Ein Herz und eine Seele (eBook)

Geschichte der Männerfreundschaft
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
480 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490135-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein Herz und eine Seele -  Andreas Kraß
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Der Brieffreund, der Studienfreund, der »beste« Freund - es gibt viele Formen der Männerfreundschaft. Der Berliner Kulturwissenschaftler Andreas Kraß untersucht sie in seinem neuen Buch alle, von der Antike bis in die Gegenwart. Zwanzig Geschichten der Männerfreundschaft von Homer bis Wolfgang Herrndorf werden dafür analysiert und mit einem jeweils epochalen philosophischen Text in Beziehung gesetzt. Im Zentrum stehen nichthomosexuelle Freundschaften und ihre Passionsgeschichten, die einem Muster folgen: Warum muss erst der eine Freund sterben, damit der andere in leidenschaftlicher Weise über die Freundschaft sprechen kann? Und wie verändert sich dies im Laufe der Geschichte? Eine literarisch-kulturgeschichtliche Spurensuche voller neuer und überraschender Einsichten.

Andreas Kraß, geb. 1963, lehrt nach einer Professur für Ältere Deutsche Literatur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main seit 2012 Ältere Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Literatur des hohen Mittelalters an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im S. Fischer Verlag ist zuletzt von ihm erschienen ?Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe? (2010) sowie im Fischer Taschenbuch Verlag der gemeinsam mit Thomas Frank herausgegebene Band ?Tinte und Blut. Politik, Erotik und Poetik des Martyriums? (2008).

Andreas Kraß, geb. 1963, lehrt nach einer Professur für Ältere Deutsche Literatur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main seit 2012 Ältere Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Literatur des hohen Mittelalters an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im S. Fischer Verlag ist zuletzt von ihm erschienen ›Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe‹ (2010) sowie im Fischer Taschenbuch Verlag der gemeinsam mit Thomas Frank herausgegebene Band ›Tinte und Blut. Politik, Erotik und Poetik des Martyriums‹ (2008).

Sympathisch und einnehmend verhält sich das Buch […], stets auch in der Vermessung der feinen Grenze zwischen Männerfreundschaft und homosexueller Liebe.

eine weit ausgreifende, lehrreiche Literaturgeschichte der Männerfreundschaft

Vorwort: Der Poldark-Effekt


Im Frühjahr des Jahres 2015, als ich in London dieses Buch schrieb, lief auf BBC One eine TV-Serie an, die sich als großer Publikumserfolg erwies: Poldark, eine Neuverfilmung der Romane des britischen Schriftstellers Winston Graham. Die Times berichtete in den ersten Wochen fast täglich über den Film. Am 16. März 2015 erschien ein doppelseitiger Bericht mit dem Titel: The Ross Poldark effect: Hands up, who’s had a man crush?[1] Männliche Journalisten legten Bekenntnisse ab, für welche Männer sie eine Schwäche hätten. David Aaronovitch schwärmte für Jürgen Klinsmann, Matthew Syed für David Beckham und Robert Crampton für Aiden Turner, den Darsteller von Ross Poldark. Wohlgemerkt, es handelte sich um Geständnisse heterosexueller Männer, die sich für andere heterosexuelle Männer begeistern. Das ist mit man crush gemeint. Die wörtliche Bedeutung von crush ist ›zerdrücken, zerbrechen, zerquetschen‹. Dies ist das Schicksal, das Poldark, einem Raufbold und Kartenspieler, widerfährt, bevor seine Geschichte beginnt. Als britischer Soldat, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg sein Glück sucht, wird er schwer verwundet. Doch überlebt er wie durch ein Wunder und kehrt, mit einer Gesichtsnarbe gezeichnet, ins malerische Cornwall zurück. Dort sucht der moralisch Geläuterte seine Verlobte auf, die sich inzwischen mit Poldarks blassem Cousin verbunden hat. Sie hielt ihn für tot, und auch das Publikum wird zunächst im Glauben gelassen, Poldark sei auf dem Schlachtfeld gefallen. Doch nach dem Vorspann sieht man ihn schon bald, gleichsam von den Toten auferstanden, prachtvoll ins Bild reiten: »Back from the grave.«[2] Poldark ist eine verklärte Gestalt – an Leib und Seele zu schön, um wahr zu sein. Wer sich als Mann in Poldark verliebt, verliebt sich in ein Heiligenbild. Poldark ist für den Zuschauer der Freund, den man sich wünscht und der man selbst zu sein begehrt. Crampton schreibt über die Reaktion seiner Freundinnen und Freunde auf sein Liebesbekenntnis zu Aiden Turner alias Ross Poldark:

Die Frauen in meinem Leben waren amüsiert und eine oder zwei waren leicht beeindruckt von meiner Freimütigkeit, aber die meisten hielten das Eingeständnis für keine große Sache. Die übereinstimmende Meinung war: Natürlich stehst du auf Poldark, warum auch nicht? Meine Männerfreunde hingegen sagten überhaupt gar nichts. Betäubendes Schweigen. Super, danke für den Zuspruch, Jungs. Ich gehe einen Schritt aus mir heraus, und ihr lasst mich hängen. Mir wurde keine Feindseligkeit als solche entgegengebracht, aber ich glaube nicht, dass ich mir das peinliche Hüsteln, das traurige Kopfschütteln und den vermiedenen Blickkontakt vorgestellt habe. Der Punkt des Eingeständnisses ist, dass ich nicht nur nicht schwul bin. Ich bin nicht einmal das kleinste bisschen metrosexuell. Kein mangelnder Respekt gegenüber dem, der es ist, aber ich bin es nicht.

Das Problem ist der Homosexualitätsverdacht. Ein Mann darf sich nicht in einen anderen Mann verlieben, wenn er nicht für schwul gehalten werden will. Und doch ist der Wunsch nach Intimität da:

Aidans Anziehungskraft überschreitet die erlaubten Grenzen der bromance. Ja, ich würde gern mit Aidan Turner abhängen – vielleicht ein paar Biere mit Aidan Turner trinken; vielleicht, wenn wir betrunken genug sind, emotionale Intimitäten mit Aidan Turner austauschen – aber diese Gefühle, die ich für Aidan Turner empfinde, gehen irgendwie darüber hinaus. Ich fühle mich zum Teil wegen seines außergewöhnlich guten Aussehens so zu Aidan Turner hingezogen.

Das Wort bromance ist ein Spiel mit ›Bruder‹ (brother) und ›Romanze‹ (romance). Gemeint ist die brüderliche Nähe und Verbundenheit zwischen Freunden. Der man crush geht über bromance hinaus, denn es tritt noch das Gefühl der Verliebtheit hinzu. Die Auslöser sind Eigenschaften, die der vernarrte Journalist schon an Schauspielern wie George Clooney, Brad Pitt und Matt Damon (den üblichen Verdächtigen) bewunderte:

Weil sie tapferer waren als ich, oder stärker oder klüger, oder lustiger, oder – ja – weil sie einfach besser aussahen. Weil sie Qualitäten besaßen, die ich bewunderte, begehrte, ersehnte. Weil sie ein Ideal zu verkörpern schienen, das ich selbst zu erreichen mich bemühte.

Einen man crush zu haben bedeutet für einen Mann, ein narzisstisches Idealbild zu begehren, ein besseres Ich, ein höheres Selbst. Dieses Begehren ist unter eine Bedingung gestellt. Die Leidenschaft für Poldark ist nur deswegen möglich, weil dieser eine Leidensgeschichte durchlaufen hat. Poldark hat einen symbolischen Tod durchschritten. Er ist nicht mehr von dieser Welt in seiner überragenden Schönheit, Klugheit, Tapferkeit und Güte. Er muss zunächst crushed werden, bevor man einen crush auf ihn entwickeln kann.

