Der Krieg nach dem Krieg (eBook)
448 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-11811-9 (ISBN)
Andreas Platthaus, geboren 1966 in Aachen, hat Philosophie, Rhetorik und Geschichte studiert. Er leitet das Ressort «Literatur und literarisches Leben» der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», für die er seit 1992 schreibt, und ist Autor zahlreicher Bücher, darunter die große Darstellung der Völkerschlacht bei Leipzig, «1813», die lange auf der «Spiegel»-Bestsellerliste stand, und «Lyonel Feininger. Porträt eines Lebens». Seit 2022 hat er die Künstlerische Leitung des Rheingau-Literatur-Festivals inne. Andreas Platthaus lebt in Leipzig und Frankfurt am Main.
Andreas Platthaus, geboren 1966 in Aachen, hat Philosophie, Rhetorik und Geschichte studiert. Er leitet das Ressort «Literatur und literarisches Leben» der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», für die er seit 1992 schreibt, und ist Autor zahlreicher Bücher, darunter die große Darstellung der Völkerschlacht bei Leipzig, «1813», die lange auf der «Spiegel»-Bestsellerliste stand, und «Lyonel Feininger. Porträt eines Lebens». Seit 2022 hat er die Künstlerische Leitung des Rheingau-Literatur-Festivals inne. Andreas Platthaus lebt in Leipzig und Frankfurt am Main.
Erster Teil Die deutsche Verzweiflung
1. Vorgeschmack auf Versailles:
Der Weg zum Waffenstillstand
Kein Frieden ohne Waffenstillstand. Aber an den dachten im Sommer 1918 im Deutschen Reich nur wenige. Der Frieden schien wieder erkämpfbar: Seit man im Osten den Krieg siegreich beendet hatte, war ein Kollaps im Westen anscheinend nicht mehr zu befürchten, denn nun konnte man doch alle Kraft hier konzentrieren; man richtete sich also auf eine lange Fortdauer der Kämpfe ein. In den besetzten Gebieten hinter der Westfront wurden sogar Katheder an den Universitäten provisorisch mit treudeutschen Wissenschaftlern besetzt, so im belgischen Gent der romanistische Lehrstuhl mit Victor Klemperer; es war der erste Ruf für den späteren Star seiner Zunft, wenn man von einer kurzfristigen Lektorenstelle in Neapel absieht, die Klemperer aber 1915 durch den italienischen Kriegseintritt auf Seiten der Alliierten wieder eingebüßt hatte. Den Genter Posten sollte er allerdings gar nicht erst antreten können.
Klemperer, sechsunddreißig Jahre alt, war Unteroffizier, wenn auch nur im Einsatz beim Buchprüfungsamt Ober-Ost, also als Zensor in der Etappe, und das noch nicht einmal an der seit dem russischen Ersuchen um Waffenstillstand friedlichen Ostfront, sondern in der Deutschen Bücherei in Leipzig. Trotzdem wollte er weg und endlich akademische Karriere machen. Die ausgeschriebene Position in Gent war «auf Kriegsdauer» befristet. Doch das reichte Klemperer im Frühjahr 1918, zumal er von einem Kollegen gehört hatte, «diese flämische Universität sei ein Lieblingskind der deutschen Regierung, ich dürfte mich dort als Ordinarius betrachten, ich würde, falls ich nach Friedensschluss nicht dableiben könnte, fraglos durch ein deutsches Katheder entschädigt». So rasch aber, da war sich Klemperer damals ebenso sicher wie die Mehrzahl seiner Landsleute, würde der Krieg nicht enden, die Aufnahme der Vorlesungen wurde ihm für Mitte November 1918 in Aussicht gestellt. Als ein Freund ihm vorhielt, er werde sich damit zum Werkzeug der deutschen Unterdrückung Belgiens machen, hielt Klemperer dem entgegen: «Ich werde in französischer Sprache über französische Literatur lesen, nennst du das Unterdrückung? Glaubst du, die Franzosen, wenn sie heute die Hand auf Heidelberg legten, würden dort mitten im Kriege deutsche Vorträge über deutsche Literatur halten lassen?»
