Philosophie der Revolution (eBook)

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2017 | 1. Auflage
396 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75416-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Philosophie der Revolution - Gunnar Hindrichs
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Die Oktoberrevolution war nicht irgendein Ereignis. Sie hat das 20. Jahrhundert tiefgreifend geprägt. Und auch unsere eigene Zeit, die mit dem Ende des Ost-West-Konflikts aus dem Schatten des Roten Oktobers herausgetreten ist, bleibt unterschwellig auf sie bezogen. Die Alternativlosigkeit der Gegenwart wirkt wie der Nachhall der untergegangenen Alternative - und verweist damit auf 1917. In seinem luziden Buch widmet sich Gunnar Hindrichs der philosophischen Deutung der Revolution im Gesamthorizont europäischer Revolutionen.

Er vertritt die These, dass die Revolution die Regeln unseres Handelns neu setzt und dadurch den Unterschied zwischen Natur und Handeln markiert. Um diese These zu begründen, werden rechtsphilosophische, handlungstheoretische, ästhetische und theologische Konzeptionen des revolutionären Denkens untersucht, von den Schriften Sorels, Lenins und Trotzkis, dem Futurismus Chlebnikovs und Tretjakows bis zu Prophetentum und Apokalyptik. Auf diesem Weg gewinnt Hindrichs vier Explikate, die die Revolution verständlich werden lassen: ihr Recht, ihre Macht, ihre Schönheit und ihr Gott.



<p>Gunnar Hindrichs ist Professor f&uuml;r Philosophie an der Universit&auml;t Basel. Gastprofessuren f&uuml;hrten ihn nach Italien, Finnland und in die USA. 2007 erhielt er den Akademiepreis der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.</p>

Gunnar Hindrichs ist Professor für Philosophie an der Universität Basel. Gastprofessuren führten ihn nach Italien, Finnland und in die USA. 2007 erhielt er den Akademiepreis der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

Vorwort


Die Revolution markiert den Unterschied zwischen Natur und Handeln. Einem alten Gedanken zufolge sind die Bedingungen, unter denen wir handeln, von Menschen gesetzt (θέσει) statt von Natur aus gegeben (φύσει). Hiernach bestimmt sich Handeln im Abstand zum Natürlichen. Das vorliegende Buch führt diesen Gedanken weiter und gibt das Kennzeichen des Abstandes an: die Revolution.

Ihm liegt die folgende Erwägung zugrunde. Eine Minimalbestimmung des Handelns lautet, Handeln sei Regelfolgen. Von ihr geht das Buch aus. Regelfolgen darf nicht mit Regelmäßigkeit verwechselt werden. Das läßt sich an dem jeweiligen Gegenbegriff einsehen. Der Gegenbegriff zur Regelmäßigkeit ist der Begriff der Regelabweichung, der Gegenbegriff zum Regelfolgen ist der Begriff des Regelbruchs. Eine Regel brechen bedeutet etwas anderes als von einer Regel abweichen, weil mit jenem die Beziehung auf einen Anspruch verbunden ist, während dieses sich auf einen Vergleichswert bezieht. Regelfolgen und Regelmäßigkeit sind daher zweierlei. Entsprechend ist ein Grund anzugeben, durch den das Handeln, dessen Minimalbestimmung das Regelfolgen darstellt, sich von der bloßen Regelmäßigkeit unterscheidet. Dieser Grund besteht darin, daß Regeln keine Gegebenheiten darstellen, sondern Einrichtungen. Als Gegebenheiten wären sie Vergleichswerte, von denen man abweichen kann; als Einrichtungen erheben sie Ansprüche, die man brechen kann. Für die Minimalbestimmung des Handelns bedeutet das: es ist im Rahmen von Einrichtungen und nicht von Gegebenheiten zu verstehen.

