Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur - Claudio Magris

Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur

(Autor)

Buch | Hardcover
416 Seiten
2000
Zsolnay, Paul (Verlag)
978-3-552-04961-1 (ISBN)
23,50 inkl. MwSt
zur Neuauflage
  • Titel erscheint in neuer Auflage
  • Artikel merken
Zu diesem Artikel existiert eine Nachauflage
Claudio Magris' Buch über den habsburgischen Mythos ist in den vierzig Jahren seit seiner Entstehung selbst zum Mythos geworden, zum "Lebensroman seines Autors", ja zur "Karte seiner geistigen und kulturellen Geographie", wie Magris nun im Vorwort zur Neuauflage schreibt. In sechs Kapiteln - von der Zeit Maria Theresias über Nestroy und Grillparzer zu Hoffmannsthal, Kraus und Musil - zeichnete der damals 20-jährige Triestiner die Geschichte der habsburgischen Kultur nach und versuchte, in der Vielfalt eine "große Linie zu finden". Magris' viel diskutiertes Buch legte damit den Grundstein zu der Wiederentdeckung des k.u.k. Österreich, seiner kulturellen Kontinuitäten und politischen Brüche. Neue, durchgesehene Ausgabe.

Das österreichisch-ungarische Reich ging 1918 unter. Doch für seine Intellektuellen und Dichter, die mit ihm plötzlich auch ihre Gesellschaft und damit das Fundament ihres Lebens und ihrer Kultur zerstört sahen, für die österreichischen Schriftsteller, die nun mit einem neuen politischen Klima konfrontiert waren, dessen Anforderungen sie ihrer Herkunft nach nicht gewachsen sein konnten, für sie stellte sich - und stellt sich mitunter noch heute - das alte habsburgische Österreich als eine glückliche und harmonische Zeit, als geordnetes und märchenhaftes Mitteleuropa dar, in dem die Zeit nicht so schnell zu vergehen schien und man es anscheinend nicht so eilig hatte, Dinge und Empfindungen des Gestern zu vergessen. In ihrer Erinnerung wurde dieses Österreich zu einem "goldenen Zeitalter der Sicherheit. Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit... Jeder wußte, wieviel er besaß oder wieviel ihm zukam, was erlaubt und was verboten war. Alles hatte seine Norm, sein bestimmtes Maß und Gewicht"1. Im verwandelnden Spiegel der Erinnerung war Österreich-Ungarn "ein alter Staat, von einem greisen Kaiser beherrscht, von alten Ministern regiert, ein Staat, der ohne Ambition einzig hoffte, sich durch Abwehr aller radikalen Veränderungen im europäischen Raume unversehrt zu erhalten"2. An dieses Zeitalter denkt man freilich nicht als ein "Jahrhundert der Leidenschaft"3: Die Männer "gingen langsam, sie sprachen gemessen und strichen im Gespräch sich die wohlgepflegten, oft schon angegrauten Bärte"4. Die Trauer um eine feste und sichere, in alten und beständigen Werten verankerte Welt verband sich in der Erinnerung oft mit dem Heimweh nach der Kindheit, nach den Düften und Farben, die jene Atmosphäre unauslöschlich dem Gedächtnis eingeprägt hatten: "noch heute kann ich jenen muffigen, modrigen Geruch nicht vergessen, der diesem Haus wie allen österreichischen Amtsbüros anhaftete, und den man bei uns den ›ärarischen‹ Geruch nannte"5. In der moralischen Verwirrung des neuen Europa dachte man mit naiver Hingabe oder ironischer Zärtlichkeit daran, daß man damals, in den k.k. Zeiten, noch an bürgerlichen Anstand und Achtbarkeit glaubte: "Heutzutage sind die Begriffe von Standesehre und Familienehre und persönlicher Ehre... Überreste unglaubwürdiger und kindischer Legenden, wie es uns manchmal scheint. Damals aber hätte einen österreichischen Bezirkshauptmann von der Art Herrn von Trottas die Kunde vom plötzlichen Tod seines einzigen Kindes weniger erschüttert als die von einer auch nur scheinbaren Unehrenhaftigkeit dieses einzigen Kindes."6 So erinnern sich Joseph Roth und Stefan Zweig ihrer Welt von gestern, die Stürme hinweggefegt hatten, die größer waren als sie; einer Welt, deren ohnmächtige Langsamkeit und scheinheilige Mittelmäßigkeit Zweig selbst zugab, die aber in der Erinnerung zum idealen Vaterland wurde, das, regungslos und gealtert, doch Tugenden bewahrt hatte, die inzwischen unglaublich erschienen: würdevoller Anstand und Korrektheit, pedantischer Respekt und gemütliche Ruhe, flüchtige und wehmütige Lebensfreude. Dieser Prozeß einer phantastischen und poetischen Verwandlung der untergegangenen Donaumonarchie kennzeichnet einen Großteil der nach der Apokalypse des Jahres 1918 entstandenen Literatur. Von Zweig bis Werfel, von Roth bis Csokor, von Musil bis Doderer beschwören viele