Die vergessenen Inseln (eBook)
512 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-21820-1 (ISBN)
Thomas Käsbohrer fühlt sich dort am wohlsten, wo nur noch Himmel, Wind und Wasser sind. Neun Monate im Jahr verbringt er auf dem Segelschiff und trotzt der Unwirtlichkeit des Meeres. Für »Die vergessenen Inseln« reist er durch das Mittelmeer, steuert große Eilande wie Sizilien an, aber auch fast vergessene wie Palagru?a. Auf jeder Insel entdeckt er eine Geschichte, die über den Ort hinausweist und zeigt, warum unsere Welt so wurde, wie sie ist. Käsbohrer erzählt von dem Abenteuer, allein auf offener See zu sein, er bringt uns die Sehnsucht nach Weite nahe, die wir alle in uns tragen, und verdichtet seine Reise zu einer Geschichte der Welt, die so noch nicht erzählt wurde.
Thomas Käsbohrer war viele Jahre als Verleger tätig, ehe er nach dem Ende seiner beruflichen Karriere beschloss, auszusteigen und seinen Traum zu verwirklichen. Seither segelt er auf seinem Schiff »Levje« kreuz und quer über die Meere. Er schreibt für verschiedene Zeitschriften, unter anderem für die »YACHT«, und sein Blog »Mare Piu« gehört zu den meistgelesenen in der Segelszene. Wenn er nicht auf seinem Boot unterwegs ist, lebt er mit seiner Frau in Iffeldorf südlich des Starnberger Sees.
Milos.
Die Suche nach dem Obsidian.
Fünf dunkelhäutige Männer. Es war ein einfaches Gefährt, in dem die Männer saßen und ihre schweren Holzpaddel bewegten. Ein Boot, gebaut aus Schilfrohr, das sie Woche um Woche im Sumpf der Flussmündung schnitten. Sie hatten zuerst eine Sichel gefertigt. Die kleinen, scharfkantigen schwarzen Steine, die ihnen der wirre Alte geschenkt hatte, mit Baumharz in gekrümmte Äste eingeklebt. Die Sichel sah aus wie der Kiefer eines urtümlichen Fossils. Mit dieser Sichel hatten sie die langen Halme in der Flussmündung geschnitten, sie nebeneinandergelegt und zu baumstarken, bootslangen Bündeln verschnürt. Dann die Bündel miteinander fest zu einem breiten Floß verbunden, verknotet mit Riemen aus Bast und Astrinde. Und zuletzt hatten sie die dünneren Enden der Schilfbündel ineinandergefügt und so kunstvoll verknüpft, bis die zahllosen Schilfbündel die Form eines Bootskörpers angenommen hatten. Bug und Heck waren wie bei einem Kanu nach oben verjüngt und nach innen geschnürt. Das gab Schutz vor den Wellen, wenn sie steil von vorn kamen oder von hinten. Zweieinhalb Männer lang war das Boot und einen halben Mann breit. Jedes der fünf Paddel war aus hartem Holz herausgekerbt und mit Lumpen und Fellresten voll groben Sands glatter und glatter poliert.
Sie hatten abgelegt, als die Sonne fast am höchsten stand. Zwei Mann vorne, zwei Mann in der Mitte, einer hinten zum Steuern. Der ganze Stamm hatte sich am Lagerplatz versammelt, alle waren auf den Beinen gewesen, um den Männern etwas mit auf den Weg zu geben. Kürbisflaschen mit Wasser. Striemen getrockneten Ziegenfleischs. Gesalzenen Fisch. Ein Amulett aus Muscheln. Eine Figur, aus Knochen geschnitzt, das Abbild der großen Gebärerin. Umarmungen, Stirn an Stirn gepresst Mutter und Sohn, Mann und Frau. Keiner vom Stamm war länger als einen Tag auf dem Meer gewesen. Solange sie denken konnten, waren sie an der Küste entlanggezogen. An dem einen oder anderen Ort waren sie eine Weile geblieben, wo sie Wild nachstellten und Beeren und Gräser sammelten. Sobald sie zu weite Strecken zum Lager zurücklegen mussten, zogen sie weiter.
Stets hatten sie am Meer gelebt, doch merkwürdig von ihm abgewandt. Waren Sammler, Jäger. Fingen wilde Ziegen, die sie hielten. Noch keiner im Dorf war dort gewesen, wo die fünf Männer hinwollten, bis auf den blinden Alten. Wer wusste schon, ob sie es schaffen würden, ob sie sie überhaupt erreichen würden, die Insel mit den schwarzen Steinen, die der Alte aus zahnlosem Mund beschrieben hatte. Und wenn es ihnen gelang? Wenn sie tatsächlich die scharfkantigen schwarzen Steine fanden, die so begehrt waren: Würden sie den Stamm jemals wiedersehen? Würden sie jemals zurückkehren?
