Praxisbuch Systemische Therapie (Leben Lernen, Bd. 313) (eBook)

Vom Fallverständnis zum wirksamen psychotherapeutischen Handeln in klinischen Kontexten
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
320 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11610-6 (ISBN)

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Praxisbuch Systemische Therapie (Leben Lernen, Bd. 313) -  Elisabeth Wagner
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Was unterscheidet die Systemische Therapie von anderen anerkannten psychotherapeutischen Verfahren wie Verhaltenstherapie oder Psychoanalyse? Mit welcher Haltung, welchen Interventionen und Techniken nähert sie sich den PatientInnen? Anschaulich und mit vielen Beispielen aus der Praxis zeigt die Autorin, worauf es bei der Anwendung in klinischen Kontexten ankommt. Mit der nun endlich auch in Deutschland vollzogenen Anerkennung der Systemischen Therapie als abrechenbares psychotherapeutisches Verfahren stellen sich in der klinischen Praxis viele Fragen:   - Wie gehen systemische TherapeutInnen mit der Diagnosestellung um? - Wie lassen sich typisch systemische Herangehensweisen wie die Einbeziehung der Lebensumwelt eines Klienten oder Ziel- und Ressourcenorientierung im klinischen Kontext umsetzen? - Wie verstehen SystemikerInnen innerpsychische Prozesse?    Das Buch widmet sich diesen grundsätzlichen Fragen in anschaulicher Weise und stellt in einem zweiten Teil die wichtigsten Interventionen vor, vom »systemischen Fragen« bis hin zu narrativen, visualisierenden und hypnosystemischen Techniken. Auch hier wird das therapeutische Vorgehen anhand von Fallvignetten aus der Praxis erläutert. Die Autorin zeigt, wie Systemische Therapie wirkt und wie sie konkret angewandt wird. Dieses Buch richtet sich an: - Diplom-PsychologInnen - ÄrztInnen - PsychiaterInnen, die die Approbation zum »Systemischen Therapeuten« erwerben wollen

Elisabeth Wagner, Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Psychotherapeutin (Systemische Familientherapie); Lehrtherapeutin an der Lehranstalt für Systemische Therapie, Wien; Psychotherapeutin in freier Praxis für Einzel-, Paar- und Familientherapie.

Elisabeth Wagner, Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Psychotherapeutin (Systemische Familientherapie); Lehrtherapeutin an der Lehranstalt für Systemische Therapie, Wien; Psychotherapeutin in freier Praxis für Einzel-, Paar- und Familientherapie.

Kapitel 2

Ist Psychotherapie Krankenbehandlung?


Psychotherapie ist keine Krankenbehandlung. PsychotherapeutInnen muss man das in der Regel nicht erklären. PsychiaterInnen häufig schon, da sich ÄrztInnen traditionell für Krankheiten zuständig fühlen. In Zusammenhang mit Krankheiten und ihrer Behandlung verfügen sie über ein empirisch abgesichertes Expertenwissen. Aus medizinkritischer Perspektive kann die Überlegenheit ärztlichen Expertenwissens infrage gestellt werden, im Selbstverständnis von ÄrztInnen und der überwiegenden Mehrzahl ihrer PatientInnen ist die Zuschreibung einer Expertenrolle aber konstitutiv.

Das beste Beispiel dafür ist der Unfallchirurg. Meine damals 13-jährige Tochter stürzte mit dem Fahrrad und konnte ihren rechten Arm nicht mehr heben. Der Assistenzart veranlasst ein CT und beruhigt – er sieht nichts. Alle atmen auf. Der Oberarzt schaut sich die Bilder noch einmal an, äußert einen Verdacht, veranlasst eine weitere Bildgebung, diesmal in einer anderen Achse, und zeigt uns die Fraktur. Ungünstige Stelle, muss sofort operiert werden, sonst droht eine dauerhafte Bewegungseinschränkung. Der Expertise des Arztes wird getraut – was hätte man seinen Erklärungen entgegenzuhalten?

Nicht überall in der Medizin ist die Expertenschaft des Arztes so unumstritten, nicht immer sind die Befunde so eindeutig. Der Unfallchirurg markiert das eine Ende des Spektrums: unstrittige Expertenschaft, er weiß, was zu tun ist, kann das dem Patienten anhand eindeutiger Befunde erklären. Das Privileg des Unfallchirurgen: Er kann sehr häufig nicht nur eine eindeutige Diagnose liefern, sondern auch eine kurative Prozedur anbieten. Er operiert, der Patient muss es nur zulassen. Zumindest in der Akutsituation reduziert sich die Compliance auf die Einverständniserklärung – »lassen Sie mich nur machen«.

