Kafka für Eilige (eBook)
224 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1252-8 (ISBN)
Was heißt eigentlich 'kafkaesk'?
Wie oft findet sich der Leser als 'umgedrehter Käfer' vor Franz Kafkas heller und doch unergründlicher Prosa wieder, nur hilflos ausgestattet mit dem Begriff des 'Kafkaesken'? Karla Reimert nähert sich dem Prager Autor und seinen Artisten, Asketen und Angestellten auf beherzte Art und erzählt seine Romane, Erzählungen und biografischen Schriften ganz anschaulich, humorvoll und geistreich nach.
»Der kurzweilige Band macht auch eingefleischten Kafka-Fans Lust auf eine erneute Lektüre.« Thüringische Landeszeitung.
Karla Reimert wurde 1972 in Berlin geboren, wo sie nach längerem Ägyptenaufenthalt lebt. Zahlreiche Lyrik- und Prosaveröffentlichungen. 2003 gewann sie für ihre Kurzprosa den Preis des Rheinsberger Autorinnenforums. Sie arbeitet als Übersetzerin und lektoriert literarische und wissenschaftliche Texte.
Kafka für jedermann
Die gute Nachricht vorweg: Wer heute noch ernsthaft eine Gesamtdeutung von Kafkas Werk vorlegen würde, bekäme nur mehr einen Vogel gezeigt. Im besten Falle jenen, der bei Kafka »einen Käfig suchen« ging. Der Käfig bleibt leer, das Vöglein muß weiter frei umherflattern. Zu deutlich ist selbst der Literaturwissenschaft geworden, daß es inzwischen rund 12 000 Auslegungen noch immer nicht gelungen ist, Kafkas Texten ihr »Geheimnis« zu entreißen.
Wie kann das sein? Gegen Kafkas Wirkung gibt es keine Heilung. Wenn Deutung eine immer noch grassierende Krankheit ist, dann sind Kafkas Texte resistent gegen sie, setzen sich im Bett auf und singen mit fröhlicher Boshaftigkeit: »’s ist nur ein Arzt, ’s ist nur ein Arzt.« Und es ist ein Irrglaube zu meinen, Kafka hätte seine Texte »verschlüsselt« geschrieben, und man brauche nur die richtige Folie, um sie – und damit natürlich auch den Autor – zu »verstehen«.
Doch genau das haben die Kafka-Exegeten von Anbeginn an mit Vorliebe getan. Allen voran Kafkas Freund Max Brod. »Das Wort ›Jude‹ kommt im ›Schloß‹ nicht vor«, schreibt er 1927 in einem Aufsatz, der die »zionistische« Lesart der Texte begründen sollte. »Dennoch ist mit Händen zu greifen, daß Kafka im ›Schloß‹ die große tragische Darstellung der Assimilation und ihrer Vergeblichkeit gegeben hat.« Mit den Händen zu greifen, vielleicht, aber leider nicht mit den Augen zu lesen.
Kafkas treuem Freund Max Brod ist nicht nur die Überlieferung der Texte zu verdanken, sondern, dank seiner zahlreichen Nachworte, auch ihre zunächst theologische Deutung, die in den großen Werken »Das Schloß« und »Der Proceß« die zwei »Emanationen« der Gottheit, »Gnade« und »Gericht«, sehen wollte – und einen nicht abreißenden Strom von ähnlichen und ganz anderen Auslegungen nach sich gezogen hat. Bis heute beschäftigen sich immer wieder Forscher mit den jüdischen Aspekten im Werk Kafkas. Dabei spielen manchmal kabbalistische, manchmal zionistische Einflüsse die Hauptrolle, manchmal aber auch das jüdische Volkstheater, jiddische Sprache sowie das Ostjudentum im allgemeinen. Die Gefahr dabei ist, daß das »Religiöse« und die »kulturelle Prägung«, die bei jedem Menschen einen lebenslangen Prozeß darstellen, auf einen Zustand verkürzt und damit unzulässig vereinfacht werden. Dennoch kann es ungemein spannend sein, den »jüdischen Spuren« und spezifisch jüdischen Problemstellungen in Kafkas Werk nachzugehen und so dem »jüdischen« Kafka hinter einigen Ecken seiner Erzählungen zu begegnen.
