Immanuel Kant - Was bleibt? (eBook)

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2011 | 1. Auflage
269 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-3027-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Immanuel Kant - Was bleibt? -  Reinhard Brandt
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Das Frage-Buch von Reinhard Brandt beginnt mit einer fulminanten Entdeckung: Die Raum-Zeit-Lehre der Kritik der reinen Vernunft enthält als Subtext einen Gottesbeweis. Welche Rolle spielt die Theologie in der Grundlage der kritischen Philosophie? Rettet sie die Anwendung der euklidischen Geometrie auf den Raum der reinen Anschauung? - Der zweistufige kategorische Imperativ ist konzipiert auf der Folie der Stufung von »status naturalis« der Maximen und »status civilis« der autonomen Gesetzgebung, er zielt auf keine Verallgemeinerung oder Universalisierung der Maxime (wozu auch?), sondern auf die Freiheit unter der eigenen Gesetzgebung. Ist jedoch die Gleichsetzung von sittlicher Freiheit und Gesetzgebung haltbar, oder gibt es in Extremsituationen eine Erlaubnis und gar eine Pflicht zu lügen? - Ist Kants Definition eines empirischen Naturprodukts in der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« möglich, gemäß der alles in ihm Mittel und Zweck ist? - Kann der Vertrag in der »Rechtslehre« als Besitz der Willkür eines anderen gefasst werden oder scheitert Kants Innovation an inneren Widersprüchen? Ist das Kantische Ehe- und Strafrecht zu retten? Unhinterschreitbar sind die Prinzipien der Aufklärung und der Würde des Menschen. Wie sind sie genau begründet? In seinem neuen Buch geht es Reinhard Brandt nicht um die Bewahrung des Kantischen Erbes, sondern um das, was - mit Kant und im Anschluss an ihn - auch heute noch zu denken bleibt! Der Fragen-Traktat folgt also einer Tradition, die mit der Publikation der »Kritiken« beginnt und in die Zukunft weiter gereicht wird. Im Gegensatz zu poetischen Werken wird in philosophischen Abhandlungen etwas Theoretisches behauptet und begründet, und mit der Begründung wird der Leser aufgefordert, der Argumentation kritisch zu folgen und sie zu akzeptieren oder sie mit Gründen abzulehnen. Eben dies wird in diesem Traktat bei einigen ausgewählten Lehrstücken Kants versucht und damit nichts anderes getan, als die Rolle zu spielen, die der Autor seinem philosophisch interessierten Leser zuweist.

Reinhard Brandt, geboren 1937, Studium Latein, Griechisch und Philosophie (Staatsexamen) in Marburg, München und Paris. 1972 bis 2002 Professor für Philosophie in Marburg, viele Gastprofessuren. 2004 Christian-Wolff-Professor in Halle. Leiter der Marburger Arbeitsstelle zur Weiterführung der Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften. Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft der Universität Frankfurt und korr. Mitglied der Akademie zu Göttingen, im Sommer 2005 Gast im Wissenschaftskolleg zu Berlin. Bücher: Philosophie in Bildern. Von Giorgione bis Magritte (2000, 2002); Die Bestimmung des Menschen bei Kant (2007, 2009); Können Tiere denken? (2009); Immanuel Kant - Was bleibt? (2010); Wozu noch Universitäten? (2011).

I. Probleme der »Transzendentalen Ästhetik«


Es sollen im Folgenden vier Komplexe erörtert werden. Im ersten Schritt wird die Argumentfolge sowohl in der Raum- wie auch der Zeittheorie bezogen auf die rationale Theologie und ihre Beweisschritte, so wie sie von Kant an anderer Stelle in der KrV vorgestellt werden und offensichtlich 1781 als Vorlage für die Lehre von Raum und Zeit dienen. Im zweiten Teil kehren wir zur Genese der Kantischen Raumspekulation im Jahr 1768 zurück und verfolgen die Opposition von Anschauung und Begriff, die sich aus der Leibniz-Kritik von 68 ergibt. Drittens wird dann erörtert, wie die geometrische Erkenntnis in der »Transzendentalen Analytik« und wie das Verhältnis von »Ästhetik« und »Logik« konzipiert ist. Abschließend wird gefragt, ob Kants Raum-Zeitlehre überzeugt oder ob sie dasselbe Schicksal erleidet wie die von Kant selbst als unzulässig abgelehnten Gottesbeweise.

