Das Merkbuch (eBook)

Eine Vatergeschichte
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2012 | 1. Auflage
276 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76420-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Merkbuch -  Michael Rutschky
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Der Vater, Jahrgang 1893, kleiner Angestellter bei einer großen Wirtschaftsprüfungsfirma, dokumentiert zwischen 1951 und 1973 sein Arbeitsleben in einer Serie von Notizkalendern. Zunächst bleibt rätselhaft, wozu er sie braucht: Um seinen Vorgesetzten jederzeit Auskunft über seine Arbeitsorte und -zeiten geben zu können? Um seine Einnahmen und Ausgaben unter Kontrolle zu halten? Oder gar, um sich des Aufschwungs zu vergewissern, den die junge Bundesrepublik unverkennbar nimmt? Und dann wirken sich die Merkbücher des Vaters auch noch als Vorbilder in seiner Familie aus. Mutter und Sohn beginnen ebenfalls, in Notizkalendern ihren Alltag aufzuschreiben, sogar ausführlicher als der Vater. Das Büchlein funktioniert als eine Art Tagebuch vor dem Tagebuch, als Literatur vor der Literatur. Michael Rutschky rekonstruiert anhand der Notizen einer Familie deren Leben in der frühen Bundesrepublik. Doch er liefert mehr: Die Notizen über Zugabfahrtszeiten, Wocheneinkäufe und Klassenarbeiten ergeben nach und nach nicht nur die Geschichte einer Familie, sondern, im Zusammenhang betrachtet, eine eindrucksvolle und anrührende Frühgeschichte der Bundesrepublik.

<p>Michael Rutschky wurde 1943 in Berlin geboren. Er war Redakteur der Zeitschriften Merkur und Transatlantik sowie Herausgeber der Zeitschrift Der Alltag. 1997 erhielt er für sein essayistisches Werk den Heinrich-Mann-Preis der Berliner Akademie der Künste. Zu seinen bekanntesten Werken gehören <em>Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre</em> (1980) und <em>Wie wir Amerikaner wurden. Eine deutsche Entwicklungsgeschichte</em> (2004). Zuletzt war Rutschky freier Autor und arbeitete für Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen. Rutschky starb am 18. März 2018 in Berlin.</p> <p></p>

Cover 1
Impressum 4
Das Merkbuch 5
Anmerkungen 273

Auch 1956 verwendet Vater als Notizkalender das Werbegeschenk der Vereinigten Glanzstoff-Fabriken, den Freunden unseres Hauses, mit dem strahlenden Logo auf der Außenseite.

Im Innern kam es zu Vereinfachungen. Keine Federzeichnung der Hauptverwaltung in Wuppertal-Elberfeld, kein Foto von den Spulen mit den wohlgestalt aufgewickelten Zwirnen und den Wölkchen Zellwolle im Urzustand. Dafür zwei Seiten mit den Namen der beteiligten Firmen und deren Logos, Glanzstoff (die Zentrale), Bemberg (frisch dazu), KUAG (Kunstseiden-Aktiengesellschaft), Flox (Spinnfaser). Bemberg in Wuppertal-Barmen ist es, das die Produktliste erweitert: Cupra Bemberg und Zellglas Cupraphan; das Werk Augsburg webt modische Kleider-, Blusen- und Wäschestoffe.

 

Die Expansion der Plastikwelt, wie die Kulturkritiker der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren sie beklagen. Mutter beteiligte sich nach Kräften an dieser Expansion, indem sie die einschlägigen Textilien eifrig erwarb.

 

Bemberg. 1792 gründete der Kaufmann Johann Peter B. in Elberfeld eine Garnfärberei. Seit 1865 expandierte das Familienunternehmen glorios und errichtete Filialen unter anderem in Krefeld und Augsburg; seit 1900 konzentrierte sich die Produktion auf Kunstseide, und internationale Niederlassungen entstanden in Italien, Frankreich, Japan, Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Im Dritten Reich erzeugten 4400 Werktätige bis zu 40 Tonnen Fallschirmseide am Tag – das verfluchte deutsche Kapital, der Höllengestank –, und im März 1945 zerstörten alliierte Bomber einen großen Teil der Produktionsanlagen, und Bemberg verlor seine internationalen Filialen. 1946 der Neubeginn mit ungefähr 300 Werktätigen. Ein typisches Unterkapitel aus der Geschichte der Bundesrepublik.

 

Zu den Büchern der Spinnfaser kehrt Vater erst am 11. Januar zurück, das erste Arbeitskapitel des neuen Jahres ist KVG überschrieben, Kasseler Verkehrsgesellschaft.