In diesem Buch soll es um die Heiligsprechung der Männerfreundschaft in der Literaturgeschichte gehen. Man kann das Phänomen auch seriöser beschreiben als mit dem Poldark-Effekt, zum Beispiel mit einem Buch des Soziologen Niklas Luhmann, das den Titel Liebe als Passion trägt und eine vom Mittelalter bis in die Neuzeit reichende Geschichte der heterosexuellen Liebe bietet. Luhmann untersucht, wie sich die Konstellation von Ehe, Liebe und Sexualität im Laufe der Epochen änderte und welche Rolle dabei die Männerfreundschaft spielte. Er interessiert sich nicht für Liebe als Gefühl, sondern als »Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit alldem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird«.[3] Die Frage, die Luhmann an die Liebe richtet, stellt das vorliegende Buch an die Männerfreundschaft. Wie werden im Namen der Männerfreundschaft Gefühle ausgedrückt, gebildet, simuliert, unterstellt und geleugnet? Wenn Luhmann mit Blick auf die Liebe von einer Passion spricht, meint er die paradoxe Vorstellung, dass Liebe ein selbsterwähltes Leiden sei. Liebe wird in der Literatur oftmals wie eine Krankheit beschrieben – aber, so stellt Luhmann süffisant fest: »man geht deswegen nicht zum Arzt«.[4] Was ist jedoch unter Passion zu verstehen, wenn es um die Freundschaft zwischen Männern geht? Zweierlei. Zum einen ist Freundschaft als passionierte Beziehung gemeint, als affektiv aufgeladener Code der Intimität. Zum anderen geht es um literarische Inszenierungen von Männerfreundschaft im Zeichen des Todes: um Freundschaftsgeschichten, die als Passionsgeschichten erzählt werden. Der überlebende Freund nimmt den Verlust des toten Freundes zum Anlass, um in leidenschaftlicher Weise über das Wesen der Freundschaft zu sprechen. Im Unterschied zur Liebe ist das Leiden in der Männerfreundschaft also nicht selbst erwählt, sondern vom Schicksal verhängt. Für den Arztbesuch ist es gewissermaßen schon zu spät. Auch Luhmann stellt fest, dass auf der Männerfreundschaft die Hypothek des Homosexualitätsverdachts liegt. Wenn Freunde allzu passioniert von ihrer Freundschaft sprechen, wenn sie dabei Bilder der körperlichen Nähe wie Küsse und Umarmungen wählen, dann müssen sie sich oft die Frage gefallen lassen, wie es denn eigentlich genau um ihre Intimität bestellt sei.

Das vorliegende Buch trifft in der Wahl seines Gegenstandes zwei Entscheidungen. Es handelt nur von Freundschaft zwischen Männern, die sich nicht als homosexuell identifizieren. Und es handelt nur von solchen Freundschaftsgeschichten, die als Passionsgeschichten erzählt werden. Es besteht ein Zusammenhang zwischen diesen Bedingungen, der in diesem Buch aufgedeckt werden soll. Die Frage lautet: Warum muss ein Freund sterben, damit der andere in leidenschaftlicher Weise über die Freundschaft sprechen kann? Und wie verändert sich diese Konstellation im Laufe der Geschichte? Wie von der Männerfreundschaft erzählt wird, hat immer auch etwas damit zu tun, wie man in der jeweiligen Epoche von der gleichgeschlechtlichen Liebe denkt. Die Problemstellung dieses Buchs lässt sich auch so formulieren: Welche Vorkehrungen müssen getroffen werden, damit von der Intimität zwischen Männerfreunden erzählt werden kann? Und welche Spielräume eröffnen sich, wenn man von der Männerfreundschaft im Zeichen des Todes erzählt?

Rückt man die Männerfreundschaft ins Zentrum, dann drängt sich die Frage auf, wie es um die Frauenfreundschaft bestellt ist. Die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Lillian Faderman schrieb darüber Anfang der 1980er Jahre ein lesenswertes Buch mit dem Titel: Köstlicher als die Liebe der Männer. Romantische Freundschaft und Liebe zwischen Frauen von der Renaissance bis heute. Wie sich Fadermans Buch auf die Freundschaft zwischen Frauen konzentriert, so fokussiert das vorliegende Buch die Freundschaft zwischen Männern. Und doch kommen Frauen immer wieder in den Blick: zum einen in der Weise, dass weibliche Figuren zwischen den männlichen Freunden vermitteln, zum anderen in der Weise, dass einer der Freunde selbst verweiblicht, also eine symbolische Geschlechterdifferenz in die Beziehung der Männerfreunde eingezogen wird. Jacques Derrida hat in seinem Buch Politik der Freundschaft über den »doppelten Ausschluss des Weiblichen« aus der Freundschaft gesprochen, nämlich »zwischen Mann und...

Erscheint lt. Verlag 25.8.2016
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Schlagworte Achill • Aelred von Rievaulx • Aeneas • Aristoteles • Blanchot • Cicero • Derrida • Gaveston • Gilgamesch • Hagen • Herzensfreunde • Intimität • Jesus • Lancelot • Lancelot, Achill, Hagen • Liebe • Luhmann • Montaigne • Ophelia • Ripley • Romantische Liebe • Sexualität • Simplicius • tschick • Waffenbrüder • Werther • Wesenseinheit
ISBN-10 3-10-490135-X / 310490135X
ISBN-13 978-3-10-490135-0 / 9783104901350
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