Depression und Bindung - Therapeutische Strategien (eBook)

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2018 | 1. Auflage
76 Seiten
Vandenhoeck & Ruprecht Unipress (Verlag)
978-3-647-90116-9 (ISBN)

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Depression und Bindung - Therapeutische Strategien -  Henning Schauenburg
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Die Modelle zur Erklärung von depressiven Erkrankungen wandeln sich. Die neuere Bindungstheorie und -forschung zeigt in besonders einleuchtender Weise die vielfältigen psychologischen, sozialen, biologischen und kulturellen Einflüsse auf die Entwicklung von Depressionen. Bereits in der frühen Kindheit interagieren Biologie (Genetik, Neurobiologie) und Psyche (Beziehungsqualität) und prägen Bindungsstile. Unsichere Bindungsbeziehungen bergen langfristige Risiken in sich wie Depressivität. Auch auf die Therapie von Depressionen haben Bindungsmuster einen Einfluss. Der Psychosomatiker und Psychoanalytiker Henning Schauenburg beschreibt basale Interventionen etwa bei akuter Depression, erläutert den Umgang mit typischen Konfliktthemen und Abwehrprozessen sowie Fallstricke im therapeutischen Prozess. Er verdeutlicht die verschiedenen Verarbeitungsmodi des depressiven Grundkonflikts und beschreibt das Vorgehen bei strukturellen Störungen. Die vielen therapeutischen Techniken zur Arbeit mit depressiven Patientinnen und Patienten, eindrucksvoll illustriert mit Fallvignetten, verhelfen dem Therapeuten, der Therapeutin zu »ruhiger Gelassenheit« in der Arbeit mit depressiven Menschen.

Prof. Dr. med. Henning Schauenburg ist Professor für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Heidelberg und dort stellvertretender ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik. Er ist Nervenarzt, Arzt für Psychosomatische Medizin und  Psychoanalytiker. Er war Sachverständiger für Psychotherapie im GBA 2008-2017 und Präsident des European Chapter der Society for Psychotherapy Research (2013-2016).

Prof. Dr. med. Henning Schauenburg ist Professor für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Heidelberg und dort stellvertretender ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik. Er ist Nervenarzt, Arzt für Psychosomatische Medizin und  Psychoanalytiker. Er war Sachverständiger für Psychotherapie im GBA 2008-2017 und Präsident des European Chapter der Society for Psychotherapy Research (2013–2016).

3Bindung und Depression

Der Idee folgend, dass das menschliche Bindungsverhalten für depressive Störungen zentral ist, sollen zunächst wichtige Elemente der Bindungstheorie dargestellt werden, ehe detaillierter auf die Zusammenhänge von Depression und Bindungsunsicherheit eingegangen wird.

3.1 Grundzüge der Bindungstheorie

Im Zentrum der Überlegungen zur »Entwicklungspsychologie« der Depression stehen früh erworbene Erwartungshaltungen, hier im Sinne sicherer oder unsicherer Bindungsrepräsentanzen. Ausgangspunkt ist das von Bowlby angenommene evolutionär gewachsene primäre Bedürfnis nach Nähe und Sicherheit spendenden Anderen, das von den Bezugspersonen in unterschiedlicher Weise befriedigt werden kann (Bowlby, 1988).

In der Tradition der Bindungsforschung entstehen diese Repräsentanzen aus der frühen, aber auch späteren Interaktionserfahrung von Säuglingen und Kleinkindern mit ihren zentralen Bezugspersonen. Unterschieden werden dabei sichere und unsichere (sog. sekundäre) Strategien. Zu den unsicheren zählen ambivalente, vermeidende, desorganisierte (Ainsworth, Blehar, Waters u. Wall, 1978) sowie ungelöste Muster (Main u. Solomon, 1986). Das heißt, unsichere Bindungsmuster sind individuell primär adaptive, aber langfristig einschränkende Anpassungsstrategien an die nichtidealen frühen Bezugspersonen. Sie führen im Verlauf der Kindheit zu sicheren oder verschiedenen unsicheren inneren Überzeugungen (»Arbeitsmodellen«) über das Vorhandensein hilfreicher äußerer und in der Folge auch innerer Instanzen zur Bewältigung und Überwindung von Belastungen. Für verstrickt-ambivalente Menschen gilt dabei: »Ich bin sehr auf Hilfe/Begleitung angewiesen, kann mir aber nie sicher sein, dass diese ggf. auch trägt.« Für vermeidende Menschen könnte man als »Arbeitsmodell« formulieren: »Es gibt sowieso niemanden, der mir helfen kann, insofern bleibe ich lieber auf Distanz.« Demgegenüber wäre die sichere Haltung: »Ich bin nicht allein in meiner Not, die anderen sind verlässlich und werden mir helfen können« (Bowlby 1988, Übersicht z. B. bei Spangler u. Reiner, 2017; Behringer, 2017). Im alltäglichen Verhalten und Erleben Erwachsener werden die beiden hauptsächlichen unsicheren Muster auch als hyperaktiviert (hyperaktiviertes Bindungssystem) und als desaktiviert (desaktiviertes Bindungssystem) bezeichnet (Miculincer, Shaver u. Peref, 2003; Miculincer u. Shaver, 2008).