Dann waren sie losgefahren, hatten zurückgeblickt zum Lager, bis das Festland hinter ihnen verschwunden war. Am Nachmittag kam der Wind. Die Männer kannten ihn, er wehte den Sommer über und wehte aus der Richtung, in der die Sonne unterging, fast von dort, wo sie niemals schien und wo nachts der eine Stern leuchtete, der sich nie bewegte und um den sich alles andere drehte. Der Wind kam jeden Tag, wenn die Sonne ihren höchsten Punkt überschritten hatte. Er begann zu wehen, wenn im Jahr das Licht härter und härter wurde. Und er verlor seine Kraft, wenn die Hitze des Tages vorüber war, das Licht weicher wurde und milder. Er kam, bevor die Winde in der kalten Zeit von dorther wehten, wo mittags die Sonne stand, und von wo sie Regen, viel Regen mitbrachten. Die Männer hatten auf ihn gewartet, der Wind war der Grund, warum sie erst am Mittag losgerudert waren, denn der Wind blies ihr Schilfgefährt von hinten auf ihr Ziel zu.
Als der Wind zunahm, wurden auch die Wellen höher, die von hinten heranrollten, kurz nacheinander. Das Boot passte sich der Bewegung des Meeres an. Die Männer waren zufrieden, als sie am Abend die Bucht einer Insel erreichten.
Voll Stolz nannten sie das Boot »Die große Schlange«. Sie liebten es. In der Bucht krochen sie über Felsen an Land und schliefen am Strand, das Rauschen der Wellen im Ohr.
Am nächsten Tage brachen sie im Morgenlicht auf. Der Weg zur nächsten Insel war lang, sie wollten den einen Moment nicht verpassen, wenn die Sonne aufging und kurz die nächste, weit entfernte Insel vor ihnen im Dunst als Schemen erleuchtete. Sie wussten nun, in welche Richtung sie ihr Boot rudern mussten, um möglichst auf diese Insel zuzuhalten, damit sie, wenn der vertraute Wind am Nachmittag wiederkehrte, sie am Horizont erkennen und sich vom Wind dorthin wehen lassen konnten.
Aber an diesem Tag wehte der Wind nur schwach. Kaum, dass er die Wellen kräuselte. Er zwang die Männer, die ganze Strecke die Paddel zu bewegen. Die Nacht war längst da, als sie sich am Ufer zum Schlafen niederlegten.
Am kommenden Morgen legten sie sich wieder in die Riemen, bis sie gegen Mittag jede Faser ihrer Rückenmuskeln spürten. Die Sonne peinigte an diesem Tag ihre nackten Oberkörper, das Wasser reflektierte die Sonnenstrahlen rundherum. Gerötete Schultern, Schwielen, offene Stellen an der Hand vom knotigen Holz des Paddels, in denen Salzwasser brannte. Meerwasser, das schmutzig ins Boot leckte und jede Bewegung noch anstrengender machte. Vorwärts, nur vorwärts, immer auf die nächste Insel zu, deren Umriss sie erblickten und der nicht näherkommen wollte.
Als es Abend wurde, sahen sie die große Bucht vor sich. Und Rauch, der sich in der Windstille kräuselte und schließlich wie gemeißelt über der Bucht stand. Rauch von Kochfeuern. Die Kraft kehrte in sie zurück, sosehr die Schultern auch schmerzten. Sie steigerten ihre Anstrengung, obwohl keiner von ihnen das Lager kannte und keiner wusste, wie die Leute dort gesonnen waren. Sie legten ihr Leben in die Hand der großen Gebärerin, die einer von ihnen zusammen mit dem Feuerstein und zwei Steinklingen aufbewahrte.
Als sie näher ans Ufer gelangten, starrten Gruppen von Menschen sie schweigend an. Ein Mann betrachtete reglos die fremden Ankömmlinge und wog dabei seinen Speer. Langsam glitt das Schilfboot auf den Strand zu, knirschend schob sich der Bug auf den Kies. Der Mann mit dem Speer drehte den Kopf nach hinten, sprach drei Worte in eine unbestimmte Richtung. Eine Frau brachte Wasser in einem Holznapf, den sie dem Anführer der Ruderer hinhielt. Er trank gierig. Drei andere Frauen tauchten Holzkellen in einen Bottich, gingen vorsichtig auf die Neuankömmlinge zu. Worte fielen. Anspannung wich. Der Anführer der Ruderer bat um Essen. Die Leute am Ufer brachten das, was sie hatten.