1892 beendete Hans Vaihinger den 2. Band seines Kommentars zu Kants »Kritik der reinen Vernunft «, der der »Transzendentalen Ästhetik« gewidmet ist. Die Fülle der schon 1892 von Vaihinger angeführten Publikationen ist so überwältigend, dass es aussichtslos ist, den »status quaestionis« gar im Jahr 2009 erklimmen und darlegen zu wollen. Ich verweise stellvertretend nur auf die grundlegende Studie von Darius Koriako, »Kants Philosophie der Mathematik« (1999) und einen scharfsinnigen Aufsatz von Michael Wolff, »Absolute Selbstähnlichkeit in der euklidischen Geometrie. Zu Kants Erklärung der Möglichkeit der reinen Geometrie als einer synthetischen Erkenntnis a priori«.9 Wolff wendet sich gegen Interpretationen wie u. a. die von Albert Einstein, die den Anspruch der Kantischen Raum-Zeit-Lehre verkennen würden; nur unter Einbeziehung der »Transzendentalen Analytik« lasse sich Kants Lehre beurteilen, und dieses Urteil gebe Kant rundum Recht. Es sollen gegen diese Kant-Bestätigung wiederum einige umstürzende Bedenken angeführt werden.

1. Die »Transzendentale Ästhetik« und die Gottesbeweise


Wir orientieren uns an der A-Auflage der KrV; auf die B-Auflage wird eingegangen, wenn die Änderungen für unsere Überlegungen relevant sind. Die Argumente der Raum-Zeitlehre werden von Kant in fünf Abschnitte geordnet. Unter Ziffer 1 wird gezeigt, dass die Vorstellung von Raum und Zeit den Platzierungen sei es von äußeren Gegenständen, sei es von inneren Zuständen zu Grunde liegen. Äußere und innere Erfahrung werden also nur durch die vorgängige Vorstellung von Raum und Zeit möglich. Ziffer 2 enthält erstens den verallgemeinernden Schluß aus Ziffer 1 und zweitens ein weiterführendes Argument. Erstens gelte dies für alle Lokalisierungen in Raum und Zeit, und damit seien Raum und Zeit notwendige Vorstellungen a priori. Zweitens gelte darüber hinaus, dass man sich keine Vorstellung davon machen könne, dass kein Raum und keine Zeit seien; aus ihrer Vorstellung ließen sich alle Gegenstände und Zustände aufh eben, nicht jedoch die genannte, somit für sich notwendige Vorstellung selbst. Ziffer 3 schließt an diese absolute Notwendigkeit an: »Auf diese Notwendigkeit a priori gründet sich die apodiktische Notwendigkeit aller geometrischen Grundsätze […]« und parallel dazu dieselbe Behauptung der »Möglichkeit apodiktischer Grundsätze von den Verhältnissen der Zeit, oder Axiomen von der Zeit überhaupt.« Ziffer 4 schließt eher an 2 als an 3 an. Die Raum- und Zeitvorstellungen seien keine Begriffe, sondern reine Anschauungen bzw. »reine Form der sinnlichen Anschauung«. Alle Räume und Zeiten seien als Teilräume und –zeiten in der reinen Anschauung von Raum und Zeit. Als solche, so schließt Ziffer 5, würden sie als unendliche gegebene Größen vorgestellt.

Nun gibt es eine bisher übersehene Parallele des Beweisganges in der Raum- und Zeiterörterung, sie findet sich in der vorkritischen Theologie und ist eingegangen in die KrV. Kant unterscheidet in der »Transzendentalen Dialektik« drei Gottesbeweise. Am Anfang steht der kosmologische Beweis, auf ihn folgt der ontologische, und von ihm aus läßt sich, so die Behauptung der rationalen Theologie, das notwendige Wesen als »omnitudo realitatis« erweisen. Der kosmologische Beweis geht von etwas kontingent Existierendem aus (der Kosmos; das Ich10) und schließt von ihm auf ein notwendiges Wesen, das der letzte Grund der kontingenten Existenz ist. Dieser Grund selbst, so der ontologische Beweis, ist nicht nur relativ notwendig, sondern ist absolut notwendig aus seinem eigenen Begriff. Die nähere Bestimmung führt drittens zum Begriff Gottes als der allbefassenden unendlichen Realität, in der alles Seiende bzw. alle Möglichkeit gedacht werden muß.

