Praxisbuch Psychotraumatologie (eBook)
Thieme (Verlag)
978-3-13-241260-6 (ISBN)
1 Definition psychisches Trauma
Julia Schellong
1.1 Einleitung und Begriffsdefinition
Unter einem „psychischen Trauma“ wird eine schwelende seelische Wunde verstanden, konkreter eine Verarbeitungsstörung einer psychischen Verletzung mit Nachwirkungen auf die Lebensführung sowie auf die körperliche und die psychische Stabilität. Verursacher dieser Verletzung ist ein kurz oder lang anhaltendes Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ▶ [3] ▶ [4] ▶ [9].
Oft wird bei nachwirkenden seelischen Erschütterungen nicht zwischen dem Ereignis selbst und dessen Folgeerscheinung differenziert. Traumatisch im Sinne eines seelischen Schocks oder psychischen Nachhalls wird das Erlebnis durch die individuelle Reaktion darauf. So ist das Beschwerdebild der PTBS (der Posttraumatischen Belastungsstörung) definiert durch die Kombination des stattgehabten Ereignisses mit dem nachfolgenden spezifischen Beschwerdesyndrom, das manchmal auch erst verzögert nach dem Erlebnis eintreten kann.
Merke
Nicht das Ereignis bestimmt das Krankheitsbild der Traumafolgestörungen, sondern erst das Zusammentreffen von erlebtem Ereignis und spezifischem Beschwerdesyndrom.
1.2 Traumatische Erlebnisse
In der Alltagssprache werden die Begriffe „traumatisiert“ und „Trauma“ sehr weitgreifend genutzt, um eine persönliche Erschütterung durch ein aversives Erlebnis zu verdeutlichen. Potenziell traumatisch im medizinischen Sinne sind jedoch extreme Ereignisse wie folgende ▶ [3]:
-
Angriffe auf die Integrität des Selbst
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Bedrohung von Leib und Leben wie schwere körperliche Verletzungen oder sexuelle Gewalt
-
mit ansehen zu müssen, wie jemand anderer in seinem Leben akut bedroht ist oder bedroht wird
Der weiter gefasste umgangssprachliche Gebrauch des Begriffs „Trauma“ unterschlägt zudem, dass selbst nach einem potenziell traumatischen Erlebnis nur ein kleinerer Teil der Betroffenen ein solches Erlebnis traumatisch verarbeitet und an einer PTBS erkrankt. Dies ist abhängig von Vorbelastung, Art und Anzahl der erlebten Ereignisse ▶ [6] ▶ [8] ▶ [11]. Über alle Traumaarten und Regionen der Welt hinweg beträgt die Häufigkeit, eine PTBS zu entwickeln, nach der jüngsten Studie der WHO (der World Health Organisation) lediglich 4%, wobei 70% eine oder mehrere potenziell traumatische Erfahrungen gemacht haben ▶ [8].
Merke
Nicht jeder entwickelt im Anschluss an ein potenziell traumatisierendes Erlebnis eine Traumafolgestörung. Art und Ausmaß der Traumatisierung sowie individuelle Reaktion und Vorerfahrungen beeinflussen die Entwicklung des Krankheitsbilds.
Fallbeispiel
Fallbeispiel 1.1
Albert A., 36-jähriger Sachbearbeiter, fährt morgens wie immer mit seinem Auto zur Arbeit. In einer unübersichtlichen Kurve kommt ihm ein weißer Lieferwagen frontal entgegen. Herr A. hat keinerlei Gelegenheit zu reagieren, er sieht sein Ende gekommen. Den Aufprall überlebt er schwer verletzt.
Fallbeispiel
Fallbeispiel 1.2
Birgit B., 45-jährige Erzieherin, geht mit einer Gruppe 10-jähriger Kinder wandern. In einem unbeobachteten Moment klettern die Kinder über die Absperrung. Ein Mädchen rutscht ab und stürzt vor den Augen von Frau B. in die Schlucht.
Fallbeispiel
Fallbeispiel 1.3
Christine C., 23-jährige Krankenschwester, wird frühmorgens auf dem Weg vom Nachtdienst nach Hause angesprochen. Völlig verschreckt meldet sie sich Stunden später bei ihrer Freundin. Diese bringt sie zur Notaufnahme. Die Rechtsmediziner finden Hinweise für eine Vergewaltigung.
