Politische Philosophie der Besonderheit

Normative Perspektiven in pluralistischen Gesellschaften
Buch | Softcover
177 Seiten
2014
Campus (Verlag)
978-3-593-50064-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Politische Philosophie der Besonderheit - Oliver Flügel-Martinsen, Franziska Martinsen
34,00 inkl. MwSt
Kollektive und individuelle Selbstbestimmung lassen sich in pluralistischen Gesellschaften kaum verwirklichen, ohne die Besonderheiten sozialer Gruppen zu berücksichtigen. Die Autoren fragen, wie die politische Philosophie diese Herausforderungen normativ reflektieren kann. Es wird deutlich, dass die größte Aufgabe heute darin besteht, Besonderheits- und Gleichheitsforderungen miteinander zu vermitteln.
Kollektive und individuelle Selbstbestimmung lassen sich in pluralistischen Gesellschaften kaum verwirklichen, ohne die Besonderheiten sozialer Gruppen zu berücksichtigen. Die Autoren fragen, wie die politische Philosophie diese Herausforderungen normativ reflektieren kann. Es wird deutlich, dass die größte Aufgabe heute darin besteht, Besonderheits- und Gleichheitsforderungen miteinander zu vermitteln.

Franziska Martinsen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hannover.

Inhalt
Dank7
Einleitung9
1.Ideengeschichtliche Streiflichter13
1.1Hierarchische Besonderheit13
1.2Romantische Besonderheit27
2.Besonderheit in der politischen Philosophie der Gegenwart42
2.1Liberalismus: Individuelle Freiheit und Besonderheit42
2.2Gleichheit versus Differenz: Feministische Identitätspolitiken als Problem53
2.3Anerkennung und Gemeinschaft66
2.4Deliberation, kommunikative Vernunft und Besonderheit91
2.5Republikanismus der Besonderheit?103
2.6Dissens, Differenz und Besonderheit119
3.Auf dem Weg zu einer politischen Philosophie der Besonderheit?141
3.1Synopsis143
3.2Deutungskontroversen150
3.3Aufgaben einer politischen Philosophie der Besonderheit: Kritik und Widerstand158
Literatur165

