Religion und Mythologie der Germanen (eBook)

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2014 | 1. Auflage
335 Seiten
Theiss in der Verlag Herder GmbH
978-3-8062-2955-4 (ISBN)
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Rudolf Simek bietet anhand von archäologischen Funden und authentischen Quellen eine umfassende Darstellung der vielfältigen Erscheinungsformen der religiösen Welt der Germanen. Einen Schwerpunkt bilden dabei die Kultpraktiken, über die jüngere Forschungen sehr genauen Aufschluss geben können. Der Autor zeichnet nach, wie sich die mythologische Götterwelt von der Eiszeit bis zur Wikingerzeit von numinosen Mächten an Flüssen oder Sümpfen zu einem komplexen Götterpantheon entwickelte. Der Magie ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Sehr anschaulich zeigt Simek, welche Praktiken und mythologischen Wesen die Christianisierung überdauert haben und bis heute in vielen Formen der Volksreligiosität weiterleben. Dabei verdeutlicht er, wie und warum das Christentum an bestimmte religiöse Vorstellungen der Germanen anknüpfte.

Rudolf Simek ist Professor für mittelalterliche deutsche und skandinavische Literatur an der Universität Bonn. Zu seinen über 30 Buchpublikationen gehören u.a. die Bände ?Lexikon der germanischen Mythologie? und ?Lexikon der altnordischen Literatur? (mit Hermann Pálsson), sowie Werke zur mittelalterlichen Kulturgeschichte, zu den Wikingern und etliche Bände mit Übersetzungen altisländischer Sagas. Er hat an zahlreichen Fernsehdokumentationen zu Wikingern und Germanen mitgewirkt.

»Rudolf Simek ist ein sehr guter Erzähler, der sachlich, aber dennoch locker und für jedermann verständlich die Sachverhalte darzulegen weiß und den Leser auf durch und durch seriöse Weise mit in die geheimnisvolle Welt der germanischen Mythologie nimmt.« Karfunkel Codex

I. Der lebende Mythos
der germanischen Vorfahren: Drei Fallbeispiele


1. Dreitausend Jahre lang verehrt und keiner kennt sie. Die vergessenen Göttinnen des Rheinlandes


Gleichgültig, zu welcher Jahreszeit man sich in die nördlichen Ausläufer der Eifel aufmacht, des vulkanischen Hügellandes westlich des Rheins zwischen Koblenz und Bonn gelegen, kann man auch noch heute auf eine stille, fast heimliche Verehrung von Muttergottheiten stoßen. Die Verehrung, um die es hier geht, manifestiert sich im Anzünden von Kerzen, dem Niederlegen von Blumen und vielerlei kleinen Gaben an den Altären, die archäologisch korrekt ausgegraben und konservatorisch auf einen beschränkten Besucherkreis eingerichtet frei in der Landschaft auf Hügelkuppen nahe den Ortschaften Pesch und Nettersheim zu finden sind. Neben Kerzen, Blumen und Münzen, im Herbst auch oft Früchten, finden sich vereinzelt persönliche Gaben, ein billiges Armband etwa oder die Halskette eines Kindes, als Votivgaben auf den Altären der Göttinnen, deren Gedenksteine seit rund 1700 bis 1800 Jahren an denselben Stellen stehen (Abb. 1). Diese Verehrung steht in ihrer Form der volkstümlichen katholischen Heiligenverehrung und, wenn auch weniger deutlich ausgeprägt, dem ebenfalls vorwiegend katholischen Totengedenken nahe, was sich schon rein äußerlich an den in beiden Kultformen verwendeten Grabkerzen zeigt. Vielleicht nicht ganz zufällig hat der Kult der Matronen hier in einer durch und durch katholischen Gegend überlebt, während in anderen Zentren ihrer ursprünglichen Verehrung, etwa im römischen Britannien, davon nichts geblieben ist. Die Tafeln des Amtes für Rheinische Landeskunde berichten über die Ausgrabungsgeschichte, das Alter und die relative Lage dieser „römischen“ Matronentempel zu den römerzeitlichen Siedlungen und Straßen der Umgebung und geben auch die Inschriften korrekt und mit deutscher Übersetzung wieder; sie verraten aber nicht, wofür diese fast immer in Dreiergruppen dargestellten Göttinnen verehrt wurden. Die Spender der Votivgaben wissen es wohl, und nicht umsonst erzählt man sich in der Gegend, dass ihre Anhänger nicht nur hierher pilgern, um ihre kleinen Gaben mit einem Wunsch niederzulegen, sondern dass auch kinderlose Ehepaare bisweilen den nächtlich-ruhigen Rasen in den Tempelruinen in warmen Nächten zum Beischlaf nutzen, um durch die Anwesenheit der Göttinnen ihrem Kinderwunsch Nachdruck zu verleihen. In der Tat war eine der ursprünglichen Funktionen dieser Göttinnen die ganz konkrete Fruchtbarkeit in der Familie, so wie andere private und familiäre Anliegen auch.

