Das Dispositiv Moderne Sklavenarbeit - Anne Lisa Carstensen

Das Dispositiv Moderne Sklavenarbeit

Umkämpfte Arbeitsverhältnisse in Brasilien
Buch | Softcover
541 Seiten
2019
Campus (Verlag)
978-3-593-51048-4 (ISBN)
52,00 inkl. MwSt
In Brasilien ist vielfach die Rede von "moderner Sklavenarbeit". Die betreffenden Arbeitsverhältnisse sind oft in globale Produktionsnetzwerke eingebunden und durch Migration bedingt. Anhand von Beispielen aus der Bekleidungs- und der Stahlproduktion werden die Strategien von staatlichen Institutionen, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften aus repräsentationskritischer und machtanalytischer Perspektive untersucht. Im Zentrum stehen Deutungen, Erfahrungen und Widerstandsstrategien der Arbeiterinnen und Arbeiter. Die Dispositivanalyse wirft ein neues Licht auf die Begriffe Unfreiheit, Entwürdigung und Ausbeutung.
In Brasilien ist vielfach die Rede von "moderner Sklavenarbeit". Die betreffenden Arbeitsverhältnisse sind oft in globale Produktionsnetzwerke eingebunden und durch Migration bedingt. Anhand von Beispielen aus der Bekleidungs- und der Stahlproduktion werden die Strategien von staatlichen Institutionen, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften aus repräsentationskritischer und machtanalytischer Perspektive untersucht. Im Zentrum stehen Deutungen, Erfahrungen und Widerstandsstrategien der Arbeiterinnen und Arbeiter. Die Dispositivanalyse wirft ein neues Licht auf die Begriffe Unfreiheit, Entwürdigung und Ausbeutung.

Anne Lisa Carstensen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück.

Inhalt
1. Einleitung 11
1.1 Ausgangspunkt und Erkenntnisinteresse 11
1.2 Stand der Forschung 16
1.2.1 Netzwerke der Produktion und der Migration 16
1.2.2 Freie und unfreie Arbeit 23
1.2.3 Arbeiter_innen, Macht und Subalternität 27
1.3 Theoretische Verortung 31
1.4 Einführung in die Fallstudien 36
1.5 Aufbau der Arbeit 38
2. Forschungsprogramm und Methode 40
2.1 Dispositivanalyse: Definition und zentrale Begriffe 40
2.2 Theoretische Einsatzpunkte der repräsentationskritischen Dispositivanalyse 50
2.2.1 Das Verhältnis zwischen Diskurs, Materialität und Praktiken 50
2.2.2 Subjekt und Dispositiv 58
2.2.3 Subjekt, Macht und Widerstand 65
2.3 Analysekategorien 71
2.4 Methodisches Vorgehen 76
2.5 Exkurs: (Un-)Möglichkeiten situierter und aktivistischer Forschung 90
3. Das Dispositiv Moderne Sklavenarbeit in Brasilien 94
3.1 Moderne Sklavenarbeit, Zwangsarbeit und Menschenhandel im internationalen Diskurs 95
3.2 Entstehung und Entwicklung des Dispositivs 98
3.2.1 Benennung und Anklage von Sklavenarbeit als Menschenrechtsverletzung (1971–1995) 99
3.2.2 Entwicklung der Allianz gegen Sklavenarbeit ab 1995 104
3.2.3 Institutionalisierung des Kampfs gegen Sklavenarbeit ab 2003 107
3.2.4 Menschenhandel: Andere Ausbeutungsverhältnisse, andere Politiken oder nur ein neuer Begriff? 114
3.2.5 Ausblick auf die aktuellen Entwicklungen 117
3.2.6 Zwischenfazit 119
3.3 Ankerpunkte des Dispositivs Moderne Sklavenarbeit 120
3.3.1 Einbettungen und Abgrenzungen: Einsatzfelder des Dispositivs 121
3.3.2 Ansatzpunkte der Politiken gegen Sklavenarbeit 130