Einleitung Als eine der wichtigsten Errungenschaften der Moderne gilt die Maßgabe der Gleichheit. Erst unter der Prämisse der Gleichheit vermag die Idee der Freiheit ihre emanzipatorische Kraft zu entfalten, dann nämlich, wenn Freiheit nicht mehr das Privileg Weniger ist, die sich auf Stand, Herkunft oder Macht berufen zu können meinen, sondern für alle Menschen, und zwar gleichermaßen, Wirklichkeit wird. Ohne den Grundsatz der Gleich-heit wären zentrale politische und gesellschaftliche Institutionen des heuti-gen demokratischen Rechtsstaates nicht legitimierbar. Schlagworte wie "Gleichheit vor dem Gesetz" oder "Gleichheit der Geschlechter" verweisen auf die Ergebnisse entscheidender historischer Kämpfe von vormals ausgeschlossenen Gruppen um gesellschaftliche Anerkennung sowie vor allem um politische Teilhabe. Gleichheit bildet den normativen Maßstab des modernen Rechts, der modernen Moral und der politischen Grundstruktur moderner Demokratien. Eine bedeutsame, aber durchaus ambivalente Rolle spielt Gleichheit vor allem bei Gerechtigkeitsfragen. Hier steht sie für die Orientierung am Allgemeinen unter Absehung vom Besonderen. Und genau diese Blindheit gegenüber Besonderheiten ist der Preis der Gleichheit, der zuweilen in der Politischen Philosophie vergessen wird. Was beispielsweise als Abstraktion von konkreten Gegebenheiten - um der Gleichheit willen - ausgegeben wird, kann sich bei genauerem Hinsehen oftmals gar als Verharmlosung einer mitunter gewaltsamen Verleugnung von Besonderheiten entpuppen. Spätestens dann, wenn sich der revolutionäre Impetus, mit dem die Gleichheitsidee tradierte Bevorzugungen, Hierarchien und Hegemonien entlarvt, in ihr Gegenteil verkehrt, indem sie politische Strukturen stärkt, die keinen Raum für individuelle oder kollektive Partikularität gewährt, ist es Zeit, den normativen Gehalt des Gleichheitsbegriffs zu befragen. Uns geht es in der vorliegenden Studie allerdings nicht darum, Gleich-heit und Besonderheit gegeneinander auszuspielen. Vielmehr möchten wir sie im Rahmen einer Politischen Philosophie der Besonderheit ins richtige Ver-hältnis zueinander setzen. Dabei besteht eine unserer Aufgaben darin, die Konturen des Begriffs der Besonderheit auszuleuchten. "Das Besondere" steht in begrifflicher Hinsicht in einem Doppelverhältnis, nämlich zum einen zur Gleichheit, zum anderen zum "Allgemeinen". Logisch müssen diese beiden Dimensionen voneinander getrennt werden. Wie wir im Durchgang unserer Untersuchung sehen werden, fallen sie jedoch in Bezug auf politische Forderungen, etwa nach der Anerkennung von Besonderheiten, zumeist in eins. Viele der gegenwärtigen politiktheoretischen Ansätze behandeln die Besonderheitsthematik unter der übergeordneten Frage, inwieweit universalistische normative Vorgaben Besonderheiten zu berücksichtigen in der Lage sind. Bei der Erörterung dieser Frage liegt dann der Schwerpunkt zuweilen auf der Klärung des Problems, inwieweit Rücksichtnahmen auf Besonderheiten Gleichheitsstandards zu verletzen drohen, zuweilen geht es, auf einer metatheoretischen Ebene, um die Auslegung des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem hinsichtlich des Status der einer Politischen Theorie zugrunde gelegten Normativitätskonzeption selbst. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich beim Begriff der Besonderheit um ein sowohl in der Geschichte als auch der Gegenwart des politischen Denkens wichtiges, gleichwohl nach wie vor ungeklärtes Konzept handelt. Dieser Anfangsverdacht gab nicht zuletzt den Anlass zu unserer Studie. Vor dem Hintergrund der politischen Ideengeschichte unterziehen wir den Begriff der Besonderheit selbst einer kritischen Untersuchung. Seit den Anfängen der Politischen Ideengeschichte ist der Begriff der Besonderheit immerhin Bestandteil von Rechtfertigungen hierarchischer politischer Ordnungen. Dieser Bedeutungslinie wollen wir explizit nicht folgen. Wenn wir im ersten Teil unserer Arbeit einen Blick in die Geschichte der politischen Ideen, nämlich auf Platon und Aristoteles, werfen, so geschieht dies um der systematischen Erörterung der Probleme eines hierarchisch angelegten Besonderheitsbegriffs willen. An den beiden antiken Autoren zeigt sich zum einen, dass eine Politik der Besonderheit völlig verschiedene Zielsetzungen postulieren kann. Während Platons Modell einer PhilosophInnenherrschaft als revolutionäre Neuordnung einer störungsanfälligen politischen Gemeinschaft gedacht ist, erweist sich Aristoteles' Version als ein Modell der Konservierung gegebener politischer Strukturen. Zum anderen wird anhand der beiden antiken Beispiele bereits etwas deutlich, dass auch für gegenwärtige Diskussionen der Besonderheitsthematik relevant ist. Die Bedeutung von Besonderheit wird immer dann hervorgehoben, wenn Gleichheitsbestrebungen dazu tendieren, sie zu missachten oder gar zu unterdrücken. Gleichwohl besteht in der Kontrabewegung gegen eine allzu gleichmachende Politik stets die Gefahr, die jeweiligen