Die Wildnis, die Seele, das Nichts (eBook)

Über das wirkliche Leben

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
304 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26674-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Wildnis, die Seele, das Nichts - Michael Hampe
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Ein faszinierendes philosophisch-literarisches Gedankenspiel, das anregt, die Maximen des eigenen Lebens zu überprüfen.
Wie finden wir das wirkliche Leben? Im Rückzug in unberührte Natur? Nach dem Tod in der Unsterblichkeit? Durch das Leben unserer Kinder? Diese Fragen treiben auch den fiktiven Lyriker und Philosophen Moritz Brandt um. Sein Freund Aaron sortiert dessen Nachlass, stößt dabei auf Tagebücher und Essays, in denen Brandt über das wirkliche Leben nachdenkt. Je mehr er sich aber in diese Texte vertieft, desto häufiger fragt sich Aaron: Woher kommt der Wunsch, sich zu verwandeln, wirklich zu werden? Meisterhaft verknüpft Michael Hampe Erzählung und Reflexion, damit wir erkennen, wie uns die Unterscheidung zwischen Schein und Wirklichkeit daran hindert, mit unserem Leben klarzukommen.

Michael Hampe, geboren 1961 in Hannover, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft, Psychologie und Biologie in Heidelberg und Cambridge. Nach Professuren in Dublin, Kassel und Bamberg ist er seit 2003 Professor für Philosophie an der ETH Zürich. Er lebt in Freiburg und Zürich. Zuletzt erschienen: Tunguska oder Das Ende der Natur (2011), Die Lehren der Philosophie (2014) und Die Wildnis, die Seele, das Nichts. Über das wirkliche Leben (2020).

 

 

Die dunkle Stille wird immer von einem Knarren beendet. Die flach aneinanderliegenden, ganz leicht an ihren Kanten wie Schuppen auf den Flügeln eines archaischen Tieres sich überlappenden Lamellen trennen sich wieder voneinander, stellen sich im rechten Winkel zum Glas auf und geben in Streifen die schmutzigen Scheiben frei. So wird es zuerst dämmrig, dann heller im Raum. Das insektenartige Summen des Elektromotors mischt sich in das scharfe metallene Quietschen und Kratzen der nach oben wandernden Stahlringe, die die Aluminiumlamellen in ihren seitlichen Führungsseilen aus Draht halten. Die langen Schuppen vereinigen sich unter dem Zug des mittleren Drahtseils nach und nach wieder, indem sie sich flach und deckungsgleich aufeinanderlegen, doch diesmal nicht zu großen, die Fensterflächen verdunkelnden Flügeln, sondern zu einem immer dicker werdenden Kasten. Ein hartes »Klack«, und der kompakte Körper stößt an das Ende seiner Bahn, gefolgt von einem leisen Summen, mit dem das Geräusch nach ungefähr einer Minute endet. Der Lamellenkörper ist in seinem Gehäuse verschwunden, das ihn wie ein Maul, von zwei langen Metalllippen eingerahmt, verschlungen und sich dann langsam geschlossen hat. Danach ist es ganz hell im Raum und wieder still.

So wie immer hatten sich die blechernen Jalousien um 8:15 Uhr auch an diesem 21. Dezember in der Böcklinstraße 17 automatisch geöffnet. Die Sonne war gerade erst über der bereits seit Herbstbeginn verschneiten Landschaft aufgegangen, auf die sachte und knisternd blau schimmernde Kristalle rieselten. Der Schnee senkte sich, von keinem Windhauch gestört, auf ältere, schon verharschte Schichten, die vor dem alten Gebäude eine saubere, friedlich gewellte und geschlossene Fläche erzeugten, unter der die Trümmer von schon vor Jahren zerfallenen Gebäuden lagen. Abgestürzte und ausgebrannte Drohnen ruhten wie tote Rieseninsekten hier und da zwischen umgestürzten Bäumen begraben. Sie schienen unter dem Schnee zu schlafen und auf ihre Erweckung zu warten. Magere Hunde streunten gelegentlich durch das Gelände, das früher einmal ein Stadtviertel für die Wohlsituierten gewesen war und sich jetzt fast leer bis zum Horizont erstreckte. Auf der Suche nach Nahrung schnüffelten die Tiere an einigen Erhebungen im Schnee, um zu erforschen, ob sich unter der weißen Decke wohl ein Kadaver verberge. Ein Fahrzeug, das ein Geschütz auf seiner Ladefläche transportierte, doch weder Fahrer noch Schützen mit sich führte, rollte gemächlich in der Ferne einen Fahrweg entlang.

