Der Neandertaler, unser Bruder (eBook)

300.000 Jahre Geschichte des Menschen
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2020 | 1. Auflage
240 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75077-9 (ISBN)
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Dieses Buch, das in Frankreich mit dem Grand Prix du Livre D'archéologie ausgezeichnet wurde, bietet eine neue, spannende Geschichte des Neandertaler: Die aktuellen Ergebnisse der Genetik und der Paläoanthropologie haben das Bild unseres Vorfahren revolutioniert. Hier wird erstmals eine gut lesbare Gesamtdarstellung vorgelegt, in die all diese Erkenntnisse eingearbeitet wurden. Darin erscheint der Neandertaler als intelligenter Jäger, der sich vorzüglich an die harten Lebensverhältnisse seiner Umwelt anzupassen versteht, bereits die Fähigkeit zu sprechen beherrscht, seine Toten ehrt und ein entwickeltes kulturelles Leben führt. Als der Neandertaler dem Homo Sapiens begegnet, kommt es zu sexuellen Kontakten, so dass die Gene der Neandertaler ein Teil unseres Erbguts werden. Wer dieses Buch liest, wird im Neandertaler nie mehr nur unseren unbedarften Vetter sehen, sondern eine eindrucksvolle Persönlichkeit, die in die erste Reihe unserer Ahnen gehört.

<b>Silvana Condemi</b> ist Forschungsdirektorin am <i>Centre national de la recherche scientifique </i>und Leiterin der Paläo-anthropologischen Forschung. <br><br> <b>François Savatier </b>ist Journalist und arbeitet für das <i>Magazin Pour la Science</i>, wo er für den Themenbereich der Prähistorie zuständig ist.

Silvana Condemi ist Forschungsdirektorin am Centre national de la recherche scientifique und Leiterin der Paläo-anthropologischen Forschung.

François Savatier ist Journalist und arbeitet für das Magazin Pour la Science, wo er für den Themenbereich der Prähistorie zuständig ist.

Einführung

1 Neandertaler, Kind Europas und der Kälte

2 Der Neandertaler betritt die Bühne der Geschichte

3 Ein stämmiger Athlet mit kräftigen Fäusten

4 Neandertaler: Ein an die Kälte angepasster Körper?

5 Der Neandertaler - Aasfresser, Jäger und Kannibale

6 Fleisch, Fleisch, noch mal Fleisch und ... Datteln

7 Der Neandertaler hätte eigentlich nicht überleben dürfen

8 Ein komplexes kulturelles Leben

9 Die Ankunft des Störenfrieds Homo sapiens im Leben des Neandertalers

10 Und wenn der Neandertaler immer noch in uns schlummern sollte?

Das Testament des Neandertalers

Anhang
MISTabelle
Bildnachweis
Anmerkungen
Register der Fundorte

Einführung


Ein Sommertag im Jahr 2010. Es ist dreizehn Uhr. Im Café Madame warte ich auf Silvana. Ich kenne sie noch nicht. Als Redakteur bei Pour la Science habe ich für meine Zeitschrift über ihre Forschungsarbeit geschrieben. Gemeinsam mit zwei Kolleginnen entdeckte sie drei Untergruppen der Neandertaler, jede mit einer typischen Morphologie. Eine davon, die mediterrane, lebte an den Südrändern Europas.

Als Wissenschaftsjournalist genieße ich das seltene Privileg, Zugang zu Forschern zu haben, und nutze das aus, um mich mit ihrer Hilfe weiterzubilden. Wann immer möglich, versuche ich, mich mit ihnen zu treffen und sie zu befragen. Heute bin ich nun mit Silvana verabredet, und ich freue mich ganz besonders auf sie, denn die Paläoanthropologie, mein Thema bei Pour la Science, fasziniert mich schon seit meiner Kindheit.

Während ich auf Silvana warte, denke ich an diese herrlichen Berge im Département Var in der Provence, an deren Fuß ich das Glück hatte, aufzuwachsen. Dort gibt es jede Menge Höhlen, die zu den verschiedensten Zeiten bewohnt waren. In einer dieser Höhlen, tief versteckt in einem bewaldeten Tal, wurden in den 1970er Jahren Ausgrabungen vorgenommen, und als Kind schlich ich mich damals immer wieder heimlich dorthin. Drei Meter unter dem Abdeckgitter bestaunte ich neugierig in den tiefen Grabungsabschnitten die in den Wänden eingebackenen Tierknochen, Holzkohlereste und Werkzeuge aus Feuerstein.

