Herzland (eBook)
560 Seiten
Siedler Verlag
978-3-641-18821-4 (ISBN)
Zwischen Amsterdam und Zürich, entlang des Rheins, erstreckt sich Europas Herzland - von Kaisern begehrt, von Armeen umkämpft, von Dichtern gepriesen. Wer Europa verstehen will, muss die Geschichte dieser Region kennen: den ständigen Zwist zwischen großen und kleinen Mächten, den Kampf zwischen Vereinheitlichung und trotziger Selbstbehauptung. Nicht zufällig befinden sich alle Institutionen der EU in der Region, die das Schicksal des Kontinents wie kaum eine andere widerspiegelt. Wunderbar leicht und höchst eigenwillig erzählt Simon Winder von diesem Herzland, mit all seinen Sonderbarkeiten voller Kultur, Schönheit und Schrecken: von Waterloo bis Verdun, von Asterix bis zu den Nibelungen, von Rubens bis Karl Marx, von Gouda bis zum Edelzwicker.
Simon Winder, geboren 1963 in London, ist Cheflektor des englischen Verlags Penguin Books. Dort betreut er unter anderem die Bücher vieler bedeutender Historiker. 2010 erschien sein Bestseller »Germany, oh Germany: Ein eigensinniges Geschichtsbuch«, 2014 »Kaisers Rumpelkammer: Unterwegs in der Habsburger Geschichte« (Neuausgabe unter dem Titel »Die Habsburg-Saga«), 2019 folgte »Herzland. Eine Reise durch Europas historische Mitte zwischen Frankreich und Deutschland«.
Von Eisschilden zu Asterix
Die Frühgeschichte der Menschen in Nordwesteuropa wird uns wohl für immer ein Rätsel bleiben. Wir können zwar davon ausgehen, dass im Laufe der Jahrtausende alle möglichen heroischen Taten vollbracht und Erfindungen gemacht wurden, dass sowohl ernsthafte als auch lächerliche Herrscher scheiterten und es Naturkatastrophen und faszinierende Erkenntnisse in Sachen Gemüse gab, doch Genaueres werden wir darüber niemals erfahren. Die Neandertaler (benannt nach dem Neandertal unweit von Düsseldorf, wo ihre Überreste Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt wurden) scheinen vor vierzigtausend Jahren ausgestorben zu sein, möglicherweise ausgelöscht durch die Vorfahren des modernen Menschen. Unsere frühen Verwandten teilten sich ihren Lebensraum mit diversen furchteinflößenden Tieren, etwa europäischen Leoparden und Höhlenbären. Doch als die letzte Eiszeit den nördlichen Teil Europas in eine Polarwüste verwandelte, wurden diese – wie auch die meisten Menschen – vertrieben oder starben aus. Vor achtzehntausend Jahren zog sich das Eis dann allmählich zurück, und darunter kam eine recht vertraute Landschaft zum Vorschein. Wasserspiegel und Temperaturen stiegen, und die Menschen wanderten zurück nach Norden.
Der einzige eklatante Unterschied zum heutigen Erscheinungsbild Europas war eine Landmasse mit dem lustigen Namen Doggerland, die den größten Teil der jetzigen Nordsee ausfüllte. Dort vereinten sich Themse, Rhein, Maas, Seine und Schelde zu einem gewaltigen Fluss, der am heutigen westlichen Ende des Ärmelkanals ins Meer mündete. Dieses für uns höchst irritierende Land, über dessen Dörfern kleine Rauchfahnen in den Himmel stiegen und in dem Wölfe, riesige Hirsche und Auerochsen lebten, die schnaubend an den sumpfigen Ufern eines der größten Ströme der Welt entlangzogen, wurde nach und nach vom steigenden Meeresspiegel und Tsunamis verschlungen, bis es 6500 v. Chr. endgültig verschwand. In einem der dramatischsten geologischen Ereignisse der europäischen Vergangenheit (das auch einen unvorstellbaren Lärm verursacht haben muss) brach der letzte, etwa dreißig Kilometer breite Keil aus Fels und Schlamm weg, wodurch Britannien zur Insel wurde. Vor den Augen jener glücklichen Jäger und Sammler, die sich zufällig im höher gelegenen Proto-Kent oder Proto-Pas-de-Calais befanden, versank das bedauernswerte Doggerland in den Fluten, und es entstand der Ärmelkanal.
