Ich für mich (eBook)

Phänomenologie des Selbstbewusstseins
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
256 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76546-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich für mich -  Lambert Wiesing
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Einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins geht es nicht um eine Erklärung, wie und aufgrund welcher Bedingungen Selbstbewusstsein möglich ist. Ihr Ausgangspunkt ist für Lambert Wiesing vielmehr die Wirklichkeit des Phänomens selbst: Wie muss ich mir als selbstbewusstes Wesen in der Welt vorkommen? Kurz: Wie bin ich für mich? Die Antwort lautet: Ich muss mit meinem eigenen Stil in der Welt sein - mit einem Stil, der sich notwendig zwischen den Extremen eines malerischen Mit-der-Welt-verbunden-Seins und eines linearen Von-der-Welt-distanziert-Seins abspielt.



<p>Lambert Wiesing, geboren 1963, ist Professor für Philosophie und Inhaber des Lehrstuhls für Bildtheorie und Phänomenologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Von 2005 bis 2008 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. Im Suhrkamp Verlag hat er zuletzt veröffentlicht: <em>Luxus</em> (2015), <em>Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie</em> (stw 2171) und <em>Ich für mich. Phänomenologie des Selbstbewusstseins</em> (stw 2314).</p>

9Vorwort


Manchen Philosophen scheint die Wirklichkeit des Selbstbewusstseins eine regelrecht suspekte Angelegenheit zu sein. Dieser Eindruck stellte sich bei mir ein, als ich begann, mich für die Philosophie des Selbstbewusstseins zu interessieren. Mir fiel die übliche und angeblich so selbstverständliche Fragestellung auf, mit der die philosophische Forschung sich bis heute dem Selbstbewusstsein als Thema zuwendet. Sie lautet schlicht: Wie ist Selbstbewusstsein möglich? Als sei die Wirklichkeit des Selbstbewusstseins ein lösbares Rätsel, werden in der Philosophie seit mehr als 200 Jahren Erklärungen gesucht, wie es sein kann, dass Personen nicht nur intentionales Bewusstsein von etwas haben, sondern auch Bewusstsein von sich selbst. Wie lässt sich erklären, dass eine Person, die etwas sieht, etwas will, etwas besitzt oder Schmerzen hat, auch das Bewusstsein hat, dass sie selbst es ist, die etwas sieht, etwas will, etwas besitzt oder Schmerzen hat? Schnell wurde mir klar, dass kein Mangel an Antworten auf diese Fragen herrscht. Jede dieser Antworten entwickelt einen Vorschlag, wie sich die Einheit von denkendem und gedachtem Ich denken lässt. Stets wird die Wirklichkeit des Selbstbewusstseins als Produkt, Hervorbringung oder Ergebnis einer wie auch immer gearteten vorgängigen Selbstregistrierung gedacht: etwa als das Ergebnis einer Selbstreflexion, einer Selbstrepräsentation, eines Selbstgefühls, einer Selbstwahrnehmung oder einer sonstigen Art des Sich-selbst-setzens. Die Vielzahl der diesbezüglichen – sich gegenseitig widersprechenden – Ansichten über die Bedingungen, die Selbstbewusstsein ermöglichen, ist genauso beeindruckend wie die mitunter faszinierende Subtilität dieser Theorien. Dennoch wollte sich bei mir angesichts dieser Forschungssituation keine Begeisterung einstellen. Im Gegenteil: Auch die höchste philosophische Qualität schützt nicht davor, vollkommen Irrelevantes zu produzieren, wenn das bearbeitete Problem oder die leitende Fragestellung nicht überzeugt. So ist es mir ergangen. Mir kamen – durch die Lektüre der einschlägigen Arbeiten von Jean-Paul Sartre und Manfred Frank bestärkt – Zweifel, ob es überhaupt sinnvoll ist, über die Bedingungen der Möglichkeit von Selbstbewusstsein nachzudenken. Ein Verlust jeden Glaubens an eine mögliche Erklä10rung des Selbstbewusstseins ist die Basis, auf der meine Überlegungen in diesem Buch aufbauen; womöglich kann nur jemand diese Überlegungen als sinnvoll erachten, der diese skeptische Grundansicht teilt: Die Wirklichkeit des Selbstbewusstseins lässt sich weder erklären noch verstehen. Sie ist – wie Goethe sagen würde – ein Urphänomen. Warum es das Phänomen, dass sich Subjekte ihres eigenen In-der-Welt-seins bewusst sind, gibt und nicht vielmehr nicht gibt – das ist unbekannt.

So skeptisch der Ausgangspunkt meines Buches auch sein mag, meine Überlegungen sollen nicht in einer bloß negativen Position steckenbleiben. Das Ziel meiner Überlegungen ist vielmehr eine Phänomenologie des Selbstbewusstseins – und diese Absicht verstehe ich in einem traditionellen Sinne: Ich beschreibe aus der Perspektive der ersten Person Singular, wie mir etwas bewusst ist. Einer jeden phänomenologischen Philosophie geht es um die erlebte Wirklichkeit als erlebte Wirklichkeit, dies allerdings verbunden mit der leitenden Hoffnung, in den erlebten Phänomenen wesentliche Merkmale, Charakteristika, zu finden. Entsprechend möchte ich für das Urphänomen Selbstbewusstsein versuchen, die selbst erlebte Wirklichkeit meines eigenen Selbstbewusstseins auf ihre Charakteristika hin anzuschauen. So wie eine Phänomenologie der Imagination die Charakteristika bestimmt, wie ein imaginierter Gegenstand für jemanden bewusst ist, und so wie eine Phänomenologie der Wahrnehmung die notwendigen Merkmale bestimmt, wie ein wahrgenommener Gegenstand für jemanden bewusst ist, so muss auch eine Phänomenologie des Selbstbewusstseins denkbar sein, die die Charakteristika bestimmt, wie ich mich selbst aufgrund meines Selbstbewusstseins erleben muss – wie ich für mich in meinem Selbstbewusstseinserlebnis bin.