3.3.3 Die Repräsentationslücke in den Initiativen zur Abschaffung moderner Sklavenarbeit 139
3.3.4 Subjekt/Objekt des Dispositivs: Die Arbeitenden als ›versklavte‹ und ›vulnerable‹ Bevölkerungsgruppe 147
3.4 Zwischenfazit 156
4. Fallstudie A: Holzkohleproduktion in der Region Carajás 158
4.1 Einleitung 158
4.1.1 Grande Carajás zwischen Agrargrenze und Rohstoffförderung 159
4.1.2 Das Dispositiv Moderne Sklavenarbeit in der Holzkohleproduktion 168
4.1.3 Ausblick auf die Fallstudie 173
4.2 Das Produktionsnetzwerk der Stahl- und Eisenindustrie 176
4.2.1 Akteure, Entwicklungen und Beziehungen im Produktionsnetzwerk 178
4.2.2 Problematisierung des Produktionsnetzwerks der Stahl- und Eisenindustrie 188
4.2.3 Dichotome Beschreibungen und situiertes Wissen 203
4.2.4 Zwischenfazit 209
4.3 Zirkuläre Arbeitsmigration in die carvoarias 210
4.3.1 Migration als Folge und Bedingung von ›Entwicklung‹ 212
4.3.2 Die Besonderheiten vermittelter zirkulärer Arbeitsmigration und die Figur des gato 214
4.3.3 Migration zwischen Notwendigkeit und Abenteuerlust 224
4.3.4 Zwischenfazit 231
4.4 Arbeit und Ausbeutung in den carvoarias 232
4.4.1 Lage und betriebliche Organisation der carvoarias 233
4.4.2 Arbeitsverhältnisse und Abmachungen 237
4.4.3 Arbeits- und Rahmenbedingungen 247
4.4.4 Zwischenfazit 258
4.5 Normative Grenzziehungen und die Produktivität des Dispositivs Moderne Sklavenarbeit 259
4.5.1 Inhaltliche Kriterien der Abgrenzung moderner Sklavenarbeit 260
4.5.2 Effekte und Begründungszusammenhänge normativer Grenzziehungen 267
4.5.3 Momente der Versklavung – Momente der Definition 271
4.5.4 Umstrittene und streitende Subjekte: Die Geburt des ›Sklaven‹ 275
4.5.5 Zwischenfazit 280
4.6 Aushandlung und Widerstand: Konflikte am Arbeitsplatz und darüber hinaus 282
4.6.1 Aushandlung, Konflikt und Hierarchie am Arbeitsplatz 283
4.6.2 Über den Arbeitsplatz hinaus und in den Arbeitsplatz hinein –Flucht, Inspektionen und Befreiungsaktionen 302
4.6.3 Repräsentation der Unrepräsentierbaren 327
4.6.4 Zwischenfazit 332
5. Fallstudie B: Die Bekleidungsindustrie in São Paulo 334
5.1 Einleitung 334
5.1.1 Die Entwicklung des Dispositivs Moderne Sklavenarbeit in Bezug auf die Bekleidungsindustrie 335
5.1.2 Akteure der Abschaffung moderner Sklavenarbeit 343
5.1.3 Ausblick auf die Fallstudie 348
5.2 Das Produktionsnetzwerk der Bekleidungsindustrie 349
5.2.1 Die Bekleidungsproduktion im Spiegel des Dispositivs Moderne Sklavenarbeit 351
5.2.2 Problematisierungen: Von kleinen Fischen und großen Profiteuren 362
5.2.3 Situiertes Wissen in und um das GPN der Bekleidungsindustrie 369
5.2.4 Zwischenfazit 372
5.3 Migration als Problem des Dispositivs Moderne Sklavenarbeit in der Bekleidungsindustrie 374
5.3.1 Kontext: Migration und Migrationspolitiken in Brasilien 375
5.3.2 Diskurse und Praktiken der Migration in der Bekleidungsindustrie 380
5.3.3 Ethnisierte Produktionsbeziehungen, Kulturalisierung und die Subjekte der Migration 393
5.3.4 Zwischenfazit 398
5.4 Arbeit und Ausbeutung in den oficinas 399
5.4.1 Elemente der Haushalts- und Betriebsführung in den oficinas 400
5.4.2 Bedingungen von Arbeit in den oficinas 410
5.4.3 Zwischenfazit 416
5.5 Normative Grenzziehung als konstitutive Praxis im Dispositiv Moderne Sklavenarbeit 417
