Nujeen - Flucht in die Freiheit. (eBook)

Im Rollstuhl von Aleppo nach Deutschland
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
304 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-95967-634-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nujeen - Flucht in die Freiheit. -  Christina Lamb,  Nujeen Mustafa,  Nujeen &  Christina Mustafa &  Lamb
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Was bedeutet es wirklich, ein Flüchtling zu sein, durch den Krieg frühzeitig erwachsen werden zu müssen, die geliebte Heimat hinter sich zu lassen und vom Wohlwollen anderer abhängig zu sein?
Die junge Syrerin Nujeen erzählt, wie der syrische Krieg eine stolze Nation zerstört, Familien auseinander reißt und Menschen zur Flucht zwingt. In Nujeens Fall zu einer Reise durch neun Länder, in einem Rollstuhl. Doch es ist auch die Geschichte einer willensstarken jungen Frau, die in Aleppo durch eine Krankheit ans Haus gefesselt ist und sich mit amerikanischen Seifenopern Englisch beibringt, weil sie die große Hoffnung auf ein besseres Leben hat. Eine Hoffnung, die sich fern der Heimat in Deutschland erfüllen kann.
»Ein unglaubliche tapferes Mädchen. Nujeen, ich bin stolz auf dich!« Bear Grylls
»Außergewöhnlich! Die Angst, die Erschöpfung und die Niedergeschlagenheit sind auf jeder Seite greifbar.« The Times



Die junge Syrerin Nujeen Mustafa leidet seit ihrer Kindheit an Zerebralparese und hat ihr Leben im Rollstuhl verbracht. Im Jahr 2014 war ihre Heimatstadt Kobane im Mittelpunkt von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Isis-Kämpfern und von den USA unterstützten kurdischen Streitkräften. Sie und ihre Schwester waren gezwungen, zuerst über die Grenze in die Türkei und dann weiter nach Europa zu fliehen. Derzeit leben sie in Deutschland.

PROLOG

DIE ÜBERFAHRT

Behramkale, Türkei, 2. September 2015

Vom Strand aus konnten wir die Insel Lesbos sehen – und Europa. Auf beiden Seiten erstreckte sich das Meer, so weit das Auge reichte, und es war nicht stürmisch, sondern ruhig, nur mit ganz kleinen Schaumkronen gesprenkelt, die aussahen, als würden sie auf den Wellen tanzen. Die Insel stieg wie ein felsiger Brotlaib aus dem Wasser und schien gar nicht so weit entfernt. Aber die grauen Schlauchboote waren klein und lagen tief im Wasser, beschwert mit so vielen Menschenleben, wie die Schleuser darauf hatten unterbringen können.

Ich sah das Meer zum ersten Mal, wie es überhaupt das erste Mal für alles war – die Reise im Flugzeug und im Zug, den Abschied von meinen Eltern, den Aufenthalt im Hotel und jetzt die Fahrt in einem Boot! In Aleppo hatte ich kaum je unsere Wohnung im fünften Stock verlassen.

Von unseren Vorgängern hatten wir gehört, dass ein Boot mit einem funktionierenden Motor an einem schönen Sommertag wie diesem für die Überfahrt über den Meeresarm nur eine gute Stunde brauche. Der Weg von der Türkei nach Griechenland war an dieser Stelle besonders kurz – er betrug nur zwölf Kilometer. Das Problem war, dass die Motoren oft alt und billig waren und mit Ladungen von fünfzig bis sechzig Menschen ihre Mühe hatten, deshalb dauerte die Überfahrt drei oder vier Stunden. In regnerischen Nächten mit drei Meter hohen Wellen, die die Boote wie Spielzeug hin und her warfen, schafften sie es manchmal überhaupt nicht und die hoffnungsvolle Reise endete in einem nassen Grab.

Der Strand war nicht sandig, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, sondern mit Kies bedeckt – unmöglich für meinen Rollstuhl. Dass wir am richtigen Ort für die Überfahrt waren, sahen wir an einem zerrissenen Karton mit der Aufschrift „Schlauchboot, Made in China, max. 15 Personen“ und einer Spur zurückgelassener Habseligkeiten, die sich wie Flüchtlingsstrandgut über das Ufer zog. Da lagen Zahnbürsten, Windeln und leere Kekspackungen, herrenlose Rucksäcke und jede Menge Kleider und Schuhe. Jeans und T-Shirts waren weggeworfen worden, weil es auf dem Boot dafür keinen Platz gab und die Schleuser dafür sorgten, dass ihre Passagiere mit so wenig Gepäck wie möglich reisten. Ein Paar graue hochhackige Pantoletten mit flauschigen schwarzen Bommeln – wer nahm so etwas auf eine solche Reise mit? Eine kleine pinkfarbene Kindersandale mit einer Plastikrose, der Blinkschuh eines Jungen und ein großer grauer Teddybär mit nur noch einem Auge. Wie schwer mochte es seinem Besitzer gefallen sein, ihn zurückzulassen! Die vielen Sachen verwandelten den schönen Strand in eine Müllkippe, was mich traurig machte.

