Der werfe den ersten Stein (eBook)
224 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26498-4 (ISBN)
Verrat - Betrug - Intrige: Wer den schlimmsten Formen menschlicher Bosheit zum Opfer gefallen ist, dem bleibt als Befreiungsschlag oft nur die Verdammung des Gegners. Die Weltliteratur kennt viele Verdammungen, in der Bibel, auf der Bühne, in Märchen und Legenden. Michael Köhlmeier erzählt ein gutes Dutzend Beispiele, die Konrad Paul Liessmann philosophisch kommentiert: Geschichten wie die von Agamemnon und Achill, Jesus und der Ehebrecherin, Othello und Desdemona. Ein großer Erzähler und ein großer philosophischer Lehrer erkunden die dunkelsten Seiten unserer Existenz - ein brillanter Dialog vor einem weit gespannten Horizont der Ideen.
Michael Köhlmeier, 1949 in Hard am Bodensee geboren, lebt in Hohenems/Vorarlberg und Wien. Bei Hanser erschienen die Romane Abendland (2007), Madalyn (2010), Die Abenteuer des Joel Spazierer (2013), Spielplatz der Helden (2014, Erstausgabe 1988), Zwei Herren am Strand (2014), Das Mädchen mit dem Fingerhut (2016) und Bruder und Schwester Lenobel (2018), außerdem die Gedichtbände Der Liebhaber bald nach dem Frühstück (Edition Lyrik Kabinett 2012) und Ein Vorbild für die Tiere (Gedichte, 2017) sowie die Novelle Der Mann, der Verlorenes wiederfindet (2017) und zuletzt Die Märchen (Mit Bildern von Nikolaus Heidelbach, 2019). Michael Köhlmeier wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. 2017 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für sein Gesamtwerk und 2019 mit dem Ferdinand-Berger-Preis.
Betrug
Der falsche Mann
Es war einmal eine Familie — wer würde nicht gern so beginnen! Es war aber eine Familie, die nicht lange zusammenblieb, denn der Vater musste in die Welt hinaus, weil zu Hause keine Arbeit für ihn war. Er schloss das Gatter und winkte seiner Frau zu und seinem kleinen Sohn, der gerade groß genug war, um allein stehen zu können. Die beiden winkten noch, als der Bus längst hinter den Alleebäumen verschwunden war. Dann ging die Frau mit dem Buben ins Haus und weinte ein wenig. Aber sie weinte weniger, als sie selbst glaubte weinen zu sollen.
Die Schwester kam am Abend zu Besuch. Sie wohnte drei Häuser weiter; auch sie wohnte allein, ihr Mann war schon vor Jahren in die Welt hinausgezogen. Er schrieb Briefe. Alle Monate kam ein Brief, der war gut gelaunt. Sie tröstete ihre Schwester: »Es dauert nur wenige Tage«, sagte sie, »dann hast du dich daran gewöhnt. Du machst deine Sache, er macht seine, und wenn er wieder kommt, legt ihr eure Sachen zusammen, und dann sind es mehr als zwei, und wollen wir hoffen, dass die Männer draußen gut werden.«
»Das sind auswendig gelernte Sätze«, sagte die Weinende. »Ich werde mir einen anderen Mann suchen, einen, der es nicht nötig hat, irgendwo anders zu arbeiten. Einen, der mich nicht schlägt.«
»Genauso habe ich auch gedacht«, sagte die Schwester, »und heute denke ich nicht mehr so.«
Die Schwester hatte recht. Nach ein paar Tagen weinte die Frau nicht mehr, und sie küsste auch nicht mehr die ganze Zeit im Gesicht ihres kleinen Sohnes herum, was der gar nicht mochte; und nach ein paar weiteren Tagen hatte sie sich daran gewöhnt, allein zu sein. Sie staunte selbst darüber. Habe ich meinen Mann denn nicht lieb, fragte sie sich, dass ich ihn schon nach zwei Wochen nicht mehr vermisse?