Dennoch sah Klemperer seine Felle davonschwimmen, als er am 29. September in München, wohin er nach Genehmigung eines Sonderurlaubs aus Leipzig gereist war, um sich die Berufung bestätigen zu lassen – Klemperer war Angehöriger der bayerischen Armee, und die akademische Germanisierung der Genter Universität galt als Lieblingsprojekt des bayerischen Kronprinzen –, einen Leitartikel der «Münchner Neuesten Nachrichten» las. Darin wurde nicht nur erwähnt, dass Bulgarien um Waffenstillstand gebeten hatte und bereits aus dem Krieg ausgeschieden war, sondern auch, dass die angeblich unerschütterliche deutsche «Siegfriedstellung», auf die man sich an der Westfront erst kürzlich zurückgezogen hatte, von den Alliierten durchbrochen worden war. Wenn solche Fakten die deutsche Zensur passieren konnten, das wusste der deutsche Zensor Klemperer besser als jeder andere, war das gewollt: Die Reichsbevölkerung sollte offenbar auf eine Niederlage vorbereitet werden.
Anfang November wurde Klemperer dann ins ehemals russische Wilna abgeordnet, wo die deutsche Besatzungsmacht sich in der prekären Lage befand, zwischen gleich zwei Unabhängigkeitsbewegungen agieren zu müssen, der litauischen und der polnischen. Am 16. November, sechs Tage nachdem die Nachricht von den Waffenstillstandsverhandlungen in Compiègne dort eingetroffen war, bekam Klemperer einen Bescheid des königlich-bayerischen Kriegsministeriums, dass er aus kriegswichtigem Grunde nicht für Gent freigegeben werde. Das war im doppelten Sinne ein Schildbürgerstreich der militärischen Bürokratie, denn zum einen war der Krieg mittlerweile faktisch verloren und Klemperer also durchaus abkömmlich, zum anderen suggerierte die Mitteilung, dass man über Gent noch verfügen könnte, obwohl die deutsche Armee bereits dabei war, Belgien zu räumen. Bayern war zudem schon Freistaat, das königliche Kriegsministerium bestand also überhaupt nicht mehr. Klemperer begab sich zurück nach München, um dort trotz nicht erfolgter Berufung auf die erhoffte «Entschädigung durch ein deutsches Katheder» hinzuarbeiten. In der bayerischen Hauptstadt wurde er dann im Winter 1918/19 zum Beobachter der revolutionären Nachwehen bis zur Ausrufung der Räterepublik. Aber das ist eine andere Geschichte, die erst später erzählt werden soll.
Typisch an Klemperers Einzelschicksal ist die Fassungslosigkeit angesichts des Umschlags von Siegesgewissheit in Fatalismus binnen jener gerade einmal sechs Wochen von Ende September bis Anfang November. Und sie herrschte eben nicht nur in der durch die zensierte Presseberichterstattung auf Siegeszuversicht eingestimmten deutschen Zivilbevölkerung, sondern auch auf den höchsten Ebenen des Militärs. Eine Ausnahme bildete nur die Oberste Heeresleitung (OHL) selbst, die am 29. September die Reichsregierung aufgefordert hatte, unverzüglich Friedensverhandlungen mit den alliierten Gegnern aufzunehmen, weil der Zusammenbruch der Westfront drohe: Binnen vierundzwanzig Stunden müssten die Waffen schweigen, um das Schlimmste zu verhüten. Das widersprach allen bis dahin verkündeten Durchhalte-, ja Siegesparolen, mit denen man seit dem Friedensschluss von Brest-Litowsk auch die vordem Skeptischen im Reich wieder zuversichtlich gestimmt hatte. Arg verspätet schien der Schlieffen-Plan ja doch noch aufzugehen, wenn auch seitenverkehrt: Sieg im Osten, um nun alle Kräfte an die Front im Westen werfen zu können. Aber «alle Kräfte» bedeutete 1918 nicht mehr viel, denn nach vier Jahren Kriegsführung waren die deutschen Ressourcen erschöpft – industriell, finanziell und vor allem personell. Die Gegenseite hatte sich dagegen seit dem amerikanischen Kriegseintritt im Vorjahr in allen diesen Bereichen erholt. Dadurch war das Ausscheiden des noch stärker als Deutschland ausgelaugten Russland aus dem feindlichen Entente-Bündnis mehr als überkompensiert worden. Wenn überhaupt deutsche Soldaten im Osten – wo es jetzt ein riesiges besetztes Gebiet zu kontrollieren galt – frei geworden waren, dann trafen sie im Westen auf einen frisch verstärkten, neu motivierten und vor allem neu munitionierten Gegner.