Alle 3 in den Fallbeispielen geschilderten Ereignisse waren durch massives persönliches Stresserleben geprägt. Diese Stressreaktion kann sofort oder auch verzögert auftreten. Über diese traumaspezifischen Reaktionen und deren Behandlungsmöglichkeiten berichten ▶ Kapitel 5 und ▶ 6. Die 3 Fallbeispiele erzählen jeweils von einem einzelnen traumatischen Erlebnis im Erwachsenenalter. Folgendes ist jedoch für die Ausbildung einer Traumafolgestörung erheblich:
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Welches Ereignis wurde erlebt?
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Wurden die gefährdenden Situationen einmalig oder mehrfach erlitten?
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Zu welchem Zeitpunkt im Leben fand das psychisch schädigende Ereignis statt?
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Wurden zusätzlich andere potenziell traumatische Ereignisse erlebt?
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Bestand eine Vorbelastung?
All diese Bedingungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, eine psychische Folgestörung zu entwickeln.
Verschiedene Ereignisse wirken unterschiedlich pathogen: Von Menschen zugefügte Gewalt, sog. intentionale Gewalt, führt wesentlich häufiger zu psychischen Folgestörungen als eine einmalige Gefährdung durch z.B. eine Naturkatastrophe oder einen schweren Verkehrsunfall. Sexualisierte Gewalt verstärkt diese Vulnerabilität noch markanter. Vergewaltigungsopfer beispielsweise entwickeln je nach Untersuchung in 17 ▶ [8], 46 ▶ [6] und bis zu 52% der Fälle ▶ [11] eine PTBS. Nach lang anhaltenden, wiederholten sog. sequenziellen Traumatisierungen durch Kriegs- und Foltererlebnisse oder innerfamiliäre Gewalt entwickeln sich besonders häufig Traumafolgestörungen mit zusätzlicher hoher Komorbiditätsrate und Chronifizierungsneigung ▶ [5]. Ursache und Reaktion können als sog. Delayed Onset zeitlich weit auseinander liegen und dennoch aneinander gekoppelt sein ▶ [3]. Manchmal ist erst das Erleben einer erneuten Traumatisierung der Auslöser für eine Traumafolgestörung, die dann in ihrem komplexen Zusammenhang verstanden und behandelt werden muss; siehe dazu auch das Unterkapitel zur ▶ komplexen Traumafolgestörung und die anderen Unterkapitel zu den Komorbiditäten in ▶ Kapitel 9. Auch prägende Vorerfahrungen, soziale Bedingungen oder Beistand nach der potenziellen Traumatisierung haben Einfluss darauf, ob und wie jemand erkrankt ▶ [11] ▶ [14].
Fallbeispiel
Fallbeispiel 1.4
Daniela D., 21-jährige Studentin, hat viel Gewalt in der Kindheit erlebt und war zudem vom 9.–12. Lebensjahr sexuellen Übergriffen ihres Stiefvaters ausgesetzt. Zwar hat sie durchaus Freunde und Freundinnen, aber ganz vertraut sie niemandem. Manchmal fehlt ihr ein Stück Erinnerung im Laufe des Tages. Deshalb nimmt sie auch keine Drogen und trinkt nahezu nie Alkohol. Nach einer Party findet sie sich mit eindeutigen Zeichen wieder, dass jemand mit ihr sexuellen Kontakt gehabt haben muss.
Ein Versuch, die Komplexität von potenziell traumatischen Erlebnissen zu erfassen, ist der Vorschlag von Lenore Terr, eine Einteilung nach Art und Anzahl der Traumata vorzunehmen ▶ [13]. „Typ-I-Traumatisierungen“ sind dabei einem einmaligen Ereignis zuzuordnen. Als „Typ-II-Traumatisierungen“ werden mehrfache und/oder lang andauernde Gewalterlebnisse bezeichnet. Zusätzlich wird ein akzidentelles Trauma von einem interpersonellen Trauma abgegrenzt ( ▶ Tab. 1.1) ▶ [9] ▶ [13].
Tab. 1.1 Klassifikation traumatischer Erfahrungen ▶ [9] ▶ [13]. Traumatypen | Akzidentelles Trauma | Interpersonelles Trauma |
Typ-I-Trauma (Einzelereignis, lebensbedrohlich, unerwartet) |
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Erscheint lt. Verlag | 19.9.2018 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Klinische Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Akuttraumatisierung • Begutachtung • Dissoziation • Gewalt • Komplexe Traumatisierung • Posttraumatische Belastungsreaktion • Posttraumatische Belastungsstörung • Psychisches Trauma • Psychotrauma • Psychotraumatologie • PTBS • Seelische Verletzung • Trauma • Traumafolgestörung • traumainformierte Gesprächsführung |
ISBN-10 | 3-13-241260-0 / 3132412600 |
ISBN-13 | 978-3-13-241260-6 / 9783132412606 |
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