Weitaus weniger überzeugend sind Versuche, vor allem aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, Kafka zu »christianisieren«, indem man entweder aus den Helden seiner Werke »Juden« bastelt, die die Erlösung durch den Heiland nicht annehmen können, oder die Kierkegaard-Lektüre Kafkas so hoch wertet, daß religiöse Konflikte zum Hauptthema von Kafkas Schreiben erklärt werden. Letzten Endes zeigen diese Ansichten mehr oder weniger nur die Konflikte und Heilsvorstellungen der Interpreten auf.
Nur wenige Jahre nach Kafkas Tod überzog der Terror der Nationalsozialisten, Faschisten, später der Stalinisten und ihrer groß- und kleinbürgerlichen Anhänger und Sympathisanten Europa. Ab 1935 konnte Kafka in Berlin, kurze Zeit später auch in Prag nicht mehr verlegt werden. Viele Freunde und Bekannte Kafkas mußten nach Frankreich, England und in die USA fliehen, andere, unter ihnen auch seine frühere Geliebte Milena Jesenská und seine drei jüngeren Schwestern, wurden ermordet. Die Überlebenden machten Kafka im Ausland – zuerst in Frankreich, dann in Amerika und England – bekannt, so daß bis heute Kafka etwa in der angelsächsischen Welt ungemein populär ist.
Die ersten Interpretationen von Zeitgenossen – Benjamin, Musil, Tucholsky, Thomas Mann oder Canetti – beschäftigen sich, ausgehend von den gemeinsamen Lebenserfahrungen, im besonderen mit den Aspekten der »Macht« in Kafkas Werk. So bemerkt zum Beispiel Canetti, daß es keinen deutschen Schriftsteller gebe, der so viel von Macht verstehe wie Kafka, und auch Milena Jesenská, Philip Roth und viele andere empfinden sein Werk als »halbprophetische« Vorausdeutung auf die Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts, besonders die öffentlichen Folterungen, die schon lange nicht mehr in Rumpelkammern stattfinden, und die Bestialität einer perversen Bürokratie, wie sie nicht zuletzt in den Fahrplänen der Reichseisenbahn nach Auschwitz oder in die Lebenskosten von Behinderten berechnenden Mathematikaufgaben sichtbar geworden ist.
Durch Kafkas Popularität, nicht zuletzt unter Schriftstellern, wurde auch die Frage nach seinen Einflüssen relevant; jeder wollte wissen, woher, um alles in der Welt, dieses sprachliche Universum kam, wo es verwurzelt war. Von Homer bis Cervantes, von Kant, Hegel, den Traditionen der Aufklärung bis zum Existentialismus, von Georg Büchner oder E. T. A. Hoffmann bis zum Expressionismus reicht die Palette der versuchten Vereinnahmungen. Historizität ist dabei nicht entscheidend, denn – wie es der große Jorge Luis Borges anhand von Kafka entwickelt hat – ein wirklicher Autor »erschafft seine Vorläufer« stets neu. Kafka selbst hielt sich an eine strengere Auswahl von geistigen Vätern. Neben Dostojewski und Kierkegaard verehrte er noch Kleist, Flaubert und Grillparzer. Und Goethe, auch wenn er das meistens nicht so laut sagte, vor allem nicht nach jener gewissen »literarischen« Liebesgeschichte mit Margarethe Kirchner im Weimarer Goethehaus.
Viele wichtige Impulse zur Editionsgeschichte stammen aus den USA. So konnten zum Beispiel die von Max Brod aufgestellten Abläufe der Kapitel in den Romanen durch gründliche Textarbeit korrigiert und zulässige Rückschlüsse auf Lebensumstände oder Lektüren Kafkas gegeben werden. Dadurch, daß Kafka, wie angedeutet, immer auch ein »Autor der Autoren« und ein Autor der Verlagsmenschen war, sind Kritiken und Untersuchungen über ihn oft sprachlich auf höchstem Niveau, verstehen sich selbst als Literatur. Das gilt von Canetti bis Hesse, von Wagenbach bis Ilse Aichinger, Reinhard Baumgart, Philip Roth und natürlich für den Nobelpreisträger Imre Kertész. Im besonderen ist hier die Pionierleistung Klaus Wagenbachs zu nennen, der in den fünfziger Jahren unter Einsatz von List und Leben neue Materialien zusammensuchte und eine Biographie zu Kafkas Jugend verfaßte, die nicht nur das verklärte, von Max Brod überlieferte Bild zurechtrückte, sondern Kafka auch aus den Händen der restaurativen Germanistik befreite. Dieses Buch gilt noch heute als Standardwerk. Es zeigt Kafka als äußerst modernen Menschen, der vielen Reformbewegungen zugetan war, sei es der Freikörperkultur, dem Vegetariertum oder der Kibbuzim-Bewegung im damaligen Palästina.