Schriftsteller, ausdrücklich oder indirekt, die Atmosphäre und die Merkmale des kulturellen Lebensstils der Donaumonarchie. Dabei handelt es sich um keine äußerliche thematische Verwandtschaft auf der Grundlage äußerer Kriterien, wie gemeinsamer Motive und Inhalte ihrer Werke, sondern vielmehr um einen ganz bestimmten kulturellen Humus, der in ausdrucksvolle Formen und einen spezifischen Ton der dichterischen Inspiration übertragen wird. Menschheitsbild und Denken dieser Schriftsteller, ihre mannigfaltige Reaktion auf die konkreten Lebensprobleme und die Nuancierung ihrer Empfindungswelt werden von der Last einer Tradition bedingt, von der sie kaum loskommen; vor allem aber von der prekären, instabilen und unbefriedigenden geschichtlichen Wirklichkeit und von einer daraus folgenden Flucht und der unmöglich gewordenen Rückkehr zur Realität und zur Gefühlswelt einer von der Geschichte zerstörten Welt. Diese Schriftsteller, die im Kaiserreich Österreich, Königreich Ungarn und Böhmen und so weiter - so lauten Franz Josephs Titel - aufwuchsen, wenden sich in den Jahren ihrer Reifezeit dem Gestern zu, das sie als Ausgangspunkt für ihre menschliche und künstlerische Persönlichkeit empfinden. Heimweh oder Ironie, vollendete Beschreibung oder flüchtige Skizzierung des geistigen Hintergrundes kennzeichnen die Erinnerung an "Kakanien"7, wie es bei Musil heißt; und trotz aller Unterschiede des Temperaments oder der vielleicht gegensätzlichen Blickwinkel, aus denen diese Welt betrachtet und wiedererlebt wird, präsentiert sie eine charakteristische Physiognomie, die man schwer völlig erfassen kann, da es sich mehr um eine musikalische Stimmung handelt als um eine organische Darstellung. Dies wird offensichtlich, wenn man den stark persönlichen, lyrischen, mythologischen Ton dieser Schriftsteller, von Werfel bis Roth, berücksichtigt, in dem sie sich mit der untergegangenen österreichisch-ungarischen Gesellschaft auseinandersetzen. Ihre dichterische Erfahrung geht von dieser quälenden Bindung an die Vergangenheit und von diesem Mythos aus, der ihrer Erinnerung und ihrer Phantasie oder besser, ihrer Kultur innewohnt. Der Ausdruck Mythos, an sich schon ein Hinweis auf die Veränderung und Entstellung der Wirklichkeit, die auf den Wunsch zurückzuführen sind, aus dieser Wirklichkeit eine angeblich wesentliche Wahrheit, einen hypothetischen, metahistorischen, deren eigentlichste Bedeutung beinhaltenden Kern herauszuschälen, gewinnt in diesem Falle ganz besondere Bedeutung. Der habsburgische Mythos ist also nicht ein einfacher Prozeß der Verwandlung des Realen, wie er jede dichterische Tätigkeit charakterisiert, sondern er bedeutet, daß eine historisch-gesellschaftliche Wirklichkeit vollständig durch eine fiktive, illusorische Realität ersetzt wird, daß eine konkrete Gesellschaft zu einer malerischen, sicheren und geordneten Märchenwelt verklärt wird. Es versteht sich, daß diese Mythisierung keine abstrakte Phantasie ist, daß sie also zuweilen durchaus einige reale Aspekte der habsburgischen Kultur zu erfassen vermag, und zwar mit ganz besonderem Scharfsinn. Und es versteht sich ebenfalls von selbst, daß sich nicht alle Schriftsteller auf eine oberflächliche "Laudatio" der guten alten Zeit beschränken: im Gegenteil entfernt die Ironie eines Musil erbarmungslos die erhabene und achtbare Patina, die wie eine barmherzige Staubschicht das Ende der Ära Franz Josephs bedeckt. Aber auch die schärfste Analyse Musils und Doderers nüchterner Humor bleiben in gewissem Sinne innerhalb einer bestimmten Art und Weise, die Dinge zu sehen. Auch als boshafte Kritiker bleiben sie Gefangene dieser märchenhaften und sehnsüchtigen Verklärung der Welt der Donaumonarchie, dieser suggestiven Entfremdung, die mehr als ein Jahrhundert lang ein wirkungsvolles Machtinstrument und die wichtigste geistige Stütze des Habsburgerreiches war.

Übersetzer Madeleine von Pásztory
Sprache deutsch
Maße 135 x 218 mm
Gewicht 627 g
Einbandart kartoniert
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Schlagworte Habsburg / Habsburger (Motiv in d. Literatur) • Österreich, Literatur • Österreich-Ungarn; Geistes-/Kultur-G.
ISBN-10 3-552-04961-4 / 3552049614
ISBN-13 978-3-552-04961-1 / 9783552049611
Zustand Neuware
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Mehr entdecken
aus dem Bereich
der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland

von Ewald Frie

Buch | Hardcover (2023)
C.H.Beck (Verlag)
23,00