Der Minibus des Schleusers hatte uns an der Küstenstraße abgesetzt und wir hatten die Nacht in einem Olivenhain verbracht. Von dort mussten wir noch anderthalb Kilometer zum Strand hinuntergehen. Das klingt vielleicht nach nicht viel, ist aber sehr weit für einen Rollstuhl auf holprigem Boden, wenn nur die Schwester einen schiebt und die türkische Sonne sengend auf einen herunterbrennt und einem den Schweiß in die Augen treibt. Es gab auch eine Straße, die im Zickzack hangabwärts führte. Sie zu benutzen wäre viel bequemer gewesen, aber das durften wir nicht, weil uns sonst vielleicht die türkische Gendarmerie gesehen und verhaftet und in ein Flüchtlingslager gebracht oder sogar zurückgeschickt hätte.

Ich reiste mit zwei meiner vier älteren Schwestern – mit Nahda, die sich aber auch um ihr Baby und drei weitere kleine Mädchen kümmern musste, und der mir am nächsten stehenden Nasrine, die sich immer um mich kümmert und so schön ist wie ihr Name, der Name einer weißen Rose, die in den Bergen Kurdistans wächst. Außerdem begleiteten uns ein Cousin und zwei Cousinen, deren Eltern – meine Tante und mein Onkel – im Juni zu einer Beerdigung nach Kobane gefahren und dort von Heckenschützen des Daesch erschossen worden waren. An diesen Tag will ich gar nicht denken.

Der Weg war holprig und meine Schwester zog den Rollstuhl leider rückwärts, sodass ich landeinwärts blickte und das Meer nur ab und zu sah. Es war leuchtend blau. Blau ist meine Lieblingsfarbe, denn es ist die Farbe von Gottes Planeten Erde. Alle schwitzten furchtbar und waren angespannt. Der Rollstuhl war für mich zu groß. Ich umklammerte die Armlehnen so fest, dass mir die Arme wehtaten, und mein Hintern war vom vielen Holpern wund, aber ich sagte nichts.

Wie bei allen Orten, durch die wir bisher gekommen waren, erzählte ich meinen Schwestern Dinge, über die ich mich vor der Abreise informiert hatte. Auf dem Berg über uns lag zu meiner Begeisterung die antike Stadt Assos mit der Ruine eines Athenatempels. Aristoteles hatte einst dort gelebt und seine Philosophenschule gegründet. Von dort oben konnte er den Wechsel von Ebbe und Flut beobachten und die Theorie seines früheren Lehrers Platon anfechten, nach der die Gezeiten von Flüssen verursachte Strömungen seien. Später griffen die Perser die Stadt an und die Philosophen mussten fliehen. Aristoteles wurde schließlich in Mazedonien der Lehrer des jungen Alexander, den man „den Großen“ nannte. Der Apostel Paulus kam auf der Reise von Lesbos nach Syrien ebenfalls durch Assos. Meine Schwestern schien das wie immer nicht besonders zu interessieren.

Schließlich gab ich auf und sah zu, wie die Möwen sich von den thermischen Winden tragen ließen und hoch am leuchtend blauen Himmel mit lautem Geschrei ihre eleganten Schleifen zogen. Wie sehr ich mir doch wünschte, ich könnte fliegen. Nicht einmal Astronauten können das.

Nasrine sah immer wieder auf das Smartphone, das unser Bruder Mustafa uns für die Reise gekauft hatte, damit wir auf Google Maps auch wirklich den Koordinaten folgten, die der Schleuser uns gegeben hatte. Als wir dann schließlich zur Küste kamen, stellte sich trotzdem heraus, dass es nicht die richtige Stelle war. Jeder Schleuser hat eine bestimmte Stelle – wir hatten uns bunte Stoffstreifen um die Handgelenke gebunden, um uns auszuweisen –, und wir waren an der falschen Stelle herausgekommen.