Besonderheitsforderungen zu verabsolutieren. Das Augenmerk unserer Untersuchung liegt in der Abkehr von einem hierarchischen Verständnis von Besonderheit auf folgenden Forschungs-fragen, denen wir uns vor allem im zweiten Teil unserer Studie widmen: Erstens untersuchen wir, welche Formen der Besonderheit sich aus ideengeschichtlichen und aktuellen Ansätzen herausarbeiten lassen, die ausdrücklich nicht einer hierarchischen, diskriminierenden oder repressiven Konzeption des Politischen Vorschub leisten, sondern vielmehr - unter Betonung des normativen Gehalts von Partikularität - der Tendenz von Gleichheitspolitiken zur Missachtung und Einebnung von Differenzen entgegenwirken. Wir begeben uns also auf die Spuren einer Besonderheit, die nicht auf Exzellenz, sondern auf das je Individuelle und seine (gleichen) Rechte ausgerichtet ist. Zweitens versuchen wir nachzuvollziehen, welche Gründe zu einer modernen Neuinterpretation des Besonderheitsbegriffs führen, der zufolge Besonderheit nicht länger als etwas anzusehen ist, was gesellschaftlichen Gruppen gleichsam naturwüchsig zukommt oder was ihre besondere Stellung rechtfertigte, sondern als die "Andersheit", die - im Modus des Politischen - aktiv und kreativ angeeignet werden kann. Drittens beschäftigt uns, wie heutige politiktheoretische Ansätze, in Abgrenzung zu hierarchischen Konzeptionen der Besonderheit, Varianten eines Besonderheitsbegriffes zur Verfügung stellen, die im Rahmen von pluralistisch verfassten politischen Gemeinschaften eine horizontale, wechselseitige Beziehung von Gleichheits- und Besonderheitsforderungen ermöglichen. Wir möchten mit unserer Studie zeigen, dass die Hauptaufgabe einer Politischen Philosophie der Besonderheit darin besteht, die widerstreiten-den Implikationen von Gleichheits- und Besonderheitsforderungen in eine Beziehung wechselseitiger Befragung zu bringen. Damit, so unsere Über-zeugung, lässt sich der widersprüchlich anmutenden Aufgabe, die Gleich-heitsidee nachhaltiger zu verwirklichen, als es mithilfe von Gleichheits-politiken gelingen könnte, näher kommen. Auch wenn wir unser in-tellektuelles Geschäft vornehmlich darin sehen, die verschiedenen Gleich-heits- wie Besonderheitsthematisierungen zeitgenössischer Ansätze politi-scher Philosophie zu befragen, besteht unser Anliegen nicht zuletzt darin, Perspektiven für ein Projekt aufzuzeigen, das unter dem Titel Politische Philosophie der Besonderheit eine klarere Form erhält, in der hierarchische, diskriminierende und exkludierende Strukturen ausgeschlossen sind. Eine in normativer Hinsicht horizontale politische Philosophie der Besonderheit sieht sich mit der Herausforderung konfrontiert, Gleichheit explizit nicht zu negieren, sondern sie mit den Forderungen der Berücksichtigung von Besonderheiten zu vermitteln. Dabei steht sie sicherlich vor der schwierigen Aufgabe, institutionelle und außerinstitutionelle Verständnisse des Politischen miteinander in Beziehung zu setzen. Es steht zur Frage, ob eine politische Philosophie der Besonderheit sich auf die Perspektive einer kritischen Befragung von institutionellen politischen Strukturen beschränken muss, weil im Versuch, darüber hinaus auch die konstruktive Gestaltung von Institutionen in den Blick zu nehmen, die Gefahr begründet liegen könnte, bestimmten Tendenzen zur Hierarchisierung und Einebnung von Differenzen die Hintertür zu öffnen. Wo eine politische Philosophie der Besonderheit demnach auf institutionelle Gewährleistungen verzichten muss, riskiert jedoch eine gestaltende Politik der Besonderheit, die institutionellen Garantien für die einen zur Bedrohung der Besonderheit der anderen werden zu lassen. In institutionentheoretischer Hinsicht ist nach unser Auffassung deshalb eine Integration wichtiger Gesichtspunkte der Befragung nötig, indem beispielsweise an zentraler Stelle das Kriterium einer reflexiven Öffnung, mit anderen Worten: eine kritische Selbstbefragungsstruktur in der Theorie politischer Institutionen Berück-sichtigung findet. Aus der Perspektive einer auf Vermittlung mit Gleichheitsforderungen bedachten Politik der Besonderheit folgt deshalb, wie sich im Laufe unserer Untersuchung zeigen wird, die Verpflichtung zu einer kritisch-befragenden Selbstreflexivität. Die Aufgabe der politischen Philosophie ist es nicht so sehr, eine Konzeption zu begründen, aus der sich Normen und institutionelle Strukturen ableiten lassen, sondern eher, Instrumente der Befragung von Normen und Institutionen bereit zu stellen.

Erscheint lt. Verlag 15.5.2014
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 142 x 213 mm
Gewicht 240 g
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
Schlagworte Anerkennung • Differenz • Gerechtigkeit • Gleichberechtigung • Gleichheit • Integration • Kritik • Multikulturalismus • Pluralismus • Programm • Selbstbestimmung
ISBN-10 3-593-50064-7 / 3593500647
ISBN-13 978-3-593-50064-5 / 9783593500645
Zustand Neuware
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