5.5.1 Objektive Abgrenzungskriterien versus subjektive Erfahrungen unfreier Arbeit 419
5.5.2 Die Frage nach dem ›freien Willen‹ der ›Versklavten‹ 424
5.5.3 Zwischenfazit 431
5.6 Widerstand und Handlungsstrategien 432
5.6.1 Aushandlungen, Konflikte und Gegenwehr 432
5.6.2 Repräsentationen der Beschäftigten im Dispositiv Moderne Sklavenarbeit 447
5.6.3 Zwischenfazit 465
6. Schlussfolgerungen: Umstrittene Repräsentationen ›versklavter‹ Subjekte 467
6.1 Globale Produktions- und Migrationsnetzwerke in der Holzkohleproduktion und Bekleidungsindustrie 468
6.2 Moderne Sklavenarbeit in den carvoarias und oficinas 477
6.2.1 Die grenzziehende Produktivität des Begriffs moderne Sklavenarbeit 479
6.2.2 Das Definitionsparadox mit praktischen Folgen 483
6.3 Widerstand und Repräsentation: Handlungsmacht- und ohnmacht ›versklavter‹ Subjekte 484
6.3.1 Repräsentationsbeziehungen und Repräsentationslücke 487
6.3.2 Subjektivation als Repräsentationsproblematik 489
6.4 Die Dispositivanalyse als Analyseperspektive: Nutzen und Grenzen 493
6.5 Abschließender Ausblick 495
7. Literatur 499
Abkürzungen 530
Abbildungen und Tabellen 533
Anhang 534
Expert_inneninterviews 534
Beschäftigteninterviews 537
Veranstaltungsbesuche (Auswahl) 538
Danke! 540

1. Einleitung 1.1 Ausgangspunkt und Erkenntnisinteresse Moderne Sklavenarbeit umfasst ein heterogenes Feld extrem prekärer und oftmals durch temporäre Arbeitsmigration strukturierter Arbeitssituationen. Im Allgemeinen wird angenommen, dass die Beschäftigten in solchen Arbeitsverhältnissen über wenig Möglichkeiten zur Gegenwehr oder Interessenvertretung verfügen. Ich nehme den Begriff moderne Sklavenarbeit als ein brasilianisches rechtliches und arbeitspolitisches Konzept zum Ausgangspunkt meiner Analyse von Macht und Widerstand in eben diesen Arbeitssituationen. Seit den 1990er Jahren wird moderne Sklavenarbeit in Brasilien in einem öffentlichen und policy-orientierten Diskurs problematisiert. Der Begriff ist an das Konzept der Zwangsarbeit nach der ILO-Konvention 29 angelehnt (ILO 2014b), geht aber über dieses hinaus. Die entsprechende Definition im brasilianischen Strafgesetzbuch umfasst erstens Fragen des Zwangs und der Freiheitsberaubung (z. B. über Schulden oder physische Gewalt), zweitens der Überausbeutung durch extensive Arbeitstage und drittens entwürdigende Bedingungen bei Arbeit und Unterkunft. Seit Beginn offizieller Inspektions- und Strafverfolgungstätigkeiten auf dem Feld moderner Sklavenarbeit im Jahr 1995 bis einschließlich 2015 wurden in Brasilien 49.816 Personen aus Situationen moderner Sklavenarbeit befreit (MTPS, zit. nach RB 15.06.2016). Diese Zahl schockiert zunächst, weist sie doch auf eine große Zahl bekannter Fälle schwerwiegender Arbeits- und Menschenrechtsverletzungen hin. Weniger aussagekräftig ist sie, wenn ein Überblick über die Gesamtzahl der Fälle extrem ausbeuterischer und unfreier Arbeitssituationen angestrebt wird. Denn aus den Daten des Arbeitsministeriums lässt sich in erster Linie ablesen, dass dieses seit 1995 vermehrt begann, Arbeitssituationen unter der Kategorie moderne Sklavenarbeit zu bearbeiten und die entsprechenden Daten