Ein weiches, milchiges Licht fiel in die langen, schmalen Fenster, die sich vom Boden in die Höhe zogen und mit einem Knick in Oberlichter übergingen, wie lange Zähne, die die dunklen Wände des Ateliers durchbrachen. Das Licht bahnte sich seinen Weg durch zwischen braunen Balken zitternde Spinnweben, mit ausgesaugten Motten und Mücken beladen, durch die Zwischenräume der Blätter von Zimmerpalmen, die aus schwarzen Kübeln aufragten, durch spiralig verwirbelte Staubwolken, die sich seit Tagen träge im Raum drehten und nur langsam nach unten sanken. Fünf Meter hinab schossen die Strahlen durch die von innen beschlagenen, von außen braunschwarz verschmutzten Oberlichter in das riesige schwarzgrün gestrichene Atelier, bis hinunter auf das Lager von Aaron, der, in ein zerschlissenes gelbliches Seidenlaken gehüllt auf seinem Futon liegend, dieses Licht hinter seiner Schlafmaske nicht sehen konnte. Doch wie immer war er von den Lauten der sich öffnenden Verdunkelungen aufgewacht. Als er vor vielen Jahren in diesen Raum eingezogen war, hatten sich noch monatelang jeden Morgen Träume zu diesem Geräusch in seinem Kopf gebildet: Er sah in großer Spannung zitternde Stahltrossen, die riesige, mit schwarzem Erz beladene Loren eine verrostete Schienentrasse einen Berg hinaufziehen, oder sich in brackigem Wasser langsam wie in einer Atembewegung hebende und senkende Containerschiffe, die ihre dunkelgrün gestrichenen eisernen Leiber an einer Kaimauer aus Beton rieben, so wie Zooelefanten sich an den Mauern ihrer Gehege schubbern.

 

 

 

Als Aaron erwachte, konnte er sich nicht erinnern, dass ihm heute irgendetwas geträumt hätte. Seit er wieder an Brandt arbeitete, träumte er kaum noch. So war es immer, wenn er an einem Text saß oder einen Gedankengang, der ihm wichtig war, vorbereitete. Er stöhnte, rollte sich von der Seite auf den Rücken, zog sich die Schlafmaske vom fleischigen Gesicht und breitete die Arme aus. Einige Momente lag er so regungslos auf seinem Futon und starrte auf ein Spinnengewebe in der Deckenecke, das ihm wie eine Maske mit zwei übergroßen Augenöffnungen, wie ein Totenschädel erschien. Dann setzte er sich mühsam auf, kratzte sich seinen mächtigen grauhaarigen Bauch, der aus seinem schwarzen, ebenfalls seidenen und zerschlissenen Pyjama ragte, rieb sich die verklebten Augen und rief:

»Kagami!«

Doch es blieb still im Atelier. Keine Antwort. Mühsam erhob er sich von seinem nur durch Tatami-Matten vom schartigen Dielenboden getrennten Lager und schlurfte ächzend zur Kochzeile. Auf dem Weg dahin griff er von einem Kleiderständer nach seinem alten Morgenmantel, der auf schwarzem Grund grün-gelb-blau gefiederte Aras zeigte. Noch einmal rief er:

»Kagami!«

Nichts.

Vollautomatische Kaffeemaschinen mochte Aaron nicht. Er bereitete sich seinen Morgenkaffee mit einer großen Espressomaschine zu; schraubte sie auf, fingerte das Brühsieb aus dem Unterteil und klopfte den Kaffeesatz vom Vortag in den Müllkübel unter der Spüle. Dann füllte er den Brühkopf bis zum Ventil mit Wasser, setzte das Sieb wieder ein, schaufelte aus einer alten Blechdose, von der die blaue Farbe zum größten Teil abgeblättert war und die einmal Kakao enthalten hatte, frisches Kaffeemehl hinein und schraubte die Kanne wieder fest auf das Unterteil. Er schob den Regler auf dem Touchscreen seiner Herdplatte bis an den Anschlag. Sofort verfärbte sich eine Scheibe dunkelrot, dort platzierte er seine Kaffeemaschine. Aaron ließ sich in einen fleckigen Ledersessel gegenüber der Küchenzeile fallen, dessen Stahlrohrgestell erblindet war, und blickte vor sich ins Leere. Nach ein paar Minuten zischte und gluckste die Maschine. Er erhob sich, ging zurück zum Herd und schaute zu, wie der Kaffee stoßweise aus dem Ventilkopf austrat und an seinem Schaft in die Kanne hinabrann. Er nahm einen der bunten Kaffeekrüge aus Steingut, die neben dem Herd standen, spülte ihn unter laufendem Wasser aus und füllte ihn wieder mit dem frisch gebrühten Kaffee. Dann öffnete er eine große Schublade unter der Herdplatte und entnahm ihr eine runde rote Blechdose, die er sich unter die Achsel klemmte. Aus dem riesigen grauen Kühlschrank, der sich wie ein Monolith neben der Küchenzeile erhob, holte er mit der Linken eine Milchflasche, mit der Rechten ergriff er den Kaffeebecher und ging zu seinem Sessel. Nachdem er sich seufzend wieder niedergelassen hatte, füllte er Milch zu seinem Kaffee, öffnete die auf dem Boden neben dem Sessel abgestellte Blechdose und angelte sich einen großen Keks heraus. Bevor er in den Keks hineinbiss, rief er noch einmal:

