Mehr Jahresringe als erwartet (eBook)
291 Seiten
Schattauer (Verlag)
978-3-608-11623-6 (ISBN)
Dr. Elmar Reuter arbeitet seit mehr als 20 Jahren in einer großen Schwerpunktpraxis psychotherapeutisch mit Krebskranken, dazu als Verhaltenstherapeut und Psychoonkologe in Ausbildungsinstituten und konsiliarisch an klinischen Krebszentren.
Dr. Elmar Reuter arbeitet seit mehr als 20 Jahren in einer großen Schwerpunktpraxis psychotherapeutisch mit Krebskranken, dazu als Verhaltenstherapeut und Psychoonkologe in Ausbildungsinstituten und konsiliarisch an klinischen Krebszentren. Gudrun Haarhoff, Initiatorin des Projekts, Lehrerin und im Nebenjob Journalistin und Fotografin, führte die Interviews mit den Überlebenden. Yosh Malzon-Jessen, Journalist, Unternehmenssprecher in einem Technologie-Konzern und Lyriker. Er fasst das jeweilige Lebensthema der Erzählungen in lyrischer Form zusammen.
Über das Buch
Am Beginn der Idee, dieses Buch zu schreiben, stand wohl die Neugierde. Immer wieder hatten wir in den 20 Jahren psychotherapeutischer Arbeit mit Krebserkrankten erfahren, wie diese Krankheit das Leben veränderte, aber ebenso, wie Lebensveränderungen auf die Krankheit, auf das Voranschreiten, den Stillstand oder die Rückbildung einzuwirken schienen. Dabei galt es immer, Krankheit und die Reaktion auf die Krankheit auseinanderzuhalten.
Was lag also näher, als sich mit dem Leben und den Lebensveränderungen ehemals Schwerkranker zu beschäftigen, die gesund geworden waren und entgegen der Prognose über Jahre gut lebten. Wir wollten sie erzählen lassen und durch ihre Augen sehen. Was gab ihnen die Kraft, was erhöhte ihre Widerstandsfähigkeit? Uns war klar, dass erzähltes Leben immer auch im autobiographischen Gedächtnis abgebildetes Leben ist, subjektiv gefiltert und selektiv dargestellt. Das Bedeutsame erscheint meist wenig spektakulär, wird aber eben vom Einzelnen1 als wichtig erlebt. Oft – sehr oft – spielt ein zentraler Konflikt eine Rolle, der im Vorfeld der Krankheit die eigene Entwicklung blockiert.
Aber darum ging’s: Im Respekt vor dem ganz unterschiedlichen persönlichen Erleben in der Erzählung Betroffener allgemeine Spuren ausfindig zu machen, die uns helfen könnten, nachhaltige Gesundung besser zu verstehen. So ist das vorliegende Buch im Hauptteil eine Geschichtensammlung; erzähltes Leben von Menschen, die in jüngeren oder mittleren Jahren meist völlig unvorbereitet dem möglichen Tod gegenüberstanden, dann aber – entgegen der medizinischen Prognose und der statistischen Wahrscheinlichkeit – weiterlebten und uns viele Jahre später darüber erzählen.
Ohne Wesentliches vorwegzunehmen, soll der Blick des Lesers fokussiert werden auf das, was sich in allen Lebenserzählungen zeigt: Wie Krankheit aus der Sicht Betroffener aus dem Leben wächst, ins Leben eindringt, alles verstört und wie sich dann – nach dem Krieg sozusagen – eine neue Ordnung ausbildet.
Wie die neue Navigation im zweiten Leben mehr von innen ausgeht als von außen gesteuert wird und eine Instanz in Sicht kommt, die am Steuer sitzt: das eigene Selbst. Früher – vor der Krankheit – kaum wahrgenommen bzw. von den gefühlten Notwendigkeiten des Alltags unterdrückt, nun – nach der Krankheit – lauter werdend. Dieses Selbst meldet sich in den Lebenserzählungen der Betroffenen zu Wort, stellt wert- und sinnbasierte Wegweiser auf und bestimmt fortan die Richtung des Lebens.