Man bedarf deshalb eines Begriffes, der den Einrichtungscharakter der Regeln markiert und sie vom Gegebenen abgrenzt. Hierfür ist eine Diskontinuität von Regeln anzusetzen. Erfolgte die Einrichtung der Handlungsregeln kontinuierlich, so ließen sich diese Regeln auf Funktionen von Stetigkeit bringen. Als solche Funktionen von Stetigkeit hätte man sie als Regelmäßigkeiten zu verstehen, die man nicht brechen könnte, sondern von denen man abwiche. Entsprechend wäre der Unterschied zwischen Regelmäßigkeit und Regelfolgen nicht artikulierbar, und die Einrichtung von Regeln wäre auf die Gegebenheit von Vergleichswerten reduzierbar. Um der Artikulation dieses Unterschiedes willen hat daher an die Stelle einer stetigen Evolution von Regeln deren Revolution zu treten. Sie bezeichnet das Diskontinuum der Regeln und markiert deren Einrichtungscharakter. Auf das Handeln bezogen bedeutet das: da Handeln ein Regelfolgen und keine Regelmäßigkeit darstellt, läßt es sich nur dann begreifen, wenn der Unterschied zwischen dem Einrichtungscharakter von Regeln und ihrem Gegebenheitscharakter markiert werden kann, was in der Revolution erfolgt, die die stetige Evolution von Regeln unterbricht. Anders gesagt: handeln selber findet sein Kennzeichen in der Revolution.

Auf der Grundlage dieser Erwägung läßt sich der alte Gedanke, die Bedingungen des Handelns seien von Menschen gesetzt statt von Natur aus gegeben, regeltheoretisch umformulieren. Wären die Bedingungen des Handelns von Natur gegeben, so müßte die Revolution der Handlungsregeln ein natürlicher Vorgang sein. Wäre wiederum die Revolution der Handlungsregeln ein natürlicher Vorgang, so stünde sie unter den übergreifenden Gesetzen der Natur. Aber das Diskontinuum der Regeln erfordert die Selbstgesetzlichkeit des Handelns. Es beinhaltet die Möglichkeit, Regeln von selbst neu zu setzen, und etwas von selbst setzen können erfordert die Autonomie der Setzung. Diese Autonomie kann von Naturgesetzen nicht erklärt werden. Denn ein jedes Naturgesetz würde die autonome Regelsetzung zum Fall eines übergreifenden Gesetzes machen. Sie wäre innerhalb natürlicher Zusammenhänge als eine Unstetigkeitsstelle bestimmt, die einen Vergleichswert umfassender Strukturen darstellt. Als solch ein Vergleichswert unterläge sie dem übergreifenden Gesetz. Sie wäre heteronom. Das bedeutet: die Autonomie der Setzung gelangt in natürlichen Erklärungen nicht in den Blick. Sosehr das Diskontinuum des Handelns unter dem Gesichtspunkt von Naturgesetzen als Unstetigkeitsstelle bestimmt werden kann, so wenig kann es auf diese Weise als die Möglichkeit bestimmt werden, Regeln von selbst neu zu setzen. An die Stelle seiner naturgesetzlichen Erklärung hat daher seine Erklärung aus der Selbstgesetzlichkeit des Handelns zu treten. Mit ihr grenzt sich das Diskontinuum des Handelns gegen die Gesetze der Natur ab.

Somit lautet die Begründungsreihe wie folgt: die Diskontinuität der Handlungsregeln erfordert die Autonomie des Handelns; die Autonomie des Handelns beinhaltet die Unzulänglichkeit ihrer natürlichen Erklärung; also weist die Diskontinuität der Handlungsregeln ihre Erklärung durch Naturgegebenheiten zurück. Auf diese Weise markiert das Diskontinuum der Revolution den Abstand zum Natürlichen. Hierin besteht der sachliche Grund dafür, daß das revolutionäre Denken immer wieder gegen die Naturalisierung der Gesellschaft kämpfte. Im Vorspruch zu Brechts Die Ausnahme und die Regel heißt es:

Wir bitten euch ausdrücklich, findet

Das immerfort Vorkommende nicht natürlich!