Tabelle 1 zeigt das experimentell beobachtbare Verhalten von Kleinkindern mit den besagten Mustern und stellt diese den bei Erwachsenen entwickelten Kategorien (Adult Attachment Interview – AAI) gegenüber.

Tabelle 1: Bindungsmuster bei Kindern und Erwachsenen

Kinder (Fremde Situation, Ainsworth et al., 1978)

Erwachsene (Adult Attachment Interview, Main, Kaplan u. Cassidy, 1985)

Sicherer Bindungsstil (50–65 %)

Spürbare Verlustreaktion, rasche Kontaktaufnahme und rasche Beruhigung bei Rückkehr.

Elastizität des Bindungssystems!

Bezugspersonen: prompte und angemessene Reaktionen

Wertschätzung von Bindung, plastische und kohärente Beziehungsschilderung, gutes Erinnerungsvermögen, Integration negativer Erfahrungen, angemessene Affektregulation, Empathie. Hohe Reflexionsfähigkeit

Vermeidender Bindungsstil (20–30 %)

Wenig primärer Kontakt zur Mutter, keine offene Trennungsreaktion (»maskierte Affekte«, Cortisol!), verstärktes Spielverhalten nach Trennung, Distanz bei Rückkehr.

Habituelle Inaktivierung des Bindungssystems!

Bezugspersonen: reduzierter Kontakt, insbesondere bei negativen Affekten des Kindes

Betonung von Autonomie, oft wenig biografische Erinnerungen, teilweise inkohärente Schilderung von Beziehungserfahrungen (z. B. Idealisierung), Bagatellisierung und Rationalisierung von Trennungserfahrung, Affektarmut, weniger Empathie

Ambivalenter (ängstlicher) Bindungsstil (15–20 %)

Heftige Trennungsreaktion, untröstbares Anklammern bzw. Wechsel von Vermeidung und Anlehnung bei Rückkehr. Habituelle Aktivierung des Bindungssystems!

Bezugspersonen: teilweise Überstimulation, starke Reaktion auf negative Affekte

Verstrickte Beziehungen mit Hinweisen auf übermäßige Abhängigkeit und Verlustangst, oft widersprüchliche Schilderungen vergangener Bindungen, wenig objektiv, oft anklagend, affektgeladen (Angst und Ärger)

Desorganisiert (14–24 %)

»Ungelöstes Trauma« (19 %)

Inkonsistentes Trennungs- und Wiedervereinigungsverhalten (vermutlich gleichzeitige Aktivierung getrennter »Motivationssysteme«), z. T. Stereotypien, kurze stuporöse Phasen, Angstüberflutung, kein Schutz durch Anwesenheit der Mutter

Bezugspersonen: geängstigt und angsterregend

Prinzipiell meist »organisierter« Bindungsstil, aber während der Thematisierung von Verlust oder Missbrauch treten Brüche und Inkonsistenzen auf (Schweigen, Tote werden im Präsens beschrieben u. a.)

3.2 Transgenerationale Weitergabe depressiver Risikofaktoren

Hinsichtlich der familiären Weitergabe des direkten Risikos für depressive Erkrankungen finden sich Hinweise, dass es sich hier nicht so sehr um einen Haupteffekt, also die direkte Vermittlung von Depressivität von Bezugspersonen auf das Kind, handelt. Es geht eher um die Weitergabe von Persönlichkeitsmerkmalen (z. B. im Sinne unsicherer Arbeitsmodelle von Bindung, aber auch generell des Überwiegens negativer Affekte in der Kommunikation bzw. der Ausprägung von »Neurotizismus«, wie er im Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit erfasst wird), nicht selten von ebenfalls depressiv vulnerablen Bezugspersonen. Diese Merkmale moderieren ihrerseits den Umgang mit belastenden Erlebnissen der Kindheit und des weiteren Lebens.