Diese auf den ersten Blick vielleicht seltsam wirkende Herangehensweise hat einen gewaltigen epistemischen Vorteil: Die Bedingungen der Möglichkeit meines Selbstbewusstseins sind mir nicht bewusst; sie werden von mir nicht erlebt; über sie lässt sich nur mit Modellen, Unterstellungen und Konstruktionen spekulieren. Hingegen erlebe ich selbst, wie es ist, selbstbewusst zu sein; ich erlebe selbst, wie ich für mich bin. Diese phänomenale Gewissheit ist für mich der Grund, die Fragestellung gegenüber dem klassischen Interesse explizit umzukehren. In meinen Überlegungen soll die unzweifelhaft gegebene Wirklichkeit des Selbstbewusstseins mit einer 11Fragestellung konfrontiert werden, die sich durch die eigene originäre Erfahrung des Selbstbewusst-seins beantworten lässt. Deshalb scheint es mir sinnvoll, nicht mehr davon auszugehen, dass mein eigenes Sein – ein Ich oder ein Subjekt, das noch keiner gesehen oder erlebt hat – als Bedingung der Möglichkeit angenommen wird, damit dieses Ich auf irgendeinem spekulativen Weg zu Selbstbewusstsein kommt. Der Gedanke ist genau umgekehrt: Ich beschreibe kein Ich, sondern ein Mich. In diesem Buch denke ich mich, mein Dasein, als erlebte Folge der Wirklichkeit meines Selbstbewusstseins. Mit der Wirklichkeit des eigenen Selbstbewusstseins sind für mich – nolens volens – unvermeidbare Erlebnisse, regelrechte Zumutungen verbunden, allen voran die Fundamentalzumutung, dass es mich für mich gibt, dass mir als Folge der Wirklichkeit meines Selbstbewusstseins überhaupt irgendwie zumute sein muss. Dieses Verurteilt-sein, selbstbewusst zu sein, weckte bei mir das phänomenologische Interesse, die Fragen zu stellen: Lässt sich die Weise, wie mir zumute sein muss, weil es mein Selbstbewusstsein gibt, näher beschreiben? Oder: Wie muss ich für mich in der Welt sein, weil es mein Selbstbewusstsein gibt? Welche Zumutungen folgen für mich unvermeidbar aus der Wirklichkeit meines Selbstbewusstseins?

Mir ist Folgendes aufgefallen: Wenn in philosophischen Kreisen von Selbstbewusstsein die Rede ist, dann ist wie selbstverständlich das Selbstexistenzbewusstsein gemeint, also das Phänomen, dass ich das Bewusstsein habe, in der Welt zu existieren. Dieses Selbstexistenzbewusstsein ist entweder gegeben oder nicht gegeben. Doch im Alltag wird genauso selbstverständlich derselbe Ausdruck für ein ganz anderes Phänomen verwendet: Selbstbewusstsein bezeichnet dort ausschließlich das Selbstwertgefühl einer Person: ihre Selbstachtung oder auch Selbstsicherheit. Dieses Selbstwertbewusstsein kann stärker oder schwächer ausgebildet sein. Nun könnte man der Meinung sein, dass diese Ausdrucksidentität, diese Äquivokation, ein blanker sprachlicher Zufall ist. Das würde bedeuten, dass das Selbstexistenzbewusstsein und das Selbstwertbewusstsein zwei verschiedene Phänomene sind, die nur zufällig im Deutschen in verschiedenen Kontexten mit demselben Ausdruck bezeichnet werden. Mich hat diese These von der Äquivokation von Anfang an nicht überzeugt – und es hat sich gezeigt, dass sich eine intrinsische Verbindung nachweisen lässt: Aus der Wirklichkeit meines Selbstexistenzbewusstseins folgt für mich notwendig die Zumutung eines 12gleichzeitigen Selbstwertbewusstseins: Ich muss für mich wertvoll sein, wenn ich das Bewusstsein habe, in der Welt zu sein. Dasein existiert einerseits notwendig als ein Interesse für seine Existenz, doch genau diese menschliche Existenz ist in der Welt andererseits immer eine gefährdete Existenz. Dies dürfte für den Menschen eine der wichtigsten unter den notwendigen Folgen der Wirklichkeit seines Selbstbewusstseins sein: Ich muss mich um mich in der Welt sorgen, sobald und solange ich Selbstbewusstsein habe.

Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, hielt ich es für selbstverständlich, dass diese Themen und Fragen in einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bearbeitet werden sollten. Ich ging davon aus, dass ich bei meinen Überlegungen vielfach Unterstützung aus der Geschichte der Phänomenologie erhalten würde. Doch irritiert musste ich feststellen, dass dies keineswegs der Fall ist: Die Phänomenologie des Selbstbewusstseins zählt nicht zu den zentralen Themen der bisherigen Phänomenologie. Dies gilt schon allein für die Verwendung der Formulierung: Wenn heute von einer Phänomenologie des...

Erscheint lt. Verlag 18.5.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Schlagworte Husserl • Ichbewusstsein • Philosophie • STW 2314 • STW2314 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2314
ISBN-10 3-518-76546-9 / 3518765469
ISBN-13 978-3-518-76546-3 / 9783518765463
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