zu systematisieren. Moderne Sklavenarbeit in diesem Sinne ist daher kein empirisches Phänomen, sondern ein arbeitspolitisches und juristisches Konzept. Die empirisch so bezeichneten Arbeitssituationen umfassen ein sehr breites Feld unterschiedlicher Erfahrungen. Als juristisches Konzept ist es zudem hochgradig umstritten. Das wurde beispielsweise in einer polemischen Debatte um den Gesetzesentwurf zur Enteignung von Land im Fall von Sklavenarbeit auf diesem deutlich (siehe Kapitel 3). Vor diesem Hintergrund bearbeite ich die folgende Fragestellung: Was bedeutet die konflikthafte Deutung und Bearbeitung spezifischer Arbeitsverhältnisse in globalen Produktionsnetzwerken als moderne Sklavenarbeit für die Machtbeziehungen und Widerstände in diesen Arbeitsverhältnissen? Der Gegenstand meiner Forschung ist dann Arbeit und Widerstand in globalen Produktions- und Migrationsnetzwerken. Hieran interessieren mich besonders Fragen der Subjektivation und der Konstruktion eines handlungsmächtigen oder -ohnmächtigen Subjektes, Praktiken der (Selbst-) Repräsentation und die Handlungsmöglichkeiten subalterner Arbeiter_innen. Die Fragestellung wird mithilfe einer arbeitssoziologisch fundierten Dispositivanalyse anhand von zwei qualitativen Fallstudien untersucht. Wenn vor dem begrifflichen Hintergrund moderner Sklavenarbeit nach Handlungsperspektiven von Arbeiter_innenbewegungen gefragt wird, offenbart sich eine definitorische Schwierigkeit. Dies lässt sich beispielhaft anhand der folgenden Textstellen aus einem Interview mit einer Projektleiterin am unternehmensnahen Sozialverantwortungsinstitut ETHOS nachvollziehen: »Wir müssen versuchen, die Definition von Sklavenarbeit aufrechtzuerhalten. Damit ist ein Angriff auf die Menschenwürde gemeint. Die Person sieht sich auf viele unterschiedliche Arten in ihrer Freiheit eingeschränkt. Denn diese Arbeiter [Arbeiter auf einer Großbaustelle für einen Staudamm in Jirau, die kurz zuvor wilde Streiks durchgeführt hatten , Anm. d. V.] arbeiten zwar unter prekären Bedingungen und sind mit antigewerkschaftlichen Arbeitgeberpolitiken konfrontiert und all das, aber sie waren in der Lage, sich zu organisieren und für ihre Rechte zu kämpfen [...]. Und Sklavenarbeit ist doch genau diese Grenze. Diese Grenze, die bedingt, dass eine Person sich vollständig in ihren Rechten beschnitten sieht. Ich denke für andere Probleme haben wir andere Mittel« (Int. Ex. ETHOS). Moderne Sklavenarbeit definiert sich im Rahmen dieser Aussage entlang der Annahme einer absoluten Handlungsohnmacht der von Sklavenarbeit betroffenen Subjekte. Es wird eine Gruppe von Arbeiter_innen für die Argumentation herangezogen, deren arbeitsbezogene Probleme von der Interviewpartnerin nicht als moderne Sklavenarbeit verstanden werden, da diese sich ja gegen die kritisierten Bedingungen wehren konnten. Die Frage nach möglichen Handlungsspielräumen der Arbeitenden wird hier tautologisch: Sobald die Arbeiter_innen eigenständiges Handeln für sich reklamieren, unterliegen sie nicht länger der Definition moderner Sklavenarbeit. Die Interviewpartnerin hypostasiert damit eine angenommene empirische Realität und erhebt sie zum Definitionskriterium