay mit einer jungen weißen Ärztin ins Gespräch kam, behauptete diese allen Ernstes, Indianer seien halt »von Natur aus faul«. Das ließ mich eine Weile sprachlos zurück. Eine solche absurde Theorie sagt rein gar nichts über die Indigenen aus. Doch sie entlarvt schonungslos, dass ein in der Kolonialzeit geprägtes Denken in der Mehrheitsgesellschaft weiterhin unreflektiert vorhanden ist.

Auf dem internationalen Parkett versteht es Kanada hervorragend, sich von seiner Sonnenseite zu zeigen. Es präsentiert sich als weltoffenes, modernes, buntes Land voller Naturschönheiten. Ganz im Gegensatz zu seinem mächtigen Nachbarn im Süden, von dem es sich demonstrativ abgrenzt, kann es sich weltweiter Sympathien erfreuen. Die Formel »nimm die USA, ziehe alles Negative ab und erhalte Kanada« hat sich bestens bewährt und die Außenwahrnehmung zementiert. Als kleiner Makel haftet ihm lediglich die Quebec-Frage an. Doch um die bis Ende des 20. Jahrhunderts oftmals schlagzeilenbestimmenden Unabhängigkeitsbestrebungen der französischsprachigen Provinz ist es inzwischen ruhiger geworden. Kanada scheint geeinter denn je, was sich positiv auf seine globale Reputation auswirkt. In einem internationalen Ranking, das Indikatoren wie Vertrauen, Bewunderung, Wertschätzung und allgemeine Eindrücke berücksichtigt, ist das Land neben Norwegen, Schweden und der Schweiz stets in den Top Ten zu finden. Von 2012 bis 2015 und nochmals 2017 belegte es sogar den ersten Rang. Viele Menschen von anderswo würden gerne in Kanada wohnen, arbeiten oder studieren. Denn es bietet alles, was beste Lebensqualität verspricht: ein stabiles Regierungssystem, eine solide Wirtschaft und...

Erscheint lt. Verlag 20.8.2020
Zusatzinfo zahlreiche farbige Fotos und 2 farbige Karten
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Cree • First Nations • Gastland • Indiander-Kultur • Indianer • Indianer-Mythos • Justin Trudeau • Kanada • Landesporträt • Manuel Menrath • Ojibwe • Ontario • Oral History • residential schools
ISBN-10 3-462-32170-6 / 3462321706
ISBN-13 978-3-462-32170-8 / 9783462321708
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