Wieder kein Ausläufer des dämonischen Kapitals, sondern eines dieser sozialdemokratischen Kommunalorgane ohne Profitinteresse.

 

Aber was das Jahr 1956 von den anderen substanziell unterscheidet, das sind die Merkbücher – so heißen sie ausdrücklich im Innern –, die in diesem Jahr auch Mutter und Sohn nach dem Vorbild von Vater führen.

Das Vorbild erkennt man sogleich daran, dass beide Merkbücher – schwarzes Kunstleder, Goldschnitt, weiße Lesebändchen – wiederum Werbegeschenke sind: Der Sohn führt ein Merkbuch der Firma Stromeyer, Kohlenstromeyer, wie sie sich mit Prägedruck auf der Vorderseite präsentiert; bei Mutter heißt sie – Prägedruck in Gold – Brennstoffhandel, und auf der Titelseite deklariert sich als Geber der Schwarzwälder Brennstoffhandel aus Villingen (Schwarzwald), der Düngemittel, Futtermittel, Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel, Torfstreu und Torfmull, Speise- und Viehsalz, Heizöl, Treibstoffe, Öle, Fette für Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft, Treibgas offeriert.

Vater stattet Mutter und Sohn mit den Kalendern aus, hat ihretwegen zwei weitere Exemplare des Werbegeschenks besorgt.

 

Man verspürt den poetischen Impuls, das Angebot des Schwarzwälder Brennstoffhandels mit Vaters Produktliste zu vermählen, mit Textilreyon, Kordreyon, Perlon – ah, der Kräuselzwirn im Gehirn! – mit Bicotin und Flox. So war sie, die Bundesrepublik jener Jahre, möchte man folgern, Torfstreu und Perlon, Treibgas und Zellwolle, Düngemittel und Kunstseide.

 

Vater schreiben, Freitag Tante, schreibt Mutter am 1. Januar in ihr Merkbuch (als Vater KVG, Kassel schrieb). Mutter will das Merkbuch anscheinend als Agenda verwenden, zur Alltagsplanung, wie Vater es vergangenes Jahr prägnant mit dem Fälligkeitsdatum der Hupfeldt-Rate und mit Dr. Heckmann bis Donnerstag bei Hommelwerke versuchte – tatsächlich bricht Mutters Planung aber gleich wieder zusammen, und die Datums- ebenso wie die Notizenfelder bleiben bis zum 5. Januar leer.

 

Tatsächlich ähneln das Merkbuch des Schwarzwälder Brennstoffhandels und das Stromeyer-Merkbuch, das der Sohn benutzt, Vaters Glanzstoff-Merkbuch in Layout und Typographie: Ein feiner Eindruck vorn verrät, dass in beiden Fällen Wilhelm Eilers jr. respektive den Eilers-Werken in Bielefeld die Gesamtherstellung oblag.

Bei W. Eilers jr. respektive den Eilers-Werken in Bielefeld orderten die verschiedenen Firmen diese Notizkalender als Werbegeschenke.

Der Sohn beginnt sein Merkbuch im Weltall, doll gefeiert. Die Merkurianer haben angegriffen, nichts erreicht. In einem Versuch zur Druckschrift.

In einer fiktiven Schrift, und das Merkbuch soll im Dienste einer Erfindung ausgefüllt werden, des interstellaren Reichs, das dem Sohn (Messerschmidt-Kabinenroller als Shuttle zwischen den Raumschiffen und die Stadt unter der Plexiglasglocke) untersteht. Der Sohn versucht das Merkbuch als Roman zu beginnen.

Das kommt daher, dass der Kalender ja wirklich so etwas wie ein Buch imaginiert. Man muss bloß Tag für Tag was reinschreiben. Dann erzeugt der Lauf der Zeit von selbst so etwas wie eine Geschichte. Bei dem Sohn sollte es gleich eine erfundene Geschichte sein, aus dem All.

Nichts liegt Vater ferner.

Erfindungen kennt der Revisor, der die Bücher von Unternehmungen im Hinblick auf ihre Korrektheit prüft, ausschließlich als Lügen und Fälschungen, die er aufzudecken hat.

 

Am nächsten Tag kehrt der Sohn stracks aus dem All zurück. Und verzeichnet in seiner krakeligen, ungeübten Kurrentschrift –  dies Jahr wird er 13: Mutter nach Kassel gefahren. Ins Krankenhaus.

Die Gründe fehlen in Mutters Merkbuch; in dem von Vater sowieso. Dem Sohn wurden sie gewiss verschwiegen, Frauenleiden, wie man damals sagte. Mutter wird in diesem Jahr 48.