»Kagami!«

Immer noch keine Antwort.

Aaron biss in den hellbraunen Keks, nahm einen Schluck Kaffee und lehnte sich zurück. Er stellte den Kaffeebecher auf seinem Bauch ab, ihn mit einer Hand balancierend, die andere ließ er mit dem angebissenen Keks auf der auf dem Stahlrohr seines Sessels montierten Holzlehne ruhen. Er kaute mit geschlossenen Augen und grunzte leise genießend. Dann biss er wieder vom Gebäck ab, nahm schlürfend noch einen Schluck heißen Kaffee und streckte seine kurzen Beine von sich. Langsam legte sich wieder Schnee auf die Oberlichter, die von den Jalousien am Vorabend beim Schließen wie von einem gemächlichen Schneepflug freigeräumt worden waren. Bald würde es wieder dämmrig im Studio werden. In zwei Stunden wird ein blauweißer Schein den Raum erfüllen, ein Licht, in dem Aaron seit Monaten lebte.

Er stellte den Kaffeebecher auf dem Boden ab, griff nach der Fernbedienung, die unter dem Sessel lag. Ohne den Kopf zu wenden, zielte er nach rechts in Richtung eines metallenen Wagens, in dessen Fächern allerlei Elektrogeräte untergebracht waren. Ein rotes Auge leuchtete auf einer milchig weißen halbtransparenten Fläche auf. Das Leuchten ging in ein Pulsieren über, dann erklang Saxofonmusik: Brubecks »Audrey«.

 

 

 

Aaron steckte sich den Keksrest in den Mund, erhob sich aus seinem Sessel und ging mit seinem Mug zur Küchenzeile, um noch einmal Kaffee nachzuschenken. Dann klemmte er sich die Keksdose wieder unter die Achsel, nahm die Milchflasche in die eine, den Kaffeebecher in die andere Hand, schlurfte langsam zu einem großen schwarzen Schreibtisch, rückte sich seinen Armlehnstuhl heran, setzte sich und schaltete seine beiden Computer ein. Er klickte auf den Tagesstatus:

Temperatur: minus 12 Grad. Aussicht: minus 25 in der Nacht. Tagsüber sonnig, Schneefall, windstill. Netzstärke gutplus. Er klickte durch die Nachrichtenportale. Die Lage war unverändert. Es wurde vor streuenden Hunderudeln gewarnt, Plünderungen, Schusswechsel zwischen marodierenden Banden und der Polizei. Nördlich des Mains minus 20. Weiterhin Strom- und Wasserausfall in Berlin und Hamburg und einigen norddeutschen Kleinstädten. Die Steuersysteme der öffentlichen Versorgung konnten in Norddeutschland nach dem Hackerangriff vor einer Woche immer noch nicht wieder hochgefahren werden. Krankenhäuser wurden weiterhin evakuiert. Er ließ die Nachrichtenseite auf dem einen Bildschirm offen und wandte sich einem Text zu, der auf dem anderen Bildschirm inzwischen erschienen war. Er las eine Weile, stöhnte immer wieder und griff sich in das schüttere, vom Schlaf...

Erscheint lt. Verlag 9.3.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Schlagworte Buddhismus • Leben • Natalismus • Natur • Nihilismus • #ohnefolie • ohnefolie • Philosophie • Spiritualität • Thoreau • Zivilisationskritik
ISBN-10 3-446-26674-7 / 3446266747
ISBN-13 978-3-446-26674-2 / 9783446266742
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