Die Tempelanlagen der Muttergottheiten in der Eifel wurden angelegt, als die römische Großstadt Colonia Agrippina, das heutige Köln, für ihre Versorgung eine 90 km lange Wasserleitung aus der Eifel zu bauen begann. Der Bau dieses Aquädukts mit der unerhörten Tagesleistung von 30 Millionen Liter Wasser verwandelte die bislang nur vereinzelt von Gutshöfen bewirtschaftete Eifel zu einer Großbaustelle mit Steinbrüchen, Kalkgruben und Ziegelwerken, die mit der Anlage von Manufakturen und Straßen auch eine entsprechende Administration nach sich zog. Viele Beamte dieser Administration waren einheimische Ubier, ein urspünglich rechtsrheinischer germanisch-keltischer Mischstamm, der sich unter dem Druck der Sueben 38 v. Chr. unter Augustus auf die linke Rheinseite umsiedeln ließ und sich eng mit den Römern verbündete, aber auch mit einheimischen Kelten aus Siedlungen zwischen Köln, Eifel und Remagen verschmolz. Die Ubier und andere Germanen in römischen Diensten im 50 n. Chr. gegründeten Veteranenlager Colonia Agrippinensis gaben sich betont römisch, verwendeten Latein und partizipierten zu ihrem Vorteil an der römischen Kultur. Was sie aber offenbar nicht aufgaben, waren Teile ihrer Religion. Für die diesbezüglich tolerante römische Administration stellte das kein Problem dar, und so entstanden vielerorts, zuerst wohl in den Städten, dann an etwas abgelegeneren Orten wie den Hügelchen der Eifel, Tempel in römischem Stil, die aber einheimischen, vorrömischen und germanischen (sowie auch keltischen) Göttinnen geweiht waren. In diesen Tempeln wurden die verehrten Muttergottheiten, die so genannten Matronen, auf kleinen Votivaltären dargestellt und mit einer Inschrift versehen, wobei preisgünstigere Ausführungen für kleinere Beamte auch hin und wieder nur die Inschrift trugen und auf die Darstellung verzichteten. Die Darstellung auf den in römischem Stil gehaltenen Altärchen zeigt üblicherweise drei sitzende Frauengestalten, von denen die beiden äußeren durch ihre (ubische) Haartracht mit großen runden gestärkten Hauben als verheiratete Frauen, die mittlere durch ihr offenes Haar als Jungfrau, d.h. als unverheiratet, gekennzeichnet waren. Auf dem Schoß halten die Frauengestalten Fruchtkörbchen, Früchte, aber auch Windeln, und dies allein ist schon ein Hinweis auf die Funktion wenigstens mancher der Matronen. Die Inschriften, in denen sich die Stifter mit Namen und Berufsbezeichnung bei den jeweils eingangs genannten Matronen bedanken, und zwar „freiwillig und gerne bedanken“, wie oft ausdrücklich erwähnt wird, nennen die Wünsche für das erfüllte Gelübde nur selten direkt, aber oft erwähnt einer der Stifter, dass er das Gelübde „für sich und die Seinen“ abgelegt habe, dass es sich also um eine Familienangelegenheit handele. Wir kennen aus diesen Inschriften über 100 verschiedene germanische Namen solcher Göttinnen-Dreiheiten, aber die wenigsten können wir deuten, nur manchmal können wir die Funktion aus der Etymologie des Namens erahnen. Dabei erweisen sich etliche der Göttinnen als Lokalgottheiten, andere stellen sich trotz ihres friedlichen Auftretens als Kriegsgöttinnen heraus, wie sie uns sonst erst wieder als die Walküren der mittelalterlichen Literatur entgegentreten.