Es zeigt sich kein egoistisches Selbst, sondern eins, das nunmehr die Freiheit hat, auszuwählen, wer mit im Lebensauto sitzt.
Wir bekommen erzählt, wie die Krisenzeit der Krankheit äußere Gewissheiten wie Gesundheit, Job und gesellschaftliche Aufgaben wegreißt, wie real der Tod vor einem steht und wie Todesangst den Blick zwangsläufig nach innen richtet und sich allmählich ein Lernraum auftut, in dem sich Bewusstsein schärft, Wichtigkeiten neu sortiert werden und Dringlichkeit und Mut die anfangs tastenden Schritte in ein anderes, neues Leben befördern. In ein Leben, in dem »Normalität« kritisch hinterfragt wird und »Verrücktes«, aber eben Eigenes möglich wird.
Aber wir wollen nicht vorgreifen. Tauchen wir zunächst in zwölf unterschiedliche Leben ein. Wir kommen ja im zweiten Teil des Buchs darauf zurück und folgen dort den spannenden Fragen: Finden sich in den Erzählungen bedeutsame Gemeinsamkeiten, die auch unter wissenschaftlicher Perspektive das Einwirken tiefer Lebensgefühle auf das Krebsgeschehen, die Abwehrkraft und die Zellkommunikation möglich machen? Gewinnt diese mysteriöse Instanz »Selbst«, die objektiv nicht zu verorten ist, aber subjektiv stark von jedem gespürt wird, durch Bewusstsein Kontur und nimmt Einfluss auf Gesundung? Und: Wie kann aus moralischer Kraft vitale Kraft werden?
Die in diesem Buch vorliegenden Geschichten sind zufällig ausgewählt aus vielen erhobenen Lebenserzählungen von Krebskranken, die eine anfängliche High-risk-Situation überlebt haben. Die Krisenzeit lag für manche vier Jahre, für andere mehr als 20 Jahre zurück. Wir hatten dabei die mögliche Kurzfristigkeit oder auch anhaltende Nachhaltigkeit krisenbedingter Lebensveränderungen im Blick.
Alle Interviews wurden von einer journalistisch versierten Pädagogin zwischen Mai und Dezember 2018 bei den Projekteilnehmern zu Hause geführt oder bei ihnen im Büro, im Garten oder in der Natur, wo immer vom Erzähler gewünscht. Sie dauerten zwischen eineinhalb und zwei Stunden, wurden aufgenommen und wörtlich transkribiert; anschließend, lediglich von Wiederholungen gereinigt, von den Teilnehmern autorisiert. Alle standen mit ihrem Foto und ihrem pseudonymisierten Namen für ihre Geschichte. Sie wollten und sollten sichtbar werden – wie übrigens auch die Autoren (▶ Kap. 1 und Kap. 2). Es handelte sich um Frauen und Männer jüngeren und mittleren Alters, von unterschiedlichen Krebsarten betroffen. Alle Teilnehmer haben sich leitlinienmäßig onkologisch behandeln lassen, von allen lag die Histologie des Tumorleidens vor und die Dokumentation der Behandlung in Form von Befundberichten.
Die Projektteilnehmer rekrutierten sich aus ehemaligen Psychotherapie-Patienten der Praxis des Erstautors, aber auch aus Selbstmeldern ohne Psychotherapie-Erfahrung, meist aus dem sozialen Kreis der Ko-Autorin, die die Interviews geführt hat. Sie hatten vom Projekt gehört. Die Auswahl geschah zufällig, nicht in irgendeiner Weise repräsentativ, sollte jedoch die Breite und Verteilung hinsichtlich des Alters, der Geschlechtszugehörigkeit und der jeweiligen Krebsarten der Betroffenen abbilden. Rechneten wir anfangs mit der Zustimmung gut der Hälfte aller Angesprochenen, an diesem Projekt teilzunehmen, waren es dann tatsächlich fast alle. Die eigene Geschichte aus der Sicht des handelnden Akteurs zu erzählen war ihnen ein starkes Bedürfnis.
Was waren unsere Ziele?