moderner Sklavenarbeit. Mit dieser Aussage lief meine Fragestellung zunächst ins Leere. Denn aus dieser Perspektive ist die Frage, ob Subjekte, denen ihre Rechte abgesprochen werden, dennoch für diese eintreten können, nicht zu bearbeiten. Die Arbeitenden sind dann subalterne Subjekte, welche nicht für sich selbst sprechen und gehört werden können (Spivak 2008); es handelt sich bei den versklavten Arbeiter_innen in den Worten Butlers um ein nicht existenzfähiges Subjekt, sogenannte »gesellschaftliche Tote« (Butler 2013: 31), welche an den vermeintlichen Rändern der Arbeitsmärkte als gesellschaftliches Anderes existieren und zur Illusion einer weitergehenden Normalität kapitalistischer Lohnarbeitsbeziehungen beitragen. Hatte ich also meine Frage falsch formuliert und nach etwas gesucht, was es per definitionem nicht geben kann? In der weiteren Feldforschung bestätigte sich meine Arbeitshypothese, dass die befragten Arbeiter_innen , die in den problematisierten Arbeitsbeziehungen arbeiteten, durchaus viel zu sagen hatten und von vielfältigen Praktiken der Gegenwehr und Vertretung ihrer Interessen berichteten. Diese Berichte finden aber keinen Eingang in dominante Erzählungen über Sklavenarbeit in den entsprechenden Feldern. Was bedeutete dies vor dem Hintergrund der obigen Aussage? Hatte ich einfach die falschen Arbeiter_innen, nämlich doch keine authentischen Sklavenarbeiter_innen befragt? Oder hatte ich herausgefunden, dass die ›Realität‹ ganz anders war, als dominante diskursive Repräsentationen? Und welche politischen Implikationen hat dieses Sprechen der Arbeiter_innen? Um nun nicht in die Falle zu tappen, ein neues, in sich schlüssiges authentisches Subjekt jenseits diskursiver (Nicht-)Repräsentationen zu identifizieren, beschloss ich, genau dieses Spannungsfeld als Ausgangspunkt zu nehmen, und nicht nach der Repräsentation der Subalternen jenseits, sondern angesichts und innerhalb des Diskurses um moderne Sklavenarbeit zu fragen. Dies ist einerseits von theoretischem Interesse, da die Frage nach der Repräsentation von Subjekten und Handlungsfähigkeit in strukturell schwachen Positionen beleuchtet wird. Andererseits handelt es sich auch um ein politisch relevantes Verhältnis, da der Begriff der Sklavenarbeit selber als produktiv gesehen und auf seine Effekte hinterfragt wird. Aus diesem Grund habe ich entschieden, diese besondere Beschreibung spezifischer Arbeitssituationen in globalen Produktionsnetzwerken zu problematisieren. Es geht mir nicht darum, eigene analytische Kriterien zur Abgrenzung dieser Arbeitsverhältnisse einzuführen, viel eher nehme ich ›moderne Sklavenarbeit‹ als rechtliches und arbeitspolitisches Konzept zum Ausgangspunkt. Ich schlage vor, moderne Sklavenarbeit als Dispositiv im Sinne Foucaults zu verstehen. Ziel einer Dispositivanalyse ist es, die Zusammenhänge zwischen Diskursen, Gesagtem und Nicht-Gesagtem, Institutionen, Vergegenständlichungen von Diskursen und Subjektivationen zu rekonstruieren (Bührmann/Schneider 2008; Foucault 1978a, 2005, 2012; Jäger 2012; Ziai 2005). Ich verstehe das Dispositiv Moderne Sklavenarbeit als ein Arrangement der Mobilisierung ›billiger‹ und ›gefügiger‹ Arbeitskraft durch temporäre Arbeitsmigration und (diskursive) Abwertung menschlicher Körper. Dieses Arrangement wird im Rahmen politisch-juristischer Diskurse und Interventionen als ›moderne Sklavenarbeit‹ skandalisiert. Brasilien eignet sich für die Analyse moderner Sklavenarbeit, da vielfältige Initiativen der Regierung, der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization – ILO) sowie mehrere Multi-Stakeholder-Initiativen das Thema ins öffentliche und wissenschaftliche Bewusstsein gerückt und eine lebhafte, wenn auch kontroverse und zum Teil polemische Debatte über Mindeststandards menschenwürdiger Arbeit angestoßen haben. Diese Debatte steht vor dem Hintergrund einer veränderten Rolle Brasiliens in der Weltwirtschaft unter dem Vorzeichen aufsehenerregenden Wirtschaftswachstums ab 2004, Programmen der Armutsbekämpfung und der Ausweitung sozialer und Arbeitsrechte unter den Regierungen der Partido dos Trabalhadores (PT) 2003 bis 2016 (Balta u.a. 2016; Schmalz/ Ebenau 2014). Derzeit ist die Euphorie abgeklungen, nach unzähligen Konjunkturprogrammen kam es seit 2014 zu einer Schwächung des Wirtschaftswachstums, vermehrten Kämpfen für soziale Rechte, aber auch gegen die sozialdemokratische PT-Regierung (Balta u.a. 2016). 2016 wurde die Präsidentin Dilma Rousseff ihres Amtes enthoben und durch den rechtsliberalen Politiker Michel Temer ersetzt. Dieser stand wegen schwerer Korruptionsvorwürfe selber in der Kritik. Die 2018 erfolgte Wahl Jair Bolsonaros zum Bundespräsidenten verändert die politische Konstellation grundlegend. Hinter diesen auf Einzelpersonen und Parteien fixierten Auseinandersetzungen wird die Grundausrichtung des brasilianischen Entwicklungsmodells und die Rolle von Menschen- und Arbeitsrecht hierin verhandelt. Das Dispositiv Moderne Sklavenarbeit ist dabei ein wichtiger Gegenstand von Auseinandersetzungen. 1.2 Stand der Forschung Mit meiner Arbeit knüpfe ich an drei akademische Debatten an, welche ein jeweils spezifisches Erkenntnisinteresse informieren: An erster Stelle steht die Frage nach der Einbindung von Arbeit, und hierbei auch prekärer, informeller und unfreier Arbeit, in globale Produktionsnetzwerke. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei das Zusammenspiel von Netzwerken der Migration und solchen der Produktion. Die zweite relevante Debatte bezieht sich auf die Rolle unfreier Arbeit im globalen Kapitalismus sowie die Fallstricke analytischer Definitionen auf diesem Feld. Drittens nehme ich Bezug auf Forschungen zu Handlungsmöglichkeiten und Perspektiven von Arbeiter_innen und Arbeiter_innenbewegungen in prekären und unfreien Arbeitssituationen.

Erscheinungsdatum
Reihe/Serie Labour Studies ; 23
Zusatzinfo ~5
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 140 x 213 mm
Gewicht 662 g
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte
Sozialwissenschaften Soziologie Mikrosoziologie
Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Brasilien • Dispositivanalyse • globale Produktionsnetzwerke • Moderne Sklavenarbeit • unfreie Arbeit
ISBN-10 3-593-51048-0 / 3593510480
ISBN-13 978-3-593-51048-4 / 9783593510484
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