Abb. 1: Matronentempel in Nettersheim in der Eifel.

Die Matronen sind kein rein germanisches Phänomen, denn die Matronenverehrung kennen wir aus weiten Bereichen des römischen Imperiums, aus Gallien und Britannien, sie hat aber in der germanisch-keltischen Mischbevölkerung am Niederrhein einen Schwerpunkt, und aus dieser Gegend kennen wir auch viele Stifternamen germanischer Herkunft ebenso wie auch Matronennamen selbst, die germanisch sind.

Die Mode der Matronensteine begann wohl durch Römer am Unterrhein – der älteste Votivstein stammt aus der Zeit zwischen 70 und 89 n. Chr. von einem Matrosen der römischen Rheinflotte – und endete im späten 5. Jh., etwa um die Zeit, als 462 Köln endgültig unter fränkische Herrschaft kam, und kam schon in der nachfolgenden Zeit römischchristlicher und fränkisch-heidnischer Koexistenz völlig außer Gebrauch, noch bevor die Gegend ab den 20er- und 30er-Jahren des 6. Jh.s durch den heiligen Gallus systematisch missioniert wurde.

Nicht überall wurden aber heidnische Heiligtümer – wozu die Matronentempel natürlich gehören – wie die in Köln durch diesen Heiligen zerstört. Anderswo begann man offenbar, die alten Kultstätten gemäß einem Brief des Papstes Gregor des Großen an Augustinus in Britannien vom Ende des 6. Jh.s nicht zu vernichten, sondern für den christlichen Glauben umzuwidmen. Daher kommt es wohl, dass der Chor des Bonner Münsters fast genau an der Stelle eines Matronentempels steht, der wohl in ihm aufgegangen ist. Auch damit war für die Amtskirche ebenso wie für die Gläubigen der Übergang zur Christianisierung dieser Vielzahl von kleinen, aber im täglichen Leben wichtigen Göttinnen erleichtert, deren Funktionen dann im Mittelalter von den christlichen Heiligen beiderlei Geschlechts übernommen werden konnten.

2. Odin sei bei uns! Junge Heiden und ihre alten Götter


Recht verschieden von dieser stillen Manifestation des Glaubens an Fruchtbarkeitsgöttinnen am Niederrhein sind ganz andere Äußerungen eines scheinbaren Glaubens an heidnische germanische Götter. Denn wenn sich junge Menschen in Deutschland, Dänemark, Schweden oder anderswo einen kleineren silbernen Thorshammer um den Hals hängen, könnte dies auf den ersten Blick auch als nostalgische Erinnerung an den ehemaligen, germanischen Glauben verstanden werden, dessen fortdauernde Wirkung man sich entweder wünscht oder an ihn glaubt. Natürlich soll hier nicht jedem oder jeder, der oder die einen Thorshammer aus den Museumsläden der großen skandinavischen Museen als Schmuckstück um den Hals trägt, unterschoben werden, er oder sie würden sich damit automatisch zu einer Religion des Gottes Thor bekennen. Als dessen Symbol gilt allerdings der Thorshammer Mjöllnir seit den letzten Jahrhunderten des germanischen Heidentums – also spätestens seit dem 9. Jh. – immer noch, aber damit auch als Symbol einer Religion, welche seit 1000 oder 1200 Jahren tot und vom Christentum überholt ist. Viele benützen demnach den ursprünglich als heidnisches Zeichen des Gottes Thor dem christlichen Kreuz entgegengesetzten Thorshammer als Ausweis ihrer Zugehörigkeit zu Kreisen, die sich bewusst vom Christentum ab-...

Erscheint lt. Verlag 1.11.2014
Verlagsort Darmstadt
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Vor- und Frühgeschichte / Antike
Geschichte Allgemeine Geschichte Vor- und Frühgeschichte
Schlagworte Germane • Germanen • Mythologie • Religion • Religion, Heidnische • Religionsgeschichte
ISBN-10 3-8062-2955-4 / 3806229554
ISBN-13 978-3-8062-2955-4 / 9783806229554
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