Wir wollten im gelebten Leben Langzeitüberlebender Spuren suchen, die Krankwerden, Standhalten und Gesundwerden begünstigen. Spuren im persönlich Erlebten, im Erlittenen und im stets erkämpften, neugewonnenen Leben unserer Erzähler; Spuren im objektiv gelebten und subjektiv erlebten Leben. Vielleicht gelänge es, durch Kumulierung von Einzelgeschichten von Spuren zu erkennbaren Fußabdrücken zu kommen, die uns auf signifikante Prozesse oder Schutzfaktoren beim Gesundwerden aufmerksam machen.
Um aus dem Bereich anekdotischer Evidenz der Einzelfälle zu einer breiteren Bewertungsbasis zu kommen, legten wir schließlich die Lebensgeschichten Wissenschaftlern vor – mit der Bitte, die Spurensuche durch Abgleich des subjektiv Erlebten mit dem evidenzgestützten Wissensbestand ihres jeweiligen Fachgebietes auf ein festeres Fundament zu stellen.
Hier liegt ja das Dilemma aller Forschung: Jeder Kliniker weiß vom Wert des »eigenen Weges«, den der Krebskranke gehen soll. Zum eigenen Weg gehören jedoch das einfach nicht dingfest zu machende individuelle Selbst als Richtungsgeber und das mutige kritische Bewusstsein, das Eigene vom Allgemeinen abzugrenzen. Quantitative Gruppenforschung ermöglicht empirische Evidenz, stellt uns jedoch lediglich Durchschnittswerte des Allgemeinen als Orientierungspunkte zur Verfügung, in denen der Einzelne zum »N« wird, sich jedoch selbst weder mittig, links oder rechts der Glockenkurve der statistischen Verteilung der Gesamtgruppe wiederfinden kann. Qualitative Forschung sucht dagegen Markierungen im ganz subtilen Erleben individueller Biographien und setzt zunächst auf Breite und Heterogenität des Berichteten, ganz individuell und subjektiv.
Ob es am Ende unseres biographischen Projektes gelingt, solche breiteren Fußabdrücke im erzählten Leben der Überlebenden ausfindig zu machen, die als Landmarken auf dem Weg zur Gesundung sichtbar werden, mag der Leser entscheiden. Uns schien es so. Dann könnte das vorliegende Buch hilfreich sein für Menschen, die in einer ähnlich schweren, aber noch akuten Krise stecken. Sie könnten sich in den Lebenserzählungen der Einzelnen wiederfinden und sicherer werden, die eigenen Gedanken, Gefühle und Bewegungen in der Krise einzuordnen und damit besser zu verstehen. Ebenso könnte das Buch hilfreich sein für Behandler, die mit wirkkräftiger Medizin die akute Bedrohung gemildert haben, nunmehr aber vom Patienten einen nachhaltigen...
Erscheint lt. Verlag | 21.4.2020 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Astrozytom • Bauchspeicheldrüsenkrebs • Bestrahlung • Brustkrebs • Chemotherapie • Chronisch Myelotische Leukämie • Clark Level • CuP-Syndrom • Eierstockkrebs • Gebärmutterhalskrebs • Gebärmutterkrebs • Hautkrebs • Heilung • Hirntumor • Hodenkrebs • Innere Haltung • Innere Kraft • innerer Lebensstil • Krebs • Krebsdiagnose • Krebs überleben • Krisenwachstum • Lebensstil • Lungenkrebs • Malignes Melanom • Mammakarzinom • Metastasen • mündige Patientin • Mündiger Patient • Nierenbeckenkrebs • Onkologie • Operation Krebs • Posttraumatic Growth • Primarius • Prostatakrebs • Psychoneuroimmunologie • Psychoonkologie • Resilienz • Resilienz Krebs • Selbstheilung • Transplantation • Tumor • Tumoren • Überleben mit Krebs • Überleben nach Krebs • Überleben trotz Krebs • Zungenkrebs |
ISBN-10 | 3-608-11623-0 / 3608116230 |
ISBN-13 | 978-3-608-11623-6 / 9783608116236 |
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