Ich kannte mich in der Urgeschichte schon ganz gut aus und fragte mich, ob diese Steinwerkzeuge aus dem Moustérien, Aurignacien oder Gravettien stammten. Die Antwort war: aus allen drei Epochen, doch das erfuhr ich erst dreißig Jahre später, als ich endlich auf einen Artikel über die betreffende Höhle stieß. Ich war sprachlos: Ganz unten am Boden der Höhle, in den ältesten Schichten, befanden sich Werkzeuge aus dem Moustérien, Klingen und Schaber, die ein mediterraner Neandertaler vor 20.000 Jahren, lange vor der letzten Eiszeit, unter dem grandiosen Gewölbe aus rotem Fels mit Rauchspuren von Feuern gegenüber dem mir so vertrauten Tal geformt hatte.

Daran muss ich denken, während ich die Gäste mustere, die das Café Madame betreten. Ist sie vielleicht schon eingetroffen? Am Telefon hatte Silvana nur gesagt, sie habe die typischen Merkmale des Neandertalers: blaue Augen und eine eher kleine Statur. Sollte sie so gedrungen sein wie ein Neandertaler? Dank dieser Beschreibung werde ich sie bestimmt gleich erkennen!

Obwohl ich schon seit Jahren in meiner Redaktion für die Urgeschichte zuständig bin, bin ich an dem Tag, an dem ich Silvana begegnen werde, einigermaßen nervös. Die Fortschritte in den Kenntnissen über den Neandertaler, die innerhalb nur einer einzigen Generation erzielt wurden, haben eine Art wissenschaftliche Explosion bewirkt, die mich verunsichert. Ich habe tausend Fragen.

Während ich also die ‹Neandertalerinnen› taxiere, die das Café Madame betreten, kehre ich in Gedanken ans Ende des 20. Jahrhunderts zurück, um den Weg zu ermessen, den die Wissenschaft inzwischen zurückgelegt hat. Damals, vor gar nicht langer Zeit, glaubten die Paläontologen, das Wesentliche über die Entwicklungsgeschichte der Menschheit und damit auch über die Geschichte des Neandertalers, das heißt der Spezies Homo neanderthalensis, begriffen zu haben. Diese menschliche Spezies, unser Vorläufer in Europa, galt als von der Spezies Homo sapiens, also der unseren, ausgelöscht. Homo sapiens, dieser vor ca. 100.000 Jahren aus Afrika gekommene Eroberer, betrat europäischen Boden, etwa 40.000 Jahre bevor ich im Café Madame auf eine Paläoanthropologin mit angeblich neandertalerähnlichen Zügen warte.

Die Vorstellung, die Gene der Neandertaler erforschen zu können, galt bis vor kurzem noch als Science-Fiction. Die Kultur des prähistorischen Homo sapiens konnte natürlich nur überlegener, also komplexer und effizienter gewesen sein als die des Neandertalers. Wie anders sollte man sich auch das Offensichtliche erklären: Bei der Ankunft des modernen Menschen ist der Neandertaler plötzlich verschwunden.

Seit dieser mittlerweile überholten Sicht der Dinge kamen Schlag auf Schlag neue Informationen über den Neandertaler zutage. Seine Welt war komplex, das steht fest. Kann man jedoch wirklich das Leben einer Bevölkerung rekonstruieren, die uns praktisch nichts als ihre Nahrungsabfälle und gebrauchten Werkzeuge hinterlassen hat? Es fällt uns ja schon schwer, das Ägypten der Pharaonen zum Leben zu erwecken. Wie also kann man sich einbilden, diese prähistorische schriftlose Welt auferstehen zu lassen? Je mehr ich über diesen frühen Bewohner Europas erfahre, desto mehr habe ich das Gefühl, dass dessen Welt weit komplexer war als jene, die sich der kleine Junge damals vorstellte, als er unten in einer Grube Feuersteinabschläge aus dem Moustérien untersuchte. Und das irritiert mich: Ich dachte, ich würde den Neandertaler kennen, ich war ihm ja mitten in meinem Wald begegnet. Deshalb möchte ich mit Silvana darüber sprechen, die, das weiß ich, so gut wie alle bekannten Neandertalerfossilien gesehen hat: damit ich verstehe, warum die Bezeichnung «Neandertaler» – üblicherweise der Inbegriff eines ungeschlachten Rohlings – in mir diese Vorstellung gar nicht mehr erweckt.