Der Sohn nutzt den Automatismus des Kalenders für seine Aufzeichnungen: einfach Tag für Tag was aufschreiben.

 

Ich wohne bei Tante. Fernsehen.

Mit den Hunden spazieren gegangen.

Brief an Mutter geschrieben. Geschlachtet. Fernsehen.

Tante ist krank. Fernsehen. Alles klebt nach dem Schlachten.

Goebels zu Besuch gekommen. Hesses abgefahren. Im Kino gewesen und Fernsehen.

Schule angefangen, war ganz schön.

Mutter wiedergekommen. Aber viel früher als vorher angenommen.

Papa gekommen. Briefmarken bekommen. Herrlich.

Leider wieder in die Schule.

Das erste Mal wieder mitgeturnt.

Gottseidank keine Mathematik.

Arbeit geschrieben. War nicht schlimm.

Wollte ins Kino gehen. Leider nicht jugendfrei. Die Faust im Nacken.

Arbeit zurückbekommen. Eine andere geschrieben.

Nicht in der Turnhalle geturnt. Zu kalt.

Bei Hadie auf dem Geburtstag gewesen.

Mit Reinhard Ski gefahren.

Furchtbar kalt. Skier an Kunkel verkauft, 5 Mark. Abends lange auf gewesen.

Heute schulfrei. In der Stadt gewesen. Abends Hörspiel gehört, Camino Real.

Heute fahre ich nach Kassel.

Lange geschlafen. Der Geburtstag von Reinhard war herrlich. Bleibe noch länger.

 

Neben diesen Aufzeichnungen in krakeliger Kurrentschrift, die sukzessive die Datumsfelder füllen, finden sich Einzelworte in Druckbuchstaben, Ferien, Schule, Flötenstunde – in derselben Schrift, in der die Merkurianer angreifen.

Formal gesehen versucht der Sohn hier strikt dem Vorbild Vaters zu folgen, wenn der Tag für Tag Steg/Stuttgart oder Urlaub Urlaub Urlaub schreibt.

Aber der Sohn schreibt es prospektiv, für die kommende Zeit. Und die Druckbuchstaben signalisieren, dass dies gewissermaßen eine offizielle Mitteilung ist.

So antizipieren die Regeln der Schule, wie gesagt, die Regeln des Arbeitslebens. Die Agenda, Zeitplanung, Dr. Heckmann bis Donnerstag bei Hommelwerke.

 

In das Notizenfeld unterhalb des 28. Januar schreibt der Sohn in diesen ungelenken Druckbuchstaben: Wir haben jeden Sonnabend frei. Wahrscheinlich bis Ostern.

Danach finden sich keine Eintragungen mehr in diesen offiziösen Druckbuchstaben, Ferien, Schule, Flötenstunde. Der Sohn kehrt uneingeschränkt zu seiner Kinderschrift zurück.

Zwar durfte er nicht an die heiligen Akten in Vaters heiliger Aktentasche, um sich eine Vorstellung von Vaters Arbeit mit den Büchern zu bilden, aber der Vater ließ den Sohn seine Notizkalender anschauen und erklärte ihm die Eintragungen, Steg / Stuttgart, Spinnfaser / Kassel, Stromeyer / Mannheim. Und auf diesen Extrafeldern hier unten, statt mit einem Wochentag und einem Datum überschrieben mit Notizen – kannst du das lesen? –, schreibt man halt auf, was durchgehend für mehrere Tage, für einen ganzen Zeitraum gilt. Und so schreibt der Sohn auf das Notizenfeld unterhalb des 28. Januar: Wir haben jeden Sonnabend frei. Wahrscheinlich bis Ostern.

In der Gestalt von Ferien und schulfreien Tagen lernt der Schüler die Freiheit kennen, die sich dem Angestellten zuweilen in der Gestalt von Urlaub und arbeitsfreien Tagen eröffnet.

 

Am 5. Februar, Samstag, findet sich im Merkbuch von Mutter der dritte Eintrag dieses Jahres. Weder Aufzeichnung geschehener Taten noch Planung künftiger: Mutter hat die Seite, die den Zeitraum vom...

Erscheint lt. Verlag 16.7.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Belletristische Darstellung • Bundesrepublik • Deutschland • Familie • Geschichte 1951-1973 • Tagebuch • Wirtschaftsprüfer
ISBN-10 3-518-76420-9 / 3518764209
ISBN-13 978-3-518-76420-6 / 9783518764206
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