Kanon und Auslegungsgemeinschaft (eBook)

Schriftgemäße Theologie im Horizont der Ökumene
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2020 | 1. Auflage
344 Seiten
wbg Academic in der Verlag Herder GmbH
978-3-534-40268-7 (ISBN)
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Schriftgemäße Theologie wird zur Utopie, wenn Bibel-Auslegung keine grundlegenden Übereinstimmungen mehr erkennen lässt. Die relativ jungen historischen Disziplinen alt- und neutestamentlicher Exegese haben sich zwei Jahrhunderte abgearbeitet an der im Zuge der Aufklärung neu entdeckten Pluralität der biblischen Bücher, nun erfolgt eine Rückbesinnung auf die Bedeutung des biblischen Kanons. Besonders das Neue Testament kann so interpretiert werden, dass der Kanon eine plurale Identität der Kirche gewährleistet. Der Autor gibt zunächst einen Überblick über die Entwicklung der Exegese in den westlichen Konfessionen. Anhand zweier Repräsentanten (evang./kath.) einer Schriftauslegung, die sich am Kanon orientiert, zeigt er, dass dieser Ansatz Perspektiven bietet. Der Bezug auf wichtige Dokumente des ökumenischen Gesprächs liefert die Grundlage für einen Entwurf, der Kirche klar als Auslegungsgemeinschaft profiliert und versucht, den Begriff der Schriftgemäßheit neu zu formatieren.

Hans-Hermann Münch (Jg. 1966), Studium der evangelischen Theologie (Basel, Erlangen, Tübingen), Vikariat und Pfarrdienst in der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern, 2018 Sabbatjahr zur Erarbeitung eines Buchprojektes zum Thema Schirftauslegung.

Hans-Hermann Münch (Jg. 1966), Studium der evangelischen Theologie (Basel, Erlangen, Tübingen), Vikariat und Pfarrdienst in der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern, 2018 Sabbatjahr zur Erarbeitung eines Buchprojektes zum Thema Schirftauslegung.

A. Schriftgemäßheit als Aporie der Reformation: Das Schriftprinzip und die Geschichte seiner Krise


I. Die Krise des Schriftprinzips: Zerfall der Kirche in verschiedene Interpretationsgemeinschaften


Der Schweizer Ulrich Luz, renommierter deutschsprachiger Neutestamentler und Verfasser des wohl derzeit bedeutendsten Kommentars zum Matthäus-Evangelium1, veröffentlichte im Jahr 2014 eine ausführliche Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments.2 – Den Ausgangspunkt seiner Darlegungen bildet eine ernüchternde Bilanz der Situation der Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind:

„Die Zuversicht, welche die Reformatoren in die Klarheit und die Durchsetzungskraft der Schrift setzten, erwies sich […] als voreilig. […] Die Geschichte des Protestantismus ist eine Geschichte von Abweichungen, Spaltungen, andauernden Aufbrüchen neue[r] reformatorischer Bewegungen, welche sich dann institutionalisierten und als Denominationen, Kirchen und Sekten endeten. Sie alle rechtfertigten sich durch ihre Bibelinterpretation.“3

Als ausgewiesener Fachmann für historisch-kritische Schriftauslegung zeigt er die Entwicklung zweier Jahrhunderte auf, während derer „sich die eine Bibel in eine Bibliothek unterschiedlicher Texte, Quellentexte oder rekonstruierter Texte auflöste. […]

In den Händen der Bibelgelehrten und immer mehr auch der Laien verwandelte sie sich in eine Vielzahl unterschiedlicher Lesemöglichkeiten […]. Die Zahl kirchlicher Interpretationsgemeinschaften vermehrte sich dabei ständig, wobei ihre Integrationskraft mehr und mehr abnahm. […] Viele evangelische Kirchen, die sich traditionell auf die Bibel berufen und die nun mit der Möglichkeit einer schier unbegrenzten Vielfalt in der Schriftinterpretation konfrontiert sind, befinden sich in einem Prozess rapider Selbstauflösung.“4