Warum mich das vor allem irritiert? Es wurde mit der Zeit immer klarer, dass Neandertaler und Homo sapiens sich begegnet sein müssen und zweifellos miteinander verkehrt haben. Sämtliche Paläoanthropologen, so glaubte ich jedenfalls (ich war damals noch nicht ausreichend informiert), waren der Überzeugung, dass die beiden Spezies sich nicht miteinander vermischt hatten – so sollte es die Sequenzierung der mitochondrialen Neandertaler-DANN Ende der 1990er Jahre bewiesen haben. Aber wenn der Neandertaler und der Homo sapiens sich begegnet waren, wie konnte man dann daran zweifeln, dass Ersterer etwas zur genetischen Ausstattung des Zweiten beigetragen haben musste?

Zumindest dachte ich das, denn wie auch den meisten Biologen damals schien es mir unmöglich, dass eine so fragile und lange Struktur wie die Kern-DNA über Zehntausende von Jahren hinweg überdauert haben könnte. Tatsächlich ist die Mitochondrien-DNA mit ihren 16.569 Basenpaaren winzig klein; mit ihren 3,2 Milliarden Nukleotidpaaren ist die DNA in den menschlichen Zellkernen dagegen riesengroß. Wie hätte man sich vorstellen können, dass Jahrtausende nach dem Tod eines Organismus, und nachdem sein Körper den Ansturm von Millionen nekrophager Organismen und Boden-Organismen über sich hatte ergehen lassen, immer noch genügend Zellkern-DNA übrig sein sollte, um sie wiederherzustellen? Undenkbar, absolut undenkbar, und jetzt, im Jahr 2010, sitze ich im Café Madame und kann es nicht fassen …

Und doch geschah das Undenkbare: Im Juni 2010 veröffentlichten die Paläoanthropologen des Teams von Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut in Leipzig 60 Prozent der nukleotiden Neandertaler-DNA! Verblüffenderweise hatten sie eine Methode entwickelt, mit der sie Mikrofragmente der Neandertaler-DNA aufspüren konnten, die im Knochen durch den Zerfall zurückgeblieben waren; diese Fragmente konnten sie auslesen und anschließend zusammensetzen. Darüber hinaus hatte dieses Wunder der Wissenschaft eine unerwartete Erkenntnis geliefert: Jeder Bewohner Eurasiens – insbesondere der Europäer – trägt ein bis vier Prozent Neandertalergene in sich. Auch die Neandertaler zählen zu unseren Ahnen!

Das heißt, die beiden verwandten Spezies sind sich tatsächlich begegnet. Über diese neue sensationelle Erkenntnis wollte ich reden, als ich im Café Madame eine Dame erwartete … Als ich aufblickte, sah ich eine dunkelhaarige Frau mit blauen Augen. Waren nicht die Neandertaler zumeist rothaarig oder blond? Silvana, haben Sie mich angeschwindelt?

Und dann fingen wir an, über all die falschen Vorstellungen zu sprechen, die man sich von den Neandertalern machen kann. Das dauerte so lange, dass wir unsere Gespräche im Café Madame, im Poulidor und auch noch anderswo immer weiter fortführten.

Ich wollte so viele Dinge ganz genau wissen, aber Silvana beantwortete nicht einfach meine Fragen. Sie wollte und konnte nur ihre Zweifel beschreiben, ihre, aber auch die ihrer Kollegen sowie die Zweifel, welche diese nicht hatten, aber ihrer Meinung nach hätten haben müssen, denn die Ergebnisse seien … zweifelhaft. Schließlich wurden mir die Bedeutung, die Details, die Formen und Facetten aller nur denkbaren Zweifel ...

Erscheint lt. Verlag 16.3.2020
Reihe/Serie Beck Paperback
Beck Paperback
Illustrationen Benoît Clarys
Übersetzer Anna Leube, Wolf Heinrich Leube
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Vor- und Frühgeschichte / Antike
Geschichte Allgemeine Geschichte Vor- und Frühgeschichte
Schlagworte Anatomie • Frühgeschichte • Frühmensch • Genetik • Hominide • Jagdtechniken • Klimaforschung • Menschheitsgeschichte • Ökologie • Paläoanthropologie • Umweltgeschichte • Vorgeschichte • Werkzeugkunde
ISBN-10 3-406-75077-X / 340675077X
ISBN-13 978-3-406-75077-9 / 9783406750779
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