Leben, ins Feuer geworfen (eBook)

Die Generation des Großen Oktobers
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
300 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75907-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Leben, ins Feuer geworfen -  Michail Ryklin
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»Himmelsstürmer« hießen die jungen Leute, die 1917 für die Oktoberrevolution brannten und sich dem radikalen Umbau der Gesellschaft verschrieben. Viele endeten tragisch: im Lager an der Kolyma oder in den Kellern der Lubjanka, des berüchtigten Moskauer Geheimdienstgefängnisses. Es waren die Schüler und Gefährten Lenins, die den Gewaltexzessen seines Nachfolgers Stalin zum Opfer fielen.

Für Michail Ryklin ist dieses Drama persönliche Geschichte. Die Söhne des Urgroßvaters, eines Geistlichen in Smolensk, gehörten zur bolschewistischen Elite. Nikolaj Tschaplin stieg in der Jugendorganisation Komsomol bis zur Führungsebene auf, Sergej, ein paar Jahre jünger, arbeitete schon mit fünfzehn als Kurier und war später für den Auslandsgeheimdienst in Finnland und Estland tätig. Der eine wirkte von innen für die Revolution, der andere wollte sie in die Welt tragen - bis beide in die Mühlen des Terrors gerieten.

Gestützt auf Archivmaterial und Erinnerungen von Zeitzeugen rekonstruiert Ryklin das Leben und den gewaltsamen Tod seiner Verwandten, die Teil des sowjetischen Herrschaftssystems waren. Sein erschütternder Bericht konfrontiert uns mit dem Innersten der totalitären Macht und dem Versuch Einzelner, ihre menschliche Integrität zu behaupten.



Michail Ryklin, 1948 geboren, arbeitet am Institut für Philosopie an der Akademie der Wissenschaften in Moskau. 2007 erschiender Essay <em>Mit dem Recht des Stärkeren</em>(es 2474), für den er mit dem<em> Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2007</em> ausgezeichnet wurde.

Michail Ryklin, 1948 geboren, arbeitet am Institut für Philosopie an der Akademie der Wissenschaften in Moskau. 2007 erschiender Essay Mit dem Recht des Stärkeren(es 2474), für den er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2007 ausgezeichnet wurde.

Kairos


Bei der Arbeit an diesem Buch stellte ich mir unwillkürlich die Frage: Warum schreibe ich es mit solcher Verspätung? Warum erst jetzt? Vor zwanzig Jahren waren meine Verwandten noch am Leben, und ich hätte sie nach den Menschen fragen können, von denen es handelt.

Doch damals kam es mir nicht in den Sinn.

Das Buch handelt vom Onkel meiner Mutter, Nikolai Pawlowitsch Tschaplin, von seinem Bruder, meinem Großvater Sergej Pawlowitsch Tschaplin, von ihren Freunden und vor allem von der Zeit, in die ihr kurzes Leben fiel, das so tragisch endete. Es handelt von der Zeit jenes Ereignisses, das in der Sowjetunion Große Sozialistische Oktoberrevolution genannt wurde und das in Russland heute geringschätzig als bolschewistischer Umsturz bezeichnet wird. Dieses Ereignis hat dem Leben einer ganzen Generation Sinn verliehen; in seinem Namen wurden die meisten von ihnen umgebracht.

In meiner frühen Kindheit wurde über sie und ihr Schicksal nur geflüstert; lange wussten wir nicht einmal genau, ob sie noch am Leben sind. Unter Stalin wurde auf Anfragen von Verwandten »nach Vorschrift« geantwortet: War jemand erschossen worden, hieß es, er habe »zehn Jahre ohne Recht auf Briefverkehr« erhalten; wer im Lager an Hunger und Kälte zugrunde gegangen, an Zwangsarbeit zerbrochen oder erschossen worden war, von dem hieß es, er sei an dieser oder jener Krankheit gestorben. Nachzufragen wagte niemand, jeder konnte schnell selbst zum »Volksfeind« werden.