Die letzte große deutsche Offensive scheiterte im Spätsommer 1918, das nicht mit Berlin abgestimmte österreichische Friedensersuchen vom 13. September signalisierte den baldigen Ausfall des wichtigsten Verbündeten. Zwei Tage später brach die von Bulgarien gehaltene Balkanfront unter dem Ansturm alliierter Soldaten zusammen, und angesichts des militärischen Fiaskos bat auch dieser Verbündete am 27. September die Entente um Frieden. Im Westen verteidigten sich die Deutschen zu Tode, während im Süden und Südosten neue Fronten zu entstehen drohten – der freie Durchmarsch alliierter Truppen nach Deutschland war eine der Friedensbedingungen an Österreich –, wenn man die Kriegsführung alleine weiter aufrechterhalten wollte. Die Oberste Heeresleitung wusste, dass das nunmehr unmöglich sein würde.
Zwei Jahre zuvor, im August 1916, als sich das Konzept des vom bisherigen deutschen Generalstabschef Erich von Falkenhayn entwickelten Abnutzungskriegs mit der bereits monatelang erfolglos geführten Schlacht um Verdun als gescheitert erwiesen hatte, war mit Paul von Hindenburg ein Veteran an die Spitze der deutschen Truppen gestellt worden. Der 1847 geborene Offizier hatte als Kommandierender der 8. Armee im Spätsommer 1914 den russischen Vormarsch nach Ostpreußen stoppen können und war deshalb nicht nur zum Generalfeldmarschall ernannt, sondern in der Bevölkerung zum Mythos erhoben worden: als einziger eindeutiger deutscher Sieger im Weltkrieg. Bereits damals hatte ihm als Generalmajor der fast zwanzig Jahre jüngere bürgerliche Offizier Erich Ludendorff zur Seite gestanden, der für die strategischen Entscheidungen verantwortlich war. Als Hindenburg 1916 den Posten des Generalstabschefs von Falkenhayn übernehmen sollte, machte er zur Bedingung, dass Ludendorff zu seinem Stellvertreter und zum «Ersten Generalquartiermeister» ernannt würde. Diese Position war neu und deshalb unbestimmt; faktisch machte sie Ludendorff zum Oberkommandierenden. De jure kam diese Aufgabe im Deutschen Reich zwar dem Kaiser zu, aber weder traute die Heeresspitze Wilhelm II. ihre Erfüllung zu, noch hatte der Monarch selbst in den ersten beiden Kriegsjahren Willen zur ernsthaften Einflussnahme bewiesen, trotz markiger Randbemerkungen in den ihm vorgelegten Akten. Da auch Hindenburg mehr symbolischer als praktischer Generalstabschef war, lagen Planung und Führung des Kriegs auf deutscher Seite nun in den Händen von Erich Ludendorff. Der Kaiser pochte zwar in Privatgesprächen auf seine verfassungsmäßige Rolle als Oberbefehlshaber – so etwa am 8. Januar 1918 gegenüber dem Chef des Marinekabinetts, Georg Alexander von Müller: «Als ob ich nicht die Oberste Heeresleitung wäre! Ich werde aber versuchen, diesen unglücklichen Begriff ‹Oberste Heeresleitung› wieder zu beseitigen!» –, angesichts der beiden auch ihm gegenüber dreist auftretenden Offiziere hatte er jedoch nichts zu bestellen.
Die erhofften Architekten des...
Erscheint lt. Verlag | 20.2.2018 |
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Zusatzinfo | Zahlr. s/w Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Schlagworte | Bürgerkrieg • Erster Weltkrieg • Freikorps • Friedrich Ebert • Inflation • Kapitulation • Krieg dem Kriege • Kriegsheimkehrer • Kriegsschuld • Münchner Räterepublik • Novemberrevolution • Spartakusbund • Versailles • Weimarer Republik • Wilhelm II. |
ISBN-10 | 3-644-11811-6 / 3644118116 |
ISBN-13 | 978-3-644-11811-9 / 9783644118119 |
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