Blickt man auf die europäische Frühgeschichte zurück, so drängt sich unweigerlich der Eindruck auf, dass die wahre Schwerstarbeit von anderen geleistet wurde – von den Nordostasiaten beispielsweise, die am Ende der letzten Eiszeit ganz Amerika besiedelten, oder den Bewohnern Borneos, die später mit der Besiedelung von Madagaskar eine ähnlich epische Großtat vollbrachten. Diese Abenteuer stehen in krassem Gegensatz zu den zwar notwendigen, aber doch eher eintönigen Beschäftigungen der Europäer, die sich in kleinen Verbänden bemühten, in ihrer rauen, tundra-artigen Umgebung zurechtzukommen. Auch der Vergleich mit Regionen wie dem Fruchtbaren Halbmond, wo Tiere domestiziert, Feldfrüchte kultiviert, so nützliche Dinge wie das Rad oder die Schrift erfunden und die ersten Städte gegründet wurden, gestaltet sich in zunehmendem Maße peinlich. Während unter der glühenden Sonne Zehntausende Arbeiter nach Gutdünken ihrer goldgewandeten Priester und Könige riesige Tempeltürme errichteten, hantierten die Nordeuropäer mit ranzigem Bärenfett herum.
Aber auch in Nordwesteuropa entwickelte sich zu einem nicht näher definierbaren Zeitpunkt eine deutlich komplexere Gesellschaft, wenngleich diese immer noch nicht im Entferntesten an die kultivierten Verhältnisse im östlichen Mittelmeerraum heranreichte. Die traditionell in Museen präsentierten Rundhütten, die sich hinter einem erschreckend schwachen, aus Binsen oder dergleichen gefertigten Verteidigungswall zusammendrängen und in deren Mitte ein dünnes Rauchfähnchen von einem Lagerfeuer aufsteigt, während alle resigniert auf die römischen Invasoren warten, die endlich Abwasserkanäle und vernünftige Straßen bauen sollen, entsprechen längst nicht mehr dem aktuellen Wissensstand. Ein Historiker, der sich hauptsächlich mit dem eisenzeitlichen Europa beschäftigt, wies mich einmal darauf hin, dass der Ärmelkanal vor der Eroberung Britanniens durch die Römer von großen, aufwendig konstruierten und bis zum Rand mit Waren beladenen Segelschiffen befahren wurde, deren Besatzung allerdings aus gänzlich illiteraten Seeleuten und Händlern bestand. Im ersten Moment schwirrte mir bei der Vorstellung der Kopf, aber wenn man erst einmal darüber nachdenkt, ist es vollkommen logisch. Und dieser Aha-Effekt lenkte mein Denken in völlig neue Bahnen. Eine hochkomplexe merkantile und militärische Zivilisation, die Schiffe einsetzte, Tauschhandel betrieb und Rohstoffe sowie verarbeitete Güter aus dem ganzen nordwestlichen Europa bezog, brauchte nichts aufzuschreiben. Tatsächlich brauchte die gesamte Menschheit bis zu einem gewissen Punkt ihrer Entwicklung keine Aufzeichnungen. Aus dem Blickwinkel unserer schriftfixierten Kultur mag es schwierig sein, für diese in Tierfelle gehüllten, rätselhaften Menschen mit ihren merkwürdigen Göttern nicht wenigstens einen Hauch Mitleid zu verspüren. Doch das ist keineswegs angebracht. Über viele Generationen hinweg vollzogen sich dramatische Entwicklungen, die Menschen wanderten in fremde Regionen ein, Kämpfe tobten, es wurden Erfindungen gemacht und Bauten errichtet, und wir stehen nicht etwa deshalb ratlos vor den zahllosen Relikten jener Zeit, weil diese bedeutungslos wären, sondern weil wir ihre einst komplexe Bedeutung nicht zu entschlüsseln vermögen.
Die Archäologie liefert zu diesem vorschriftlichen Europa unablässig neue frustrierende Rätsel. Auf dem Glauberg vor den Toren Frankfurts wurde kurz vor dem Zweiten Weltkrieg eine ganze Reihe aufwendig gestalteter eisenzeitlicher Überreste gefunden. Bei späteren Ausgrabungen machte man dann eine noch spektakulärere Entdeckung: die beinahe unbeschädigte 1,80 Meter hohe Sandsteinfigur eines gepanzerten Mannes mit Schild, Halstuch und einer bizarren Kopfbedeckung, von der zwei überdimensionierte Klappen abstehen wie merkwürdige Hasenohren. Die Statue entstand offenbar um 500 v. Chr., doch bei ihrem Anblick fühlt man sich unweigerlich an das UFO von Roswell und außerirdische Invasoren erinnert. Es könnte sich um einen Fürsten handeln, einen Kultgegenstand oder das beliebte Logo einer Kette von Karrenwerkstätten. Aber wir wissen es nicht – und so ist diese Figur in äußerst schwankenden Anteilen faszinierend und langweilig zugleich. Fast nahm ich es ihr übel, dass sie zweieinhalb Jahrtausende unbehelligt im Boden gelegen hatte, bis sie nun plötzlich ohne jeden Zusammenhang und erklärende Geschichte aufgetaucht war und Unruhe stiftete. Das Einzige, was wir also mit Gewissheit sagen können, ist, dass jenes Nordwesteuropa, in dem wir leben, auf einem gewaltigen Fundament menschlicher Leistungen ruht, über die wir so gut wie nichts wissen.
Als die Römer auf der Bildfläche erscheinen und Julius Cäsar sein Werk Der Gallische Krieg verfasst, ist es, als werde ein riesiger, den gesamten Kontinent verhüllender Vorhang angehoben, und wir erblicken – beschrieben nicht nur von einem direkten Augenzeugen, sondern von dem Mann, der mehr als jeder andere für die Zerstörung dieser Kultur verantwortlich ist – eine Reihe bestens organisierter, hochentwickelter Gesellschaften, die den Römern mit ihrer Militärtechnik erhebliche Probleme bereiten und zudem über große, robuste, für das raue Wetter auf dem Atlantik konstruierte Schiffe verfügen. Wer Cäsars Bericht liest, fühlt sich hinsichtlich des nordwesteuropäischen Wesens unverzüglich getröstet, und doch sollte man auf der Hut sein. Die erhaltenen schriftlichen Zeugnisse und die für uns nun leichter verständlichen archäologischen Überreste jener Zeit vermitteln die Illusion einer völlig neuen Geschlossenheit und Entschlusskraft, dabei waren alle auch schon genauso eloquent, aggressiv, treulos, heldenhaft, ruhelos und unfähig, bevor diese unerfreulich hochgerüsteten Italiener ankamen.
Der womöglich eindrucksvollste Ort des vorrömischen Nordwesteuropa liegt auf einem Hügel bei Otzenhausen in einer dicht bewaldeten Region des Saarlands. Nur wenige Stätten vermitteln einen so anschaulichen Eindruck davon, wie sehr das Leben der Menschen in weiten Teilen Europas vom Wald bestimmt wurde. Kiefern und Buchen waren mächtige Gegner, ihre Samen breiteten sich unerbittlich aus und eroberten die vom Menschen aufgegebenen Plätze innerhalb einer Generation zurück. Im Mittelalter gestand man Siedlern deshalb während der sogenannten Rodejahre, in denen die Baumwurzeln aus dem Boden gerissen und das Land urbar gemacht wurde, besondere Privilegien zu. Doch sobald die Menschen von Katastrophen wie Kriegen, Pest oder Ernteausfällen heimgesucht wurden, bot sich den Bäumen eine neue Chance, alles zu überwuchern. Die befestigte keltische Siedlung bei Otzenhausen, die über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten errichtet wurde, war riesig. Man hat ermittelt, dass sie während ihrer größten Ausdehnung (um die Zeit von Cäsars Invasion) aus ungefähr 56 Kilometern Baumstämmen und 240 000 Kubikmetern Stein bestand (was, wie Archäologen dankenswerterweise ausgerechnet haben, der Ladung von etwa neuntausend Güterwaggons entspricht). Der außergewöhnlich hohe Bedarf an Bau- und Feuerholz führte dazu, dass das heute wieder waldreiche Gebiet damals in weiten Teilen abgeholzt war und die wahrscheinlich mit Gehöften gesprenkelte und von breiten Wegen durchzogene Landschaft sich von der jetzigen so sehr unterschied, dass wir sie uns kaum vorstellen...
Erscheint lt. Verlag | 31.8.2020 |
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Übersetzer | Nathalie Lemmens |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Lotharingia |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Als Deutschland noch nicht Deutschland war • Altes Europa • Bill Bryson • Brexit • Bruno Preisendörfer • Die Habsburg-Saga • eBooks • Europa • Europäische Geschichte • Europäische Union • europas historische mitte • Germany, oh Germany • Geschichte • Geschichte Europas • Geschichtsbuch • ITB BuchAward 2021 • Kaisers Rumpelkammer: Unterwegs in der Habsburger Geschichte • Lothringen • Reisebericht |
ISBN-10 | 3-641-18821-0 / 3641188210 |
ISBN-13 | 978-3-641-18821-4 / 9783641188214 |
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