Die Frage der transgenerationalen Weitergabe von Bindungssicherheit bzw. -unsicherheit kann inzwischen als etablierter Befund angesehen werden (van IJzendoorn, 1995; Fonagy et al., 1996); unsichere Mütter/Väter haben gehäuft unsicher gebundene Kinder. Bedeutsamer Vermittlungsfaktor ist hier die elterliche Feinfühligkeit (»Sensitivity«) in Bezug auf das Verstehen von kindlichem Verhalten und die Antwort darauf. Allerdings gab es hinsichtlich der Weitergabe über die Feinfühligkeit immer eine statistische Lücke (»Transmission Gap«), die darauf verwies, dass noch andere Einflüsse vorliegen müssen. Den besten Überblick zu diesen Fragen geben Verhage et al. (2016). Sie finden, dass die Zusammenhänge zwischen elterlichem und kindlichem Bindungsstatus, vermittelt über elterliche Feinfühligkeit, weiterhin als gegeben angenommen werden können. Allerdings würde man heute sozialen Kontextaspekten (also Armut, Broken Home u. a.) einen eigenständigen Stellenwert einräumen.

Auch die relevanten Komponenten der elterlichen Feinfühligkeit verändern sich im Laufe des Lebens. So fand Elizabeth Meins, dass bei älteren Kindern besonders die Fähigkeit der Bezugspersonen wichtig wurde, den Kindern ihre eigenen inneren Vorgänge verbal und im Verhalten zu spiegeln (»Mind-Mindedness«, z. B. Meins et al., 2013). McMahon, Barnett, Kowalenko und Tennant (2006) berichten, dass postnatal depressive Mütter zwar häufiger unsicher gebunden waren (was auch für ihre Kinder zutraf), jedoch zeigte sich kein direkter Zusammenhang zwischen mütterlicher Depression und kindlicher Bindungsstrategie. Diese war vor allem über die mütterliche Bindungsrepräsentanz vermittelt: Depressive Mütter mit sicheren Bindungsrepräsentanzen gaben trotz ihrer Depression nur in geringem Maß Bindungsunsicherheit an ihre Kinder weiter. – Was bedeutet das? Offensichtlich sind bindungsbezogene Verhaltensweisen von großer Stärke und Wirkung, sogar in Anwesenheit depressiver Symptome.

Besser und Priel (2005) untersuchten 103 Generationstriaden von Frauen und fanden komplexe Mechanismen über drei Generationen hinweg: Der Zusammenhang von Bindungsunsicherheit und depressiver Beeinträchtigung war dabei vor allem über das Persönlichkeitsmerkmal der Neigung zu gesteigerter Selbstkritik vermittelt.

Depressivität in der Elterngeneration wird also teilweise auch über »subklinische« Merkmale von Bindungsunsicherheit an die folgende Generation weitervermittelt. In diesen Rahmen gehören auch die Befunde zu frühen ungünstigen Erfahrungen und späterem Depressionsrisiko. Gilmer und McKinney (2003) beschreiben die bekannten empirischen Risikofaktoren für spätere depressive Erkrankungen (Armut, deprivierende Erfahrungen in Kindheit und Jugend, z. B. psychische und schwere körperliche Erkrankungen der Eltern, emotionale Vernachlässigung, Gewalt und Missbrauch). Diese Erfahrungen werden teilweise mit den Eltern geteilt. Dabei wird der Einfluss solcher (Eltern-)Erfahrungen durch die Beeinträchtigung der Affektregulation und des Selbstbildes sowie den erlebten »Stresslevel« moderiert (Bifulco et al., 2006).

Eine interessante Wendung nahm die Diskussion über die Erblichkeit von Bindungsmerkmalen. Über lange Jahre zeigten die Befunde erstaunlicherweise, dass Bindungs(un)sicherheit in der frühen und späteren Kindheit, anders als Temperamenteigenschaften, kaum genetischen...

Erscheint lt. Verlag 10.9.2018
Reihe/Serie Psychodynamik kompakt
Psychodynamik kompakt
Mitarbeit Herausgeber (Serie): Inge Seiffge-Krenke, Franz Resch
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Angst / Depression / Zwang
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Bindung • Bindungsfähigkeit • Bindungsforschung • Bindungsmuster • Bindungstheorie • Bindungsverhalten • Depression • Entwicklungspsychologie • Manisch-depressive Krankheit • Psychoanalyse • Psychodynamik • Psychodynamische Psychotherapie • Psychotherapeut-Klient-Beziehung • Psychotherapie
ISBN-10 3-647-90116-4 / 3647901164
ISBN-13 978-3-647-90116-9 / 9783647901169
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