Sie sprach mit ihrer Schwester darüber. Die sagte: »Doch, du hast ihn lieb. Du vertraust ihm. Darum machst du dir keine Sorgen. Und wenn man sich keine Sorgen macht, dann ist auch der Abschiedsschmerz nur halb so schlimm.«
So war das. Und so blieb es über die nächsten Jahre. Alle Monate bekam sie einen Brief von ihrem Mann, einen gut gelaunten. Sie machte ihre Sache, und sie wusste, er machte seine, und wenn er zurückkommt, dann legen sie beide ihre Sachen zusammen, und es wird mehr sein als doppelt so viel. Und sie hoffte, ihr Mann würde draußen ein guter Mann werden.
Derweil war der Mann in einem anderen Land und arbeitete. Die Arbeit war ganz anders, als er sich gedacht hatte, und die Menschen waren auch anders. Deshalb war er selber auch bald anders. Die Briefe ließ er sich schreiben. Er konnte lesen und schreiben, natürlich konnte er das, aber er hatte keinen Kopf für einen Brief nach Hause. Nach einem Jahr hatte er überhaupt keinen Kopf mehr für nach Hause. Er erinnerte sich, dass er oft mit dem kleinen Sohn geschimpft hatte. Weil er laut war. Oder weil er etwas umgekippt hatte. Weil er im Weg war. Weil er nicht essen wollte. Er erinnerte sich, dass er den kleinen Buben gehauen hatte, sogar mit dem Handrücken. Er erinnerte sich, dass er mit seiner Frau gestritten hatte deswegen. Sie hatte ihn angeschrien, sie werde weggehen von ihm, wenn er den Buben noch einmal schlägt. Aber er hat es wieder getan. Wenn er daran dachte, war kein schlechtes Gewissen in ihm. Im Gegenteil. Er dachte: Was hat die Familie aus mir gemacht? Und er antwortete sich selbst: Einen Mann, der nicht frei ist; einen Mann, der zornig ist, weil er nicht frei ist. Aber jetzt, jetzt war er frei. Er bezahlte den Schreiber, der sich für ihn die gut gelaunten Briefe ausgedacht hatte.
»Du musst mir von deiner Frau erzählen und von deinem Sohn«, sagte der Scheiber, »damit ich nicht ins Blaue hinein erfinden muss.«
Der Mann erzählte, erzählte aber nicht, dass er hart gewesen war und manchmal grausam; erzählte nicht, dass er sich unfrei gefühlt hatte; erzählte nicht, dass er seinen kleinen Sohn geschlagen hatte, und erzählte nicht, dass er seine Frau geschlagen hatte. Er dachte sich einen guten Vater aus und einen guten Ehemann, und während er erzählte, rollten die Tränen über seine Wangen.
Eines Tages kam der Schreiber und sagte: »So kann es nicht weitergehen. Der Mann, den ich erfinde, der kommt um vor Sehnsucht. Es ist, als ob ein glühender Dolch in sein Herz gestoßen wird! Er will nach Hause. Er schreibt, er stirbt vor Sehnsucht in der Ferne. Nimm Urlaub und besuche deine Familie!«
»Nein, das will ich nicht«, sagte der Mann. »Schreib im nächsten Brief, ich komme nicht, ich komme nie mehr wieder. Schreib: Ich verlasse euch! Und Punkt!«
»Das kann ich nicht«, sagte der Schreiber.
»Dann fahr doch du zu meiner Frau und zu meinem Sohn!«, sagte der Mann. »Du hast diese Briefe geschrieben, nicht ich. Du kennst sie besser als ich. Sag, du bist ich.«
»Aber wie soll das gehen!«, rief der Schreiber und schlug die Hände zusammen. »Sehe ich aus wie du? Ich bin einen halben Kopf kleiner.«
»Dann sag, du hast in der Ferne schwere Sachen tragen müssen, die haben dich zusammengedrückt. Und sag, auch die Sorge und die Sehnsucht haben dich zusammengedrückt. Sie wird dir glauben und dich dafür lieben.«
»Aber ich habe helle Augen und du dunkle«, sagte der Schreiber.