Die formale Anlage der Ziffern 1 bis 4 bzw. 5 der Raum- und Zeiterörterungen folgt den drei Beweisschritten der rationalen Theologie. Es lassen sich drei genaue Korrespondenzen ausmachen:

1. Der Raum bzw. seine Vorstellung liegt allen Verortungen, auch meiner selbst, »zum Grunde«, sie sind nur »durch« ihn möglich;11 dasselbe gilt für die Zeit im Hinblick auf die Relationen des Zugleich und Früher bzw. Später.12 Diese Grund-Folge-Beziehung impliziert die allgemeine Notwendigkeit der Vorstellung des Raumes bzw. der Zeit.13

Dem korrespondiert der kosmologische Beweis: Es gibt ein kontingentes Dasein der Welt oder auch meines Ich; diesem Dasein liegt ein nicht mehr verursachtes Wesen zu Grunde, dem damit eine relative Notwendigkeit zukommt.

2. Die Raum- und Zeitvorstellung ist jeweils für sich notwendig, auch wenn aller Inhalt aus der jeweiligen Vorstellung entfernt wird. »Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, dass kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden.« (A 24; analog bei der Zeit A 31) Das Nichtsein von Raum und Zeit ist nicht vorstellbar, sie sind damit absolut notwendige Vorstellungen, deren Notwendigkeit nicht mehr von ihrer Funktion, allen Erscheinungen zu Grunde zu liegen, abhängt.

Dem korrespondiert der ontologische Gottesbeweis, der die Notwendigkeit Gottes für sich, also ohne Rekurs auf die Schöpfung, nachweist.14

3. (Ziffer 4) Was sind die für sich inhaltsleeren notwendigen Vorstellungen von Raum und Zeit? Sie sind keine Begriffe, sondern reine Anschauungen oder Formen der Anschauung, in denen qua Anschauungen alle Teile koordiniert, nicht subordiniert sind. Hier tritt an die Stelle des »durch« von Ziffer 1 das »inesse«.

Dem korrespondiert, dass sich das notwendige Wesen (ontologischer Beweis) als »omnitudo realitatis« erweist, in der alle besondere Realität bzw. alle Möglichkeit liegt.15 Von Gott als dem All oder Inbegriff der Realität wird gesagt, er sei »nicht bloß ein Begriff, der alle Prädicate ihrem transzendentalen Inhalte nach unter sich, sondern der sie in sich begreift ; und die durchgängige Bestimmung eines jeden Dinges beruht auf der Einschränkung dieses All der Realität, […].« (A 577)16 Kant selbst verweist auf die Parallele zum Raum (A 578), die Begriffe »in sich«, »allbefassend«, »Einschränkung« begegnen sowohl beim Raum (s. a. die Zeit) wie auch bei der Erörterung der »omnitudo realitatis«.

Nun kommt hinzu, dass Kant die drei Schritte in der »Transzendentalen Ästhetik«, deren theologischen Nebentext wir hier aufdecken, ausdrücklich für die Gottesbeweise festlegt: »Dieses ist nun der natürliche Gang, den jede menschliche Vernunft , selbst die gemeinste, nimmt, obgleich nicht eine jede in demselben aushält. Sie fängt nicht von Begriffen, sondern von der gemeinen Erfahrung an, und legt also etwas Existierendes zum Grunde [vgl. A 23: »auf etwas in einem andern Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde«, RB]. Dieser Boden aber sinkt, wenn er nicht auf dem unbeweglichen Felsen des Absolutnotwendigen ruht [A24: »Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, dass kein Raum sei«, RB]. Dieser aber schwebt ohne Stütze, wenn noch außer und unter ihm leerer Raum ist, und er nicht selbst alles erfüllt und dadurch keinen Platz zum Warum mehr übrigläßt, d. i. der Realität nach unendlich ist [A 25: der einige allbefassende Raum, RB].« (A 584, dieselben drei Schritte A 586–587) Dies ist »der natürliche Gang« der menschlichen Vernunft . Also: 1. Kosmologischer Beweis, 2. Ontologischer Beweis, 3. Gott als »omnitudo...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2011
Reihe/Serie Blaue Reihe
Blaue Reihe
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Schlagworte Immanuel • Kant • Kritische Philosophie • Philosophie • Transzendentalphilosophie
ISBN-10 3-7873-3027-5 / 3787330275
ISBN-13 978-3-7873-3027-0 / 9783787330270
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