Als nach Stalins Tod die Rehabilitation begann, wurde den Menschen, um die es in diesem Buch geht, wie hunderttausenden anderen Opfern des »Personenkults« das »Fehlen eines Straftatbestands« bescheinigt, einigen sogar noch vor Chruschtschows Geheimrede auf dem 20. Parteitag der KPdSU. Nikolai Tschaplin wurde sogar posthum wieder in die Partei aufgenommen.

Einige paar Jahre später, am 12. April 1961, ermahnte der Direktor meiner Leningrader Schule mich feierlich, stolz auf meine Verwandten zu sein. Sie hätten zum Sieg der Oktoberrevolution beigetragen. Dieses Datum ist mir aus einem anderen Grund in Erinnerung geblieben. Es war der Tag, an dem Juri Gagarin ins All flog.

Kinder spüren oft intuitiv, ob jemand lügt, ohne sagen zu können, worin genau die Lüge besteht. Es gelang mir nicht, auf Menschen stolz zu sein, die man vor kurzem noch wie Aussätzige behandelt hatte. Menschen, über deren Existenz man besser schwieg. Dies galt umso mehr, als während des »Tauwetters«, als man die früheren Volksfeinde zu rehabilitieren begann, nur ihr Leben heiliggesprochen wurde. Wie und warum sie gestorben waren, darüber durfte weiterhin nicht geredet werden.

Weder als Schüler noch während meines Studiums an der Philosophischen Fakultät der Moskauer Staatsuniversität bin ich Mitglied des Komsomol gewesen, jener Organisation, zu deren Gründern mein Großonkel gehört hatte.

Generell galt es unter Geisteswissenschaftlern meiner Generation als Bankrott, wenn man sich mit der Geschichte der KPdSU, mit dem historischen Materialismus oder dem wissenschaftlichen Kommunismus befasste; das versprach allenfalls eine gut bezahlte, aber in intellektueller Hinsicht drittklassige Arbeit als Soldat der Partei oder des Staates. Der von der Partei kontrollierten ideologischen Sphäre blieb man fern, wie eine unausgesprochene Regel lautete. Alles, was von Ideologie berührt war, rief bei jenen, die Wissenschaft betreiben wollten, das Bedürfnis nach Abgrenzung hervor. Angezogen fühlten sie sich von Logik, Philosophiegeschichte, Ästhetik, moderner westlicher Philosophie. Viele suchten ihr Heil in der Entpolitisierung, und ich war keine Ausnahme: Ich beschäftigte mich mit dem Einfluss der Philosophie Rousseaus auf die strukturelle Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, danach schrieb ich über Michel Foucault, Gilles Deleuze, Roland Barthes, Jacques Derrida, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Martin Heidegger und Karl Jaspers.

Die seltenen Versuche, jene meiner Verwandten, die mit dem Leben davongekommen waren, über die Ursachen des Großen Terrors zu befragen, endeten erfolglos. Ich stieß an eine Mauer des Schweigens.

Die globale Bedeutung der Oktoberrevolution ist mir erst Anfang der 1990er Jahre in Paris, in Gesprächen mit französischen Philosophen, vor allem mit Jacques Derrida, Jean Baudrillard und Félix Guattari bewusst geworden. Sie interessierten sich nicht sonderlich für die russische Geschichte (das Tatarenjoch, die Opritschnina, die Reformen Peters I. und Alexanders II.), sehr wohl jedoch für die Oktoberrevolution. Sie betrachteten sie als ein Ereignis der Weltgeschichte, als Erbin der Großen Französischen Revolution und damit als Teil ihrer eigenen Geschichte. Stalinist war keiner von ihnen, aber einige hatten sich in ihrer Jugend für Lenin und Trotzki begeistert. Es stellte sich heraus, dass die Revolution, die einst mit dem Ziel antrat, den Kapitalismus zu vernichten, eine andere Seite hatte, die den Beteiligten verborgen blieb, für meine Gesprächspartner aber wesentlich war. Die Bolschewiki hatten ihre Revolution als Teil einer Weltrevolution begriffen, die sich nach Westen ausbreiten würde. In Europa sollten ähnliche Revolutionen ausbrechen. Doch keine entwickelte bürgerliche Gesellschaft ließ sich in ähnlicher Weise ausbeuten wie die russische. Meine Freunde irrten.