Wir mussten nicht mehr weit gehen, doch kurz vor unserem Ziel versperrte eine senkrechte Felswand den Weg. Der kürzeste Weg darum herum führte durch das Wasser, aber schwimmen konnten wir natürlich nicht. Also mussten wir einen weiteren zerklüfteten Hang hinauf und wieder hinunter steigen, um die richtige Stelle am Strand zu erreichen. Dieser Hang war die Hölle. Wenn man ausrutschte und ins Meer fiel, war man auf jeden Fall tot. Und der Weg war so steinig, dass man mich weder schieben noch ziehen konnte, sondern tragen musste. Meine Cousinen verspotteten mich: „Du bist die Königin, Königin Nujeen!“

Als wir endlich am richtigen Strand ankamen, ging die Sonne in einer Explosion von Pink und Purpur unter, als hätte eine meiner kleinen Nichten den Himmel mit Buntstiften vollgemalt. Von den Hängen über uns hörte ich das leise Bimmeln der Ziegenglocken.

Die Nacht verbrachten wir im Olivenhain. Nach Sonnenuntergang fiel die Temperatur plötzlich und der Boden war hart und steinig, obwohl Nasrine alle unsere Kleider um mich ausbreitete. Aber ich war schrecklich müde, weil ich noch nie in meinem Leben so viel Zeit draußen verbracht hatte, und schlief den größten Teil der Nacht. Feuer konnten wir nicht machen, weil uns dann womöglich die Polizei bemerkt hätte. Einige deckten sich mit den Kartons der Schlauchboote zu. Ich kam mir vor wie in einem Film, in dem eine Gruppe zelten geht und etwas Schreckliches passiert.

Das Frühstück bestand aus Würfelzucker und Nutella, was vielleicht verlockend klingt, aber armselig ist, wenn man sonst nichts hat. Die Schleuser hatten versprochen, dass wir am frühen Morgen abfahren würden, deshalb standen wir in der Morgendämmerung alle mit unseren Schwimmwesten am Strand bereit. Die Handys hatten wir zum Schutz während der Überfahrt in Partyballons gesteckt, ein Trick, den man uns in Izmir gezeigt hatte.

Am Strand warteten noch verschiedene andere Gruppen. Wir hatten jeder fünfzehnhundert Dollar gezahlt statt der üblichen tausend, um ein Boot nur für unsere Familie zu bekommen, doch es sah so aus, als würden noch andere bei uns mitfahren. Insgesamt waren wir 38 Personen – 27 Erwachsene und 11 Kinder. Aber jetzt, da wir hier waren, konnten wir nichts dagegen tun. Umkehren ging nicht, und außerdem hieß es, wer es sich anders überlegte, würde von den Schleusern mit Messern und Viehtreibern zum Einlenken gebracht.

Der Himmel war wolkenlos und aus der Nähe sah ich, dass das Meer nicht nur eine Farbe hatte, nicht nur das einheitliche Blau der Bilder und meiner Fantasie. Nahe am Strand war es leuchtend türkis und weiter draußen tiefer blau. Dann wurde es immer dunkler, zuerst grau und vor der Insel dann blauviolett.

Ich kannte das Meer nur aus den Dokumentarfilmen von National Geographic und kam mir jetzt vor wie in einem dieser Filme. Ich war ganz aufgekratzt und verstand nicht, warum die anderen so nervös waren. Für mich war es das größte Abenteuer!

Andere Kinder liefen über den Strand und sammelten verschiedenfarbige Kiesel. Ein kleiner afghanischer Junge schenkte mir einen Kiesel in Gestalt einer Taube, flach und grau und von einer weißen Marmorader durchzogen. Er fühlte sich kühl an und das Meer hatte ihn ganz glatt geschliffen. Ich habe manchmal Schwierigkeiten, Dinge mit meinen ungeschickten Fingern zu halten, aber diesen Stein ließ ich nicht fallen.

In unserer Gruppe waren Menschen, die wie wir aus Syrien kamen, aber auch welche aus dem Irak, aus Marokko und Afghanistan. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die wir nicht verstanden. Einige tauschten Erlebnisse aus, aber die meisten sagten nicht viel....

Erscheint lt. Verlag 10.10.2016
Übersetzer Wolfram Ströle, Friedrich Pflüger
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Religion / Theologie Islam
Schlagworte Aleppo • Angst • Biografie • Deutschland • Flucht • Flüchtling • Flüchtling Buch • flüchtlinge verstehen • Flüchtlinge verstehen • Flüchtlingskinder • Flüchtlingskrise • flüchtlingswege • Flüchtlingswege • Freiheit • Kinderlähmung • Krieg • Reise • Rollstuhl • Syrien • Wahre GEschichte • wahre geschichte buch • wahre geschichten bücher
ISBN-10 3-95967-634-4 / 3959676344
ISBN-13 978-3-95967-634-2 / 9783959676342
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