Natürlich ist dieser Idealfall nicht immer gegeben. Es gibt auch in der Unfallchirurgie unklare Befunde (Experten einigen sich nicht über das zugrunde liegende Problem) oder widersprüchliche Ansichten über die geeignete Behandlung (Experten einigen sich nicht über die bestmögliche Lösung), und natürlich bedarf es in der postoperativen Phase der Kooperation des Betroffenen: Schonung, gezieltes Training, alles zur richtigen Zeit und im richtigen Ausmaß. Aber auch dazu können die ExpertInnen eindeutige Empfehlungen geben. Das heißt: medizinisches Fachwissen bezieht sich auf die Diagnose und Behandlung von Krankheiten. Die Expertenrolle des Arztes verpflichtet zur Patientenaufklärung (diese Prozedur ist, wie jeder weiß, der sich schon einmal einer einfachen chirurgischen Intervention unterzogen hat, formal über eine schriftliche Einverständniserklärung abgesichert), begründet die durchzuführende Behandlung und legitimiert darüber hinausgehende Beratung (z. B. betr. Ernährung, Bewegung, Gewichtsreduktion) bzw. Schulung des Patienten.

Wie stellt sich die Situation nun bei psychischen Störungen dar?

Wenn wir an eine typische paranoide Schizophrenie, eine bipolare Störung, eine schwere Zwangsstörung oder Anorexie denken: auf den ersten Blick ganz ähnlich. Auch hier verfügt die Medizin – in diesem Fall die Psychiatrie – über gesichertes Expertenwissen und kann adäquate Behandlung anbieten. Die Krankheitsbilder sind gut definiert und lassen sich vom Zustand des Gesunden sicher unterscheiden. Ein klassisch ärztliches Selbstverständnis ist zulässig und sinnvoll, sofern der Patient bereit ist, diese Expertenrolle dem Arzt zuzuschreiben und sich der psychiatrischen Definition seines Erlebens anzuschließen. Aus »Ich bin so unglücklich und weiß nicht warum« wird dann im besten Fall eine behandelbare depressive Episode, aus »Stimmen befehlen mir, dass ich mich umbringe, weil ich für alles Unglück in der Welt verantwortlich bin« eine psychotische Episode, die psychopharmakologisch gut zu behandeln ist.

Aber wie groß ist der Anteil dieser eindeutig definierbaren und nach einem medizinischen Rational gut zu behandelnden Patientengruppe? Allen Frances, der 1994 den Vorsitz der Arbeitsgruppe für die Revision des DSM-IV innehatte und sich in den letzten Jahren zum prominentesten Kritiker des DSM-5 entwickelt hat, gibt folgende Einschätzung ab: »Wir können Patientinnen und Patienten, die an schweren psychischen Störungen leiden und etwa 5 % der Bevölkerung ausmachen, präzise diagnostizieren, und wir wissen auch ziemlich gut, wie sie zu behandeln sind. An den Grenzen zur ›Normalität‹ haben wir dagegen eine enorme Unschärfe. Gerade diese Grenzbereiche umfassen allerdings eine sehr große Anzahl von Menschen …« (Frances 2017, S. 104) Wenn man von einer 10-Jahres-Prävalenz von 30 % psychischer Störungen ausgeht, ist das knapp ein Viertel der Bevölkerung. Und mehr noch als für die schwerst psychisch Kranken ist für diese große Zahl an Menschen an der »Grenze zur Normalität« Psychotherapie oder psychotherapeutische Medizin indiziert. Die Frage ist daher, welche Art von Diagnostik und Behandlungsverständnis (jenseits der Krankenbehandlung) hier angemessen ist und wie sich hier psychotherapeutische Professionalität oder Expertenwissen realisiert.

Das Wissen und die Kompetenzen, die im Rahmen der Facharztausbildung für Psychiatrie im Krankenhaus erworben werden, sind für diese große Population meist jedenfalls nicht ausreichend, da nur ein kleiner Anteil aller Personen mit einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung je stationär aufgenommen wird. Solange die Facharztausbildung Psychiatrie vorwiegend in stationären Einrichtungen absolviert wird, müssen wir davon ausgehen, dass viele AssistenzärztInnen ihr gesamtes Störungs- und Behandlungsverständnis an einem sehr kleinen, nämlich dem schwerst kranken, Segment der Population sammeln, während sie den Großteil der v. a. psychotherapeutisch zu Behandelnden nicht oder kaum kennenlernen.