Für Generationen westlicher Intellektueller lag die Bedeutung der Oktoberrevolution darin, dass sie eine mögliche Alternative zum Kapitalismus aufzeigte, dass sie seiner globalen Ausbreitung Grenzen setzte und ihn zwang, die Interessen der Arbeiter, der Frauen, der kolonisierten Völker zu berücksichtigen. Wie soll man hier nicht an die Hegelsche Dialektik denken, auf die in der Sowjetunion so gerne verwiesen wurde. Die Geschichte verläuft nicht so, wie es die Beteiligten beabsichtigten, sondern gemäß der Vorsehung, in der sich der Weltgeist realisiert. Der Rote Oktober ist ein Fragment der Weltgeschichte, das aus einer Laune heraus in die Geschichte Russlands implantiert wurde. Indem er die bürgerliche Gesellschaft radikal herausforderte, trug er zur Entwicklung und Stabilisierung dessen bei, was er vernichten wollte (ebenso wie der Nationalsozialismus den »jüdischen Kommunismus« zerstören wollte und so zur Stabilisierung des Stalin-Regimes beitrug).

»Die Geschichte des kurzen 20. Jahrhunderts«, schreibt Eric Hobsbawm, »kann ohne die Russische Revolution und ihre direkten wie indirekten Folgen nicht erklärt werden. Und das nicht zuletzt, weil sie sich als Retter des liberalen Kapitalismus erweisen sollte: Sie sollte es dem Westen ermöglichen, den Zweiten Weltkrieg gegen Hitlers Deutschland zu gewinnen, sie sollte dem Kapitalismus den Anstoß, sich selbst zu reformieren; und weil sich die Sowjetunion paradoxerweise gegen die Große Depression immun zeigte, sollte sie auch den Anstoß dazu geben, den orthodoxen Glauben an die freie Marktwirtschaft zu revidieren.«1

Das Laboratorium Russland war auf die Verhältnisse im Westen nicht übertragbar. Doch die Bolschewiki begannen, mit Hilfe der Komintern ihr Modell der Revolution zu exportieren. Man verstand nicht, dass in den Augen der westlichen Intellektuellen die Revolution gerade als russische Revolution eine Weltrevolution war. Gerade weil der Kapitalismus in Russland erst im Entstehen war, konnte dort einen Alternative zu ihm errichtet werden. Die Bolschewiki wollten die alte Welt zerschlagen, tatsächlich hielten sie ihr einen Spiegel vor, in dem diese ihre abstoßendsten Seiten erblickte. Dies war ein Stimulus für Veränderungen.

Ein Führer der »himmelsstürmenden« Jugend, die in den zwanziger Jahren, der verhältnismäßig glücklichen Zeit der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) von der Weltrevolution träumte, war mein Großonkel Nikolai Tschaplin. Er und seine Freunde, unter ihnen Alexander Kossarew, Lasar Schatzkin und Besso Lominadse, schworen sich gegenseitig, ihr Leben der Sache der Partei zu widmen. Als 1921 auf Anordnung Lenins innerparteiliche Fraktionen in der WKP(B)2 verboten wurden, stimmten sie...

Erscheint lt. Verlag 31.3.2019
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Schlagworte Gewaltexzess • Oktoberrevolution • Russische Revolution • Sowjetunion • Terror • Totalitarismus
ISBN-10 3-518-75907-8 / 3518759078
ISBN-13 978-3-518-75907-3 / 9783518759073
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