Denn nichts werde natürlich genannt

In solchen Zeiten blutiger Verwirrung

Verordneter Unordnung, planmäßiger Willkür

Entmenschter Menschheit, damit nichts

Unveränderlich gelte.

Vor dem oben Dargelegten läßt sich der Skopus dieser Verse so verstehen: die Naturalisierung der Gesellschaft macht diese stetig. Sofern Gesellschaft als Natur begriffen wird, und zwar ganz gleich, ob als erste oder als zweite Natur, schließt sich das Diskontinuum, das der revolutionäre Sprung erfordert, zum Kontinuum zusammen. Mit der Revolution hingegen bricht es auf, und der autonome Einrichtungscharakter von Handlungsregeln wird gegen die natürliche Heteronomie begründet. In dieser Überlegung liegt der Gedanke beschlossen, daß in der Revolution die Gesellschaft sich als Gesellschaft und nicht als Natur zeigt. Die Revolution ist etwas Unnatürliches. Allerdings ist sie es nur insoweit, als auch das Handeln etwas Unnatürliches ist: nicht etwas, das der Natur zuwiderläuft, sondern etwas, das sich mit den Gesetzen der Natur nicht erfassen läßt. Man muß daher besser sagen, die Revolution mache den Eigensinn des Handelns geltend. Sie stellt das dar, was unsere Praxis den natürlichen Erklärungen entzieht. Dadurch tritt die Gesellschaft als Gesellschaft ins Licht. Sie kommt zu sich selber.

Hier wird allerdings ein Problem sichtbar. Wenn die Revolution das Diskontinuum des Handelns darstellt, dann kann ihr Regelsetzen nicht als Regelfolgen verstanden werden. Vielmehr unterbricht sie das Weiterhandeln unter gegebenen Regeln. Das Regelfolgen aber war als eine Minimalbestimmung des Handelns eingeführt worden. Entsprechend wäre die Revolution in Wahrheit kein Handeln. Aber die Revolution stellt den Vollzug eines Handelns dar. Wie kann sie dann noch als Regeldiskontinuum begriffen werden? Ersichtlich vermag das Problem nicht dadurch gelöst zu werden, daß man die Revolution der Handlungsregeln in das sie umgebende Regelkontinuum einbettet. Diesem Lösungsversuch zufolge unterbräche die Revolution das Weiterhandeln unter bestimmten gegebenen Regeln, indem sie anderen Regeln gemäß weiterhandelte, die in Geltung blieben. Eine solche Abmilderung der Regelunterbrechung verfehlt den Sachverhalt. Zwar richtet sich keine Revolution auf die Gesamtheit aller Handlungsregeln; aber sie ist nur dann eine Revolution, wenn sie das Weiterhandeln, auf das es ankommt, in der Tat unterbricht, ohne auf andere Regeln, die in Geltung bleiben, zurückgreifen zu können. Die Lösung des Problems muß daher ohne ein Netz anderwärts verbindlicher Regeln auskommen. Sie besteht darin, daß das revolutionäre Handeln den Regeln folgt, die es im Diskontinuum des Handelns selber setzt. Regelsetzen und Regelfolgen schließen sich in seinem Fall zusammen. Das heißt: revolutionäres Handeln besitzt seine Bestimmtheit darin, seine Regeln zugleich zu setzen als auch zu befolgen.

In diesem Zusammenhang ist eine weitere Bedingung von Bedeutung. Die eingeführte Gleichzeitigkeit von Regelsetzen und Regelfolgen muß im Rahmen eines Handelns vieler Handelnder zu erklären sein. Denn Revolutionen erfolgen im Miteinanderhandeln. Dieses Miteinanderhandeln wiederum muß in dem Diskontinuum geschehen, das die Revolution markiert. Es geht in Revolutionen also darum, in der Unterbrechung des...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2017
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Schlagworte Akademiepreis der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 2007 • Ästhetik • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • Lenin • Oktoberrevolution • Religion • Russische Revolution • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste • Trotzki
ISBN-10 3-518-75416-5 / 3518754165
ISBN-13 978-3-518-75416-0 / 9783518754160
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