Am nächsten Tag ruderten die fünf Männer weiter. Abschied im Morgenlicht, der Mann mit dem Speer begleitete sie zum Ufer. Großzügig hatte er Wasserflaschen füllen lassen und in Körben aus Weidenrinde getrocknetes Ziegenfleisch, etwas Käse mitgegeben. Und Brotfladen aus grob gemahlenen Körnern, auf heißen Steinen am Feuer gebacken. Dankbar hatten die Ruderer alles angenommen und versprochen wiederzukommen, aber nicht mit leeren Händen, sondern als solche, die zu geben hatten.
Als ob der weite Himmel sie belohnen wollte für ihre Gedanken: Kaum war die Sonne über den höchsten Stand hinaus, kam der Wind und blies das Binsenschiff übers Meer. Die Männer mussten nur noch die Paddel benutzen, um sie in die richtige Richtung zu lenken, den Rest erledigte für sie der Wind. Er brachte sie zur nächsten Insel, gerade als die Dämmerung der Nacht wich und sie die Insel voraus nur noch im allerletzten Schein der Abendröte erkennen konnten. Wieder krochen sie an Land, leise. Sie waren ja Fremde.
Die Nacht über hatte es unvermindert weitergeweht. Das war ungewöhnlich für den Wind, den sie kannten. Sie beratschlagten kurz und beschlossen dann, in der Bucht zu bleiben. Einer von ihnen zog los, um Nahrung zu suchen. Am Nachmittag kehrte er zurück und brachte Wasser mit und gesalzenes Ziegenfleisch von Hirten und Sammlern.
Der Wind wehte unvermindert weiter, die zweite, dritte, vierte und fünfte Nacht ebenso, und steigerte sich am sechsten Tag, um mit voller Stärke zu wehen. Gischtfetzen flogen über den Strand, die Wellen überschlugen sich schon weit vor der Küste.
Dann, noch in der Dunkelheit des folgenden Tags, wachten sie auf. Der Wind hatte sich gelegt. Stille am Strand. Nur das Geräusch sanfter Wellen, die ans Ufer plätscherten. Als wäre es nie anders gewesen. Sie schoben ihr Binsenschiff ins Wasser und ruderten aus der Bucht. In der aufgehenden Sonne sahen sie die nächste Insel am Horizont. Sie waren frisch und ausgeruht und ruderten mit Kraft. Noch im Hellen erreichten sie eine Bucht im Norden der nächsten Insel. Sie war menschenleer, doch voller Seevögel, deren Gelege sie absuchten. Mit einem Feuerstein schlugen sie Feuer und brieten ein Kaninchen, das sie am Vortag gefangen hatten. Es gab reichlich zu essen.
Am nächsten Morgen ruderten sie früh weiter. Wenn es stimmte, was ihnen der blinde Alte erzählt hatte – fünf Inseln hatten sie zu passieren –, dann waren sie jetzt nicht mehr weit entfernt von dem Eiland mit den schwarzen Steinen. Sie ruderten weiter. Schon von der letzten Insel aus hatten sie die nächste am Horizont gesehen.
Die Insel entpuppte sich beim Näherkommen nicht als eine einzige, sondern als ein Paradies voller kleiner Eilande, baumbewachsen, über die zwar der Wind hinwegstrich, wo aber keine Welle mehr aufbrandete. Der Wind wehte jetzt die spärlich bewaldeten Hänge herunter, ihr Binsenschiff glitt durch stilles Wasser – ganz so, wie es der wirre Alte erzählt hatte. Die nächste Insel dort vorne voraus, das musste die Insel der schwarzen Steine sein.
Die Männer legten sich ins Zeug. Sie ruderten um einen riesigen roten Felsen, den eine gewaltige Kraft senkrecht nach oben getrieben...
Erscheint lt. Verlag | 10.4.2018 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Abenteuer • Aussteiger • Buchempfehlung Männer • Bücher für den Sommer • Bücher für den Strand • Bücher unbedingt lesen • eBooks • Geschichte • Griechenland • Malta • Mittelmeer • Ratgeber • Reise • Reisen • Römer • Segeln • Segelschiff • Sizilien • Sommer Buch • Sport • Yacht • Yuval Noah Harari |
ISBN-10 | 3-641-21820-9 / 3641218209 |
ISBN-13 | 978-3-641-21820-1 / 9783641218201 |
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