Hartmut Binder hat in jahrzehntelanger Arbeit Kafkas Werk mit einem akribischen Kommentar versehen. Auch ohne seine Leistung ist die Kafka-Forschung auf ihrem heutigen Niveau nicht denkbar.
Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs lasen Menschen Kafka. In den Staaten des Ostblocks wurde er zunächst als Kritiker ungerechter sozialer Verhältnisse verstanden und begrüßt. Obwohl sein Werk mit Beginn der stalinistischen Diktatur verboten wurde, galt er in den meisten sozialistischen Ländern als Geheimtip. Mehr oder weniger im Untergrund wurde er als der Autor, der sich am intensivsten mit dem Terror auseinandergesetzt und die Greuel der realkommunistischen Diktaturen vorausgesehen hatte, geradezu verehrt.
Das Werk Kafkas mit seinen traumähnlichen Elementen, seinen religiösen Motiven und seiner doppelbödigen Sprache ist auch für die Psychologie von großem Reiz gewesen. 1931 veröffentlichte Hellmuth Kaiser die erste psychoanalytische Studie über Kafka, worin er viele zuvor religiös gedeutete Motive mit einer Erklärung aus dem Bereich das Sexuellen versehen hatte. Gerade weil über Kafka eine Unmenge biographischer Details bekannt sind, verführen diese Deutungen immer wieder dazu, Literatur mit Biographie, Dichtung mit Wahrheit kurzzuschließen und die ästhetische Formung und analytische Distanz Kafkas zu seinen Texten zu unterschätzen. Zwischen den Helden der Erzählungen und Romane und Kafka selbst besteht für sie oft kein nennenswerter Unterschied.
So meinte man vor allem in den Texten »In der Strafkolonie«, »Der Proceß« und »Die Verwandlung« Kafkas Homosexualität oder zumindest sado-masochistische Neigungen zu finden. Kaum eine der psychoanalytischen Deutungen kommt ohne Diagnose eines starken Ödipuskomplexes aus. Und zahlreich sind die Feststellungen, daß eine gewünschte und nicht erfolgte Verschmelzung mit der Mutter Grund für Kafkas Mißverhältnis zwischen Erkenntnisdrang und Erkenntnisverschleierung sei.
In den letzten fünfundzwanzig Jahren aber ist die Literaturwissenschaft von dieser allzu simplen Hermeneutik abgerückt und konzentriert sich mehr darauf, die Texte unter verschiedenen Aspekten zu beleuchten oder ihre Entstehungsgeschichte weiter aufzudecken. Auf diesem Weg sind neue große Untersuchungen oder Biographien entstanden, die mehr durch Sachkenntnis als durch gewagte Thesen brillieren. Gerade Reiner Stachs großangelegtes Biographieprojekt verdient viel Lob, weil es akribisch, und ohne je ins Fabulieren zu verfallen, Kafkas Wege verfolgt und mit einfühlsamen und intelligenten Textzitaten montiert.
Sich auf Kafkas Spuren zu begeben, sich in den Kosmos seiner Texte einzulassen, einzulesen, vielleicht sogar einzuschreiben ist eines der gewagtesten und gleichzeitig reizvollsten und wunderbarsten literarischen Abenteuer. Aber wie oberflächlich oder tief man auch bleiben oder werden...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2016 |
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Reihe/Serie | Für Eilige |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Germanistik | |
Schlagworte | Autor • Der Prozess • Die Verwandlung • Franz Kafka • Für Eilige • Kafka • kafkaesk • Klassiker • Prag • Weltliteratur |
ISBN-10 | 3-8412-1252-2 / 3841212522 |
ISBN-13 | 978-3-8412-1252-8 / 9783841212528 |
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Größe: 2,4 MB
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