Im Rahmen ihrer Facharztausbildung sammeln AssistenzärztInnen für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin zweifellos unzählige Erfahrungen im Umgang mit mittel- bis schwer erkrankten PatientInnen aller Diagnosegruppen. Aufnahme- und Entlassungsmanagement, Zuweisungen, Visiten und Patientenaufklärung füllen aufgrund kürzer werdender Verweildauern den Arbeitstag des Facharztes zunehmend aus, sodass zeitaufwändigere Prozeduren wie ausführliche biografische Anamnesen, das Erfragen des subjektiven Krankheitsverständnisses oder psychotherapeutische Gespräche erschwert werden. Diese »Engführung« psychiatrischer Behandlung verhindert oftmals, dass unter den gegebenen Bedingungen psychiatrische Erfahrung mit Kompetenzerwerb im Bereich der psychotherapeutischen Medizin einhergeht und kann in manchen Fällen regelrecht zu einer »deformation professionelle« führen, die das Individuum mit seinen jeweils subjektiven Wünschen, Zielen und Ängsten hinter der ICD-Diagnose und dem psychopharmakologischen Behandlungsbedarf vergessen lässt.

Die Ausbildung in psychotherapeutischer Medizin ist damit ein wesentlicher Beitrag dazu, dass die heute ausgebildeten PsychiaterInnen auch die große Gruppe von Menschen »an den Grenzen zur Normalität« adäquat behandeln können. Voraussetzung dafür sind aber psychotherapeutische Konzepte, die für die Psychiatrie anschlussfähig sind.

Die für die frühe Systemische Therapie typische vehemente Ablehnung des psychiatrischen Krankheitsbegriffes ist vor diesem Hintergrund keine glückliche Lösung. Für PsychiaterInnen würde es bedeuten, in zwei unvereinbaren Fachwelten leben bzw. arbeiten zu müssen, aber auch für nicht ärztliche PsychotherapeutInnen erschwert es die Kooperation mit dem klinischen Kontext. Wenn Systemische TherapeutInnen psychische Störungen ausschließlich als soziale Konstrukte, nicht als Krankheiten verstehen, sind sie für andere klinische Disziplinen nicht anschlussfähig. Nicht zuletzt durch die Anerkennung der Systemischen Therapie als Richtlinienverfahren kam es allerdings in den letzten 10 Jahren zu einer Annäherung an das Gesundheitssystem. Statt vehementer Ablehnung wird nun vermehrt die pragmatische Nutzung des Störungsbegriffes empfohlen, der berühmte Carl Auer Verlag hat sich gar zur Herausgabe einer Reihe zur »Störungsspezifischen systemischen Therapie« entschieden.

Kehren wir zur ersten Aussage zurück: Wenn Psychotherapie keine Krankenbehandlung im herkömmlichen Sinn ist – was ist sie dann? Eine gängige Definition von Psychotherapie (vgl. Strotzka 1982) beschreibt diese als bewussten und geplanten interaktionellen Prozess zur Verbesserung von psychosozialen Leidenszuständen oder Verhaltensstörungen auf der Basis einer definierten Theorie normalen und pathologischen Erlebens und...

Erscheint lt. Verlag 17.3.2020
Reihe/Serie Hilfe aus eigener Kraft
Leben lernen
Leben Lernen
Leben Lernen
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie
Geisteswissenschaften Psychologie Familien- / Systemische Therapie
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte anerkannte psychotherapeutische Verfahren • Antragstellung • Antragsverfahren • Approbation Systemische Therapie • Bateson • de Shazer • Diagnose • Diagnosestellung • Familiendynamik • Familientherapie • Hypnose • Hypno-systemisch • Hypnotherapie • Interventionen • Kassenleistung Systemische Therapie • Klinische Weiterbildung • Psychologie • Psychologische Beratung • Psychosomatische Medizin • Psychotherapie • Ressourcenorientierung • systemisch • Systemische Familientherapie • systemische Fragen • Systemische Techniken • Systemische Therapie • Systemtherapie • Techniken • Virginia Satir • Zielorientierung
ISBN-10 3-608-11610-9 / 3608116109
ISBN-13 978-3-608-11610-6 / 9783608116106
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