Im Fortgang seiner mehr als 500 Seiten starken Verstehenslehre des Neuen Testaments arbeitet er sich unter anderem an der Grundfrage ab: „Wie kann man eine Kirche auf eine Bibel bauen, die scheinbar beliebig interpretierbar ist?“5

Besonders beschäftigt ihn dabei ein schmerzhafter Konflikt:

„Der Wahrheitsanspruch der neutestamentlichen Verkündigung ist universal. Die Möglichkeit einer unbegrenzten Vielfalt von Interpretationsmöglichkeiten – ja nach Vorliebe eines einzelnen Bibellesers oder einer einzelnen Interpretationsgemeinschaft – steht in einem frappanten Widerspruch zu diesem Wahrheitsanspruch und führt ihn ad absurdum.“6

Ulrich Luz7 kommt auf diese Weise zu einer zugespitzten Analyse des Problems. Dabei steht er in einer langen Reihe von Fachleuten, die seit geraumer Zeit die prekäre Situation evangelischer Schriftauslegung erkannt und beschrieben haben.8 – Einen prominenten Ausgangspunkt markiert der Systematiker Wolfhart Pannenberg in seinem 1962 verfassten Aufsatz mit dem Titel Die Krise des Schriftprinzips; er schreibt: „Die Auflösung der Lehre von der Schrift bildet die Grundlagenkrise der modernen evangelischen Theologie.“9

Es stellt sich die Frage: Wie konnte eine solche Situation entstehen? Geht das evangelische Schriftprinzip nicht auf Martin Luther selbst zurück? War seine Position im 16. Jahrhundert nicht prägnant und klar genug, um sie zum bleibenden Fundament evangelischer Theologie machen zu können?

Begeben wir uns auf Spurensuche.

II. Die Kirche und der ,Stadtplan der Bibel‘: Vom Marktplatzbrunnen zur verborgenen Quelle?


Der Systematiker Rochus Leonhardt beleuchtet in seinem Aufsatz Unklarheit über die Klarheit der Schrift10 die Krise des evangelischen Schriftprinzips; zur Illustration des Ausgangspunktes der Entwicklung dient ihm ein eindrücklicher, von Luther selbst gebrauchter Vergleich, das Bild des Brunnens auf dem Marktplatz11:

„Der Marktplatz mit einem öffentlichen Brunnen im Zentrum einer Stadt steht für die res scripturae, das Zentralanliegen der Bibel. Zugleich gibt es in dieser Stadt – abseits vom Zentrum – zahlreiche schwer überschaubare Straßen und Gassen – sie stehen für die Vielfalt der biblischen Aussagen. Wer sich in einer der Gassen verirrt hat, für den ist das Zentrum der Stadt in der Tat nicht sichtbar, er wähnt sich in einem Labyrinth. D.h. für ihn erscheint die Bibel als eine Sammlung von widersprüchlichen Aussagen und undeutlichen Formulierungen. Wer aber die Gesamtlage der Stadt kennt und daher auch von den entlegensten Straßen und Gassen zum Marktplatz zurückfinden kann, für den ist die Stadt eben kein Labyrinth mehr. Und d.h.: Wer die res scripturae erfasst, wem sich das Zentralanliegen der Bibel erschlossen hat, der besitzt – um im Bild zu bleiben – den ,Stadtplan der Bibel‘, und für den erhalten deshalb auch die – in sich betrachtet – undeutlichen Formulierungen einen klaren Sinn.“12

Ausgehend von diesem Bild, lässt sich Luthers Position so beschreiben: Mit dem Evangelium von Jesus Christus, auf das er im Rahmen seines Schriftstudiums gestoßen war, mit der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben an Christus wusste der Reformator um den Standort des Brunnens im Zentrum der Stadt; er besaß einen – für seine Situation – in hohem Maße einleuchtenden ,Stadtplan der Bibel‘, der ihm bleibende Orientierung verschaffte; mit Hilfe dieses Plans war er in der Lage, die einzelnen Bücher der Heiligen Schrift und ihre Verfasser in Beziehung zu setzen zum Zentrum der Schrift, dem Evangelium von Jesus Christus. Auf dieser Grundlage formulierte Luther sein Verständnis der claritas scripturae, der Klarheit der Schrift; in der Assertio omnium articulorum von 1520 definiert er diese Klarheit wie folgt:

„Man muss nämlich […] mit der Schrift als Richter ein Urteil fällen, was [aber] nicht geschehen kann, wenn wir nicht der Schrift in allen Dingen […] den ersten Rang einräumen. Das heißt, dass

sie selber durch sich selbst ganz gewiss ist (ut sit ipsa per sese certissima),

ganz leicht zugänglich (facillima),

ganz leicht verständlich (apertissima),

ihr eigener Ausleger (sui ipsius interpres),

alles von allen prüfend, richtend und erleuchtend (omium omnia probans, iudicans et illuminans)

wie auch in Psalm 118 geschrieben steht (= Ps 119,30) […]. Hier verleiht der Geist ganz klar die Erleuchtung und lehrt, dass Erkenntnis allein durch die Worte Gottes verliehen wird gleichwie durch eine Tür oder eine Öffnung oder ein erstes Prinzip […]“.13

Wenn Luther in seiner Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam in der Schrift De servo arbitrio von der äußeren Klarheit der Schrift eine durch den Heiligen Geist gewirkte innere Klarheit im Herzen des einzelnen Gläubigen unterscheidet, dann ändert dies nichts daran, dass die claritas externa für ihn in der grundsätzlichen „Evidenz des Zentralanliegens“ der Schrift bestand, – dem aller Welt gepredigten Evangelium, „dass Christus, der Sohn Gottes, Mensch geworden ist, dass Gott dreieinig ist, dass Christus für uns gestorben ist und ewig herrscht (Christum filium Dei factum hominem, Esse Deum trinum (et) unum, Christum pro nobis passum (et) regnatum aeternaliter; StA 3, 185,1–3) […].“14

Leonhardt fasst Luthers Überzeugung zusammen:

„Weil sich die Glaubensgewissheit schaffende Evangeliumsverkündigung stets an die Schrift gebunden weiß, muss der ihrem eigenen Geist gemäß ausgelegten Schrift auch jene Klarheit zugesprochen werden, durch die sie zur Grundlage christlicher assertiones werden kann.“15

Dass der für Luther so offensichtlich einsehbare ,Stadtplan der Bibel‘ keine sich zwangsläufig ergebende theologische Einsicht war, zeigen leider nicht erst die Entwicklungen späterer Jahrhunderte: Bereits in der Generation nach Luther entstand das Bedürfnis, diese Einsicht festzuhalten und umfassend abzusichern. Man wollte vermeiden, dass der Brunnen in der Mitte der Stadt zu einer verborgenen Quelle werden könnte …

III. Abgesicherte Schriftgemäßheit: Bekenntnis und hermeneutica sacra


1. Die Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts als Modellfälle schriftgemäßer Lehre

Die im Konkordienbuch von 1580 zusammengefassten Bekenntnisschriften16 sollten der sich auf Luther berufenden neu entstandenen Kirche ein konfessionelles Fundament geben. In der sogenannten Konkordienformel wird als Versuch, die Position des Reformators abzubilden, die Berufung auf die Schrift zum ersten Mal und in klassischer Weise als leitendes Prinzip formuliert; unter der Überschrift Vom summarischen Begriff, der Regel und Richtschnur heißt es in der Zusammenfassung der Formel:

„Wir...

Erscheint lt. Verlag 15.3.2020
Verlagsort Darmstadt
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Schlagworte Auslegungsgemeinschaft • Bibel • evangelische Exegese • Exegese • Kanon • Katholische Exegese • Kirche • ökumenisch • Pluralität • Schriftgemäßheit • wbg Publishing Service
ISBN-10 3-534-40268-5 / 3534402685
ISBN-13 978-3-534-40268-7 / 9783534402687
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