»Dann sag, in der Ferne scheint die Sonne so heiß, dass sie die Augen sogar bleicht.«
»Aber du bist schlank in den Hüften und breit in den Schultern, und ich habe einen dicken Bauch.«
»Dann sag, man isst in der Ferne so gut, und du hast nicht widerstehen können.«
»Aber ich sehe doch ganz anders aus als du!«, rief der Schreiber. Zugleich aber dachte er bei sich: Warum nicht? Habe ich mir nicht immer eine Familie gewünscht? Vielleicht reicht mir das Glück die Hand. Wäre es nicht ein Verbrechen, sie auszuschlagen?
»Also gut«, sagte er, »ich werde es tun.« Und er machte sich auf den Weg.
Er klopfte an die Haustür. Die Frau öffnete und fragte: »Ja?«
»Ich bin es«, sagte er, »dein Mann.«
Sie ließ ihn herein und sagte nichts.
»Wo ist der Bub?«, fragte er.
»Welcher Bub?«, fragte sie zurück.
»Unser Bub.«
»Der ist kein Bub mehr, der ist ein junger Mann. Der kommt am Abend erst. Er arbeitet am Tag.«
»Hat er hier eine Arbeit gefunden?«, fragte der Mann.
Die Frau nickte. Sie drückte Zitronen aus, weil sie dachte, er wird Durst haben. Sie trat mit dem Glas in der Hand nahe an ihn heran. »Warst du nicht größer als ich?«, fragte sie.
»Bestimmt«, sagte er. »Ich habe in der Ferne so schwere Sachen getragen, die haben mich zusammengedrückt, und auch die Sorge und die Sehnsucht haben mich zusammengedrückt, darum bin ich einen halben Kopf kleiner, als ich war.«
»Waren deine Augen nicht dunkel?«, fragte sie. »Weil sie nun hell sind.«
»In der Ferne, sag ich dir«, sagte er, »in der Ferne brennt die Sonne vom Himmel, die bleicht sogar die Augen aus.«
»Und warst du nicht schlank? Jetzt bist du dick.«
»Die guten Speisen in der Ferne, die haben das gemacht«, sagte der Mann.
Die Frau nickte und schaute ihn nicht mehr an.
Einen Tag und noch einen Tag schaute sie den Mann nicht an, dann lief sie zu ihrer Schwester hinüber. »Komm, ich muss dir etwas zeigen«, sagte sie.
Die Schwester sah sich den Mann an und sprach mit ihm. Lange sprach sie mit ihm, allein sprach sie mit ihm.
»Und?«, fragte die Frau hinterher.
»Er hat eine angenehme Stimme«, sagte die Schwester.
»Ist er mein Mann, will ich wissen!«
»Er weiß viel und kann sich sehr gewählt ausdrücken.«
»Ist er es?«
»Er hat Zärtlichkeit im Blick.«
»Ist er es?«
»Ja, er ist dein Mann«, sagte die Schwester. »Er ist draußen ein guter Mann geworden.«
Am Abend kam der Sohn von der Arbeit nach Hause. Seine Mutter sagte zu ihm: »Kannst du dich an deinen Vater erinnern?«
»An seine Briefe kann ich mich erinnern. Sie waren sehr schön«, sagte der Sohn. »Ich habe mir immer gewünscht, diesen Mann kennenzulernen, der so schöne Briefe schreibt.«
»Der ist es«, sagte die Frau und bat den Mann herein, der vor der Tür gewartet hatte.
»Genauso habe ich ihn mir vorgestellt!«, rief der Sohn aus und umarmte den Mann, und der Mann drückte seinen Sohn fest an seine Brust.
»Wie sehr ich euch vermisst habe!«, schluchzte er. »Die Sehnsucht hat mich fast umgebracht. Es war, als ob ein glühender Dolch in mein Herz gestoßen würde!«
Da glaubte nun auch die Frau, dass ihr Mann zurückgekehrt war und dass er draußen ein...
Erscheint lt. Verlag | 19.8.2019 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
Schlagworte | Betrug • Bibel • Eifersucht • Intrige • Kränkung • Märchen • Misstrauen • Mythos • Niedertracht • Philosophie • Schuld • Teufelspakt • Unterwerfung • Verdammen • Vergewaltigung • Verrat • Wahrheit |
ISBN-10 | 3-446-26498-1 / 3446264981 |
ISBN-13 | 978